11 Minuten Lesezeit 21 Dez. 2021
Businesswoman and businessman talking profit on futuristic display

Vom Vermittler zur Affinity Group bei Krankenversicherern

Autoren
Jörg Schwanemann

Associate Partner, Financial Services Consulting, Ernst & Young AG

Avid reader of political, philosophical and environmental publications. Passionate golfer. Loves ice hockey.

Sabine Betz

Financial Services Insurance Sector Leader | Switzerland

Deep insurance expertise from serving the industry for more than 25 years. Passionate about risk quantification. Team player and female mentor. Dedicated mother of two teenagers. Movie fan.

Yamin Gröninger

Financial Services Markets Lead Switzerland | Insurance Innovation Lead EMEIA

Chinese born with a German passport and a global citizen by heart. Auditor (ACCA), strategy consultant, innovator and originator.

Marc Berger

Financial Services Head Transaction Diligence | Switzerland

Business and solution-oriented transaction advisor

11 Minuten Lesezeit 21 Dez. 2021

Wie Schweizer Krankenversicherer jetzt ihr Vertriebsmodell für die Zukunft umbauen müssen.

Drei Handlungsoptionen lassen sich aus den aktuellen Entwicklungen im Vertrieb von Grund- und Zusatzversicherungen ableiten:
  1. Die Weiterentwicklung des eigenen Vertriebs spielt durch das Schrumpfen des Vermittlerkanals als wichtigstem Push-Kanal eine essenzielle Rolle
  2. Mit der Stärkung des B2B2C-Kanals durch Affinity Groups können die Kunden mit ihren heterogenen Bedürfnissen im Privatbereich abgeholt werden
  3. Mit dem Einsatz von Arbeitgebern als B2B2C-Kanal können Kunden im beruflichen Umfeld adressiert und gleichzeitig die Interessen der Arbeitgeber erfüllt werden

Jährlich wechseln ca. 10–20 % der Schweizer ihren Krankenversicherer infolge des Einsatzes eines Push-Kanals, wobei diese Entscheidung in den meisten Fällen durch Vermittler initiiert wird. Der Verkauf von Zusatzversicherungen (VVG) ist aufgrund der Beratungskomponente schwergewichtig bei den Vermittlern. Zumeist werden diese Produkte in Kombination mit der Grundversicherung (OKP) abgeschlossen. Bisher legten Vermittler ihren Fokus primär auf den Abschluss von Zusatzversicherungen, da die Provisionen bei diesen deutlich höher sind.

Mit der Einführung der Branchenvereinbarung wird die Vermittler-Provisionshöhe beschränkt und strengere Qualitätsstandards werden vorgegeben. Die Möglichkeit der Kaltakquise entfällt und ein bindender Gesprächsleitfaden ist Pflicht.

Dadurch geraten alle Krankenversicherer – und besonders diejenigen mit hohen OKP-Tarifen – unter enormen Druck. Durch die Angleichung der Provisionsverträge spielt die Höhe der Versicherungsprämien, sowohl in der Grund- als auch in der Zusatzversicherung, eine wichtigere Rolle denn je, um als Versicherung im Markt bestehen zu können. Das Kontaktieren von Leads wird nun noch schwieriger, da dazu eine explizite Einwilligung zur Kontaktaufnahme durch den potentiellen Kunden vorliegen muss. Zudem führt die Provisionseinschränkung zu einem Wegfall von Vermittlern, als bislang grössten Push-Kanal,  welcher nun durch andere Kanäle ersetzt werden muss.

Zukünftig wird erwartet, dass die Branchenvereinbarung als allgemeinverbindlich erklärt wird und dann auch interne Vermittler einschliesst. Diese und weitere mögliche Einschränkungen des Vermittlungsbetriebs setzen Versicherer unter starken Handlungsdruck, um den Einbruch im OKP- und VVG-Geschäft zu verhindern.

Die bereits vorher eingesetzte Entwicklung zu einem Business-to-Business-to-Consumer (B2B2C) geprägten Vertriebsmodell setzt sich in der Zukunft fort und durch die Branchenvereinbarung nimmt die Bedeutung von Vermittlern zugunsten anderer Push-Kanäle drastisch ab:

  1. Eigener Aussendienst: Der eigene Aussendienst muss gestärkt werden, um den Wegfall von Vermittlern als Push-Kanal zu kompensieren.
  2. Vermittler: Insbesondere für den Vertrieb im VVG bleibt ein Push-Kanal wichtig. Allerdings schränkt die Branchenvereinbarung das Anreizsystem für Vermittler stark ein und vermindert die Kundenakzeptanz für diesen Kanal merklich.
  3. Aggregatoren: Aggregatoren bleiben eine wichtige Anlaufstelle für viele Kunden. Eine Differenzierung über diesen Kanal abseits des Preises ist jedoch schwer.
  4. Affinity Groups: Das Affinity-Geschäft und seine Ökosysteme werden einen massgeblichen Teil des Vertriebsmodells der Zukunft ausmachen, da sie eine hohe Kundenakzeptanz aufweisen.
  5. Arbeitgeber: Die finanziellen Anreize für Arbeitgeber, Versicherungen zu empfehlen, werden stark eingeschränkt. Es gilt, sich als Gesundheitspartner zu etablieren und ungedeckte Bedürfnisse abzudecken, um diesen Kanal neu zu beleben.

Um kurzfristig auf die akuten Veränderungen reagieren zu können und zugleich mittel- und langfristig eine profitable Antwort auf die zukünftig zu erwartenden Vertriebsentwicklungen zu finden, müssen sich Schweizer Krankenversicherer mit den folgenden Kernfragen auseinandersetzen:

Schweizer Krankenversicherer müssen jetzt mit mindestens einer der drei Handlungsoptionen reagieren, um in allen drei zeitlichen Dimensionen – now, next und beyond – erfolgreich zu operieren.

Handlungsempfehlung I: Weiterentwicklung des eigenen Vertriebs

  • Now (bis Ende 2021)

    Ziele

    • Kompensation des Wegfalls von Vermittlern als Push-Kanal für das Neu-/Up-/Cross-Selling-Geschäft
    • Entwicklung von Massnahmen zur Gewinnung und Schulung qualifizierter Vertriebs-Mitarbeiter:innen
    • Definition der Aufgabenerweiterung für den internen Vertrieb aufgrund der Saisonalität

    Aktivitäten

    • Vertriebsstrategie-Entwicklung; Kernentscheid: (An-)/Organische Entwicklung
    • Entwicklung von Incentivierungs-Modellen für Beratung und Verkauf
    • Definition von Berufs-Profilen und Qualifikationsstandards, Gap-Analyse und Roadmap-Entwicklung
  • Next (2022)

    Ziele

    • Umsetzung der Vertriebsstrategie-Massnahmen (z. B. Einführung neuer Rollen und Profile, Umsetzung des Schulungsprogramms, Anwendung neuer Incentivierungs-Modelle)

    Aktivitäten

    • Bei anorganischer Vertriebs-Entwicklung: Übernahme und Integration von externen Vertriebsmitarbeitern
    • Umsetzung der Roadmap-Aktivitäten zur Gewinnung erforderlicher Profile, Schulung des bestehenden Vertriebs-Personals und Einführung neuer Incentivierungs-Modelle
  • Beyond (2023+)

    Ziele

    • Antizipation von sich verändernden Marktbedürfnissen und Vorgaben des Regulators
    • Proaktive Weiterentwicklung des internen Vertriebs

    Aktivitäten

    • Analyse der Vertriebsleistung und Ableitung von Optimierungsmassnahmen

Handlungsempfehlung II: Stärkung des B2B2C-Kanals durch Affinity Groups

  • Now (bis Ende 2021)

    Ziele

    • Identifikation und Clusterung von Kundenbedürfnissen, Identifikation der korrespondierenden Affinity Groups
    • Aufsetzen von Affinity-Group-Partnerschaften zur Gewinnung:
    • von Leads-Adressen (besonders wichtig aufgrund des Verbots von Cold Calls)
    • von Kunden mit einer hohen Loyalität

    Aktivitäten

    • Identifikation der Bedürfnisgruppen
      (z. B. Selbsthilfegruppen, Fitness-Gruppen, Händler von Gesundheitsprodukten, Berater im Bereich Gesundheit, Leistungserbringer)
    • Entwicklung einer Partnerschaftsstrategie
  • Next (2022)

    Ziele

    • Produktentwicklung und -lancierung für die identifizierte Bedürfnisgruppe und deren Affinity Group
    • Umsetzung einer gemeinsamen Vertriebsstrategie mit der Affinity GroupAktivitäten

    Aktivitäten

    • Aufbau des Partnernetzwerks zur Leadgenerierung
    • Gemeinsame Angebotsdefinition und Vertriebsmodellentwicklung mit der Affinity Group
    • Produktentwicklung und -tarifierung
    • Lancierung des Produkts und Vertriebskanals
  • Beyond (2023+)

    Ziele

    • Fortlaufende Identifikation und Clusterung von Kundenbedürfnissen und deren Affinity Group
    • Weiterentwicklung der Partnerschaften mit Affinity Groups
    • Nutzung von Leads-Adressen, die über die Partnerschaft bezogen wurden, um neue Kunden zu gewinnen

    Aktivitäten

    • Messung des Erfolgs und Ableitung von Massnahmen zum weiteren Ausbau der Partnerschaft
    • Integration des Partnernetzwerks in bestehende oder neue Ökosysteme

Handlungsempfehlung III: Einsatz von Arbeitgebern als B2B2C-Kanal

  • Now (bis Ende 2021)

    Ziele

    • Identifikation von Arbeitgeberbedürfnissen
    • Analyse von Tendenzen innerhalb der Arbeitnehmerschaft und Ableitung eines Service-Angebotes

    Aktivitäten

    • Identifikation von Arbeitgeberbedürfnissen und Clusterung von in Frage kommenden Organisationen als Vertriebskanal
    • Identifikation von Tendenzen innerhalb der Arbeitnehmerschaft der betrachteten Organisation
    • Entwicklung eines dedizierten Service-Angebotes und Gewinnung von Organisationen
  • Next (2022)

    Ziele

    • Etablierung des Versicherers als Gesundheitspartner für das Wohlbefinden der Mitarbeiter
    • Integration von betrieblichem Gesundheitsmanagement (BGM) als Differentiator des Arbeitgebers

    Aktivitäten

    • Produktentwicklung und -tarifierung, inkl. Zusatzservices (Fringe Benefits für Arbeitnehmer)
    • Entwicklung eines vereinfachten Gesundheitsprüfungsmodells (d. h. Wegfall der Prüfung)
    • Einführung des Produktes über den Arbeitgeber
  • Beyond (2023+)

    Ziele

    • Weiterentwicklung und Ausweitung des Angebotes für Arbeitgeber
    • Stärkung der Wahrnehmung des Versicherers als Gesundheitspartner

    Aktivitäten

    • Messung des Erfolgs und Ableitung von Optimierungsmassnahmen
    • Ausbau von Services im BGM, die dem Arbeitgeber u. a. als Fringe Benefit dienen

Fazit

Schweizer Krankenversicherer müssen jetzt handeln, um dem Einbruch im Grund- und Zusatzversicherungsgeschäft nachhaltig entgegenzuwirken und ihr Vertriebsmodell langfristig profitabel weiterzuentwickeln. EY hilft dabei, die richtige  Zusammenstellung an Initiativen zu finden, zu optimieren und umzusetzen, um die Weiterentwicklung des eigenen Vertriebs voranzutreiben, die Stärkung des B2B2C-Kanals durch Affinity Groups auszubauen und Arbeitgeber als B2B2C-Kanal einzusetzen, und so das Vertriebsmodell der Zukunft zu etablieren.

 

Vielen Dank an Elisa Maslow und Jan-Willem Jansen für ihre wertvollen Beiträge.

Über diesen Artikel

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Jörg Schwanemann

Associate Partner, Financial Services Consulting, Ernst & Young AG

Avid reader of political, philosophical and environmental publications. Passionate golfer. Loves ice hockey.

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Yamin Gröninger

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Marc Berger

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