A portrait  photograph of  Stephan Sigrist
Die Fähigkeit für Antizipation und das stärkere Verknüpfen von Gesellschaft und Wirtschaft werden zentrale Wichtigkeit haben.

Dr. Stephan Sigrist

Founder and head of the W.I.R.E. think tank. He has spent many years analyzing interdisciplinary developments in business and society, focusing on the implications of digitalization in the life sciences, financial services, media, infrastructure and mobility. He is the publisher of the ABSTRAKT book series, author of a number of publications and a keynote speaker at international conferences.

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17 May 2021

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Mit dem Überwinden der akuten Phase der COVID-19-Krise beginnt unsere Reise zu einer neuen Normalität. EY hat verschiedene Vordenker und Entscheidungsträger gebeten, Bilanz zu ziehen und ihre Erkenntnisse über die nächsten Schritte auszutauschen. Dr. Stephan Sigrist, Gründer und Leiter des Think Tank W.I.R.E., diskutiert unterschiedliche Realitäten in der neuen Normalität und erklärt, warum die Corona-Krise ein interdisziplinäres Thema ist, das eine Zusammenarbeit in Gesellschaft, Wirtschaft und Gesundheitswesen erfordert.
Diese Publikation nennt sich «New Normal Magazine». Haben wir effektiv eine neue Normalität?

Momentan ist es ganz klar eine neue Normalität – präzedenzlos. Sie ist einerseits geprägt von Angst, gerade auch mit Blick auf langfristige Konsequenzen, andererseits von Pragmatismus – sich den Umständen anzupassen und eine Lösung zu finden – und schliesslich auch von Hoffnung. Bei vielen Menschen zeigt sich auch der Wunsch, dass am Ende der Krise etwas Neues entsteht, mit Blick auf eine möglicherweise nachhaltigere Welt, mit Blick auf die Stärkung der Solidarität in der Gesellschaft. Die neue Normalität wird aber letztlich nicht durch eine Realität definiert; je nach Lebenslage, Konstitution oder Wohnort gibt es unterschiedliche Wahrnehmungen. Eine der zentralen Herausforderungen wird es sein, diese unterschiedlichen Realitäten mit Blick auf eine solidarische Gesellschaft zu verbinden.

Welche Auswirkungen hat die beschriebene Realität auf dein berufliches Schaffen?

Natürlich war zu Beginn eine Unsicherheit da. Es war aber schnell klar, dass die Nachfrage für unsere Themen – wir beschäftigen uns mit langfristigen Fragestellungen und strukturieren Unsicherheit – in Zukunft eher zunehmen würde. Die Grundsatzfragen häufen sich: Wie gehen wir mit diesen Rahmenbedingungen um? Was bedeutet das für die Digitalisierung? Wie kann man das soziale Zusammenleben stärken trotz Social Distancing? Abgesehen von den Veranstaltungen erleben wir beruflich positive Auswirkungen. Die Frage nach den mittel- bis langfristigen ökonomischen Konsequenzen stellt sich aber auch uns. Gehen wir tatsächlich in eine schwere Rezension rein, sind natürlich auch wir mit negativen Folgen konfrontiert. Aber für den Moment ist die Situation eine Chance für uns.

Momentan ist es ganz klar eine neue Normalität – präzedenzlos.
Dr. Stephan Sigrist
Gründer und Leiter des Think Tank W.I.R.E.
Was lernst du persönlich aus der Krise?

Die Krise hat sehr deutlich gezeigt, wie schwach die vermeintliche Informationsgesellschaft im Umgang mit vielen einzelnen Informationen oder Datenpunkten aufgestellt ist – und dass unsere bestehenden Früherkennungssysteme nicht ausreichend funktioniert haben – nicht in der Wirtschaft, nicht in der Politik, nicht als Gesellschaft. Im Kontext von Unsicherheit einzelne Fakten, die teilweise auch Gegensätzliches bedeuten, in ein grösseres Ganzes zusammenzubauen und in eine längere Perspektive zu bringen, ist eine der zentralen Herausforderungen, denen wir uns jetzt stellen müssen.

Was hat dich dabei überrascht?

Dass ich auf vieles im Alltag, was ich in der Vergangenheit als lebensnotwendig angeschaut habe, eigentlich relativ gut verzichten konnte. Es gab eine Differenzierung, was ist wirklich wichtig und was braucht man nicht unbedingt. Das war ein interessanter Lernprozess.

Stichwort Alltag: Wie wird dieser in zwei Monaten aussehen und wie wird sich die Gesellschaft dabei entfalten?

Die Unsicherheit und das Schwanken von unterschiedlichen Perspektiven werden auch die nächsten Monate andauern. Auch werden wir zunehmend die dringend notwendigen Grundsatzdiskussionen führen: Was sind die weiterführenden Folgen für die Gesellschaft und das Gesundheitssystem, wenn die Wirtschaft nicht mehr funktioniert, wie viel Kontrolle ist im Spannungsfeld zwischen individueller Freiheit und Einschränkung möglich, was macht wirklich Lebensqualität aus? Diese Debatten werden jetzt sehr polar geführt. Wirtschaft und Gesundheit werden in ideologisch verzerrten Perspektiven als Gegenpole gegeneinander ausgespielt, obschon sich beide Systeme gegenseitig bedingen.

Was weiss man heute mehr als vor einem halben Jahr?

Es gibt mehr Fakten. Genau darin liegt aber auch eine Problematik: Die effektiven Fakten befinden sich in einer Wolke von Semiwahrheiten und Falschtheorien, sodass es für den Allgemeinbürger sehr schwierig ist, zu beurteilen, was wirklich relevant ist und was nicht. Aus dem heraus entsteht ein ungesunder Mix, der Verunsicherung schürt und eine Sehnsucht nach einfachen Lösungsvorschlägen und Normalität hervorbringt. Darin besteht ein zentraler Eckpunkt für die Zukunft: Wir müssen Wege finden, wie wir im Kontext von Unsicherheit und Teilwahrheiten nach vorne schauen können. Allerdings ist die Schwierigkeit mit der Überflutung von Informationen umzugehen auch nicht neu, dieselbe Herausforderung hatten wir rund um die Fake News Thematik schon lange vor der Corona-Krise, diese hat das Spannungsfeld nun aber drastisch verschärft.

Die effektiven Fakten befinden sich in einer Wolke von Semiwahrheiten und Falschtheorien, sodass es schwierig ist, zu beurteilen, was wirklich relevant ist und was nicht.
Dr. Stephan Sigrist
Gründer und Leiter des Think Tank W.I.R.E.
Relevante Daten könnten helfen um genauer nach vorne zu schauen. Ist die Gesellschaft künftig gewillter, Daten freizugeben?

Wir erleben einen Digitalisierungs- und insbesondere einen Virtualisierungsschub. Viele Organisationen, für die Homeoffice vorher kaum denkbar war, haben ihre Belegschaft schnell und in vielen Fällen sehr erfolgreich in virtuellen Räumen arbeiten lassen. Der Shift umfasst dabei nicht nur dezentrales Arbeiten sondern auch eine Stärkung von plattformbetriebenen Geschäftsmodellen. Damit werden Grundsatzfragen, wie wem gehören die Daten, wie schützen wir diese, wie gehen wir mit durch AI-Algorithmen geschaffener Diskriminierung um, sehr viel drängender. Aufgrund des Coronavirus haben wir die gemeinschaftliche Aufgabe, die eine Art Teil der Solidarität ist, dass wenn die Privatsphäre geschützt wird, wir bereit sind, die Daten zu teilen – unter der Bedingung, dass der Staat und die Unternehmen erklären können, was mit den Daten genau passiert. Die Bereitschaft, individuelle Daten zu Verfügung zu stellen, steigt, Organisationen, die diese nutzen, stehen aber stärker in der Erklärungspflicht. Es braucht klare und verbindliche ethische Richtlinien, die die Verwendung persönlicher Daten transparent offen legen – und Geschäftsmodelle, die es ermöglichen, Datenspendern einen Nutzen zurück zu spielen, der einen echten Gegenwert liefert. Im Fall von Corona Contact Tracing dürfte die Solidarität ausreichend sein, im Marktwirtschaftlichen Umfeld aber nicht.

Wo siehst Du diesbezüglich unsere Gesellschaft in zwei Jahren?

Erstens wird die Bedeutung der Gesundheit im Alltag zunehmen. Wie stark das Gesundheitssystem mit der Wirtschaft und der Gesellschaft vernetzt ist, haben wir jetzt gesehen. Das wird dazu führen, dass die Grundlagen von Social Distancing, das Verhindern von übertragbaren Krankheiten und die Folgeeffekte ganz allgemein den Alltag mehr prägen werden. Zweitens wird es eine Differenzierung zwischen den Menschen und Organisationen geben, zwischen jenen, die mit Unsicherheit umgehen und trotz mangelnder Faktenlage eine langfristige Planung machen können, und jenen, die kurzfristig den neusten Veränderungen hinterherrennen. Die Fähigkeit für Antizipation von langfristigen Themen und das stärkere Verknüpfen von Gesellschaft und Wirtschaft werden zentrale Wichtigkeit haben. Danach wird sich auch der Markt richten.

Wagen wir noch weiter nach vorne zu schauen: Wie werden deine Kinder mit Pandemien umgehen, wenn sie erwachsen sind?

Gehen wir mal davon aus, dass sich die Experten nicht täuschen, wir bis Ende des Jahres oder spätestens im Lauf 2021 eine Impfung haben und sich die wirtschaftlichen und gesundheitlichen Folgen nicht noch weiter verschärfen. Wenn das der Fall sein wird, spricht vieles dafür, dass wir uns verhältnismässig rasch zurück in der alten Normalität wiederfinden. Es gibt vielleicht gewisse Regulatorien punkto Distanz und Hygiene, die das gesellschaftliche Leben begleiten. Aber mit der Zeit werden sie dem folgen, was die menschliche Natur ausmacht. Wenn aber keine Impfung gefunden wird und das Virus Teil unseres Alltags wird – oder in einigen Jahren erneute Pandemien auftreten – dann dürfte sich die künftige Normalität stark von unserem alten Leben unterscheiden. Grosse Veranstaltungen werden nur mit Distanz und Registrierung möglich sein, wir werden bestehende Konzepte von Grossraumbüros oder verdichteten Städten neu denken müssen. So oder so wird die nahe Zukunft von der Suche nach Resilienz geprägt sein. Damit einher gehen auch eine Stärkung von nachhaltigen Lösungen, aber auch höhere Kosten.

Wenn das Virus Teil unseres Alltags wird – oder erneute Pandemien auftreten – dann dürfte sich die künftige Normalität stark von unserem alten Leben unterscheiden.
Dr. Stephan Sigrist
Gründer und Leiter des Think Tank W.I.R.E.
Was gilt es für die Zukunft sicherzustellen?

Wir kommen nicht darum herum, Früherkennungssysteme aufzubauen; und zwar nicht nur im Bereich der Pandemien. Wir leben in einer Welt, in der sich Dinge schnell verändern können. Unsicherheit und eine hohe Dynamik sind fixe Bestandteile der Realität von morgen. Genau genommen war sie das auch schon vor Covid-19, aber wer resiliente Strukturen will, muss die möglichen Risiken frühzeitig identifizieren und mögliche Folgen abschätzen können. Dies erfordert auch ein systemübergreifendes Denken und Handeln: Gesundheit, Wirtschaft und Gesellschaft sind nicht getrennte Teilsysteme, sondern stehen in laufender Wechselwirkung. Dies gilt auch, wenn wir die Folgen neuer Technologien abschätzen wollen. Insofern zwingt uns die Corona-Krise, einen ohnehin dringenden Lernschritt zu übernehmen.

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