6 Minuten Lesezeit 24 November 2021

Online-Riesen setzen heute Markstandards. Mit der Vision des Metropolitan Commerce kann der Einzelhandel dennoch neben ihnen bestehen.

Frau hängt ein geöffnet Schild in einem Geschäft auf

Wie Einzelhändler nicht länger Einzelkämpfer bleiben

Von Jörg Schäfer

EY Global Retail Supply Chain Leader, Partner EY Strategy & Transactions GmbH | Deutschland

Stratege. Lieferketten-Enthusiast. Pragmatischer Denker mit Hands-on-Mentalität. Stolzer Ehemann und Vater.

6 Minuten Lesezeit 24 November 2021

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Online-Riesen setzen heute Markstandards. Mit der Vision des Metropolitan Commerce kann der Einzelhandel dennoch neben ihnen bestehen.

Überblick

  • Wer allein zu schwach ist, sollte sich verbünden: Mit dem Ökosystem Metropolitan Commerce konzipieren Einzelhändler die Wertschöpfungskette neu.
  • Gemeinsame Lager- und Logistikstrukturen könnten dem Online- und dem Offline-Einzelhandel helfen, in Sachen Geschwindigkeit zu Online-Riesen aufzuschließen.
  • Der Kunde erhält seine Ware genauso schnell geliefert, wie es große Plattformen vormachen – doch im besten Fall genießt er dazu ein tolles Einkaufserlebnis.

Vor zehn Jahren im Alltag noch unvorstellbar, heute jedoch gern genutzter Service, wenn es mal schnell gehen muss oder bequem sein soll: Same oder Next Day Delivery. Den neuen Marktstandard im Handel haben Online-Giganten initiiert, die das bisher als Einzige leisten können – und wollen. Geschwindigkeit und Service sind zu einer wichtigen Währung in der Kundenbeziehung geworden – und sie werden noch an Bedeutung gewinnen. Die Zeiten, in denen wir klaglos ein Geschäft verlassen haben, in dem das gewünschte Produkt nicht vorrätig war, sind vorbei. Der Endkonsument shoppt heute auf einem globalen Marktplatz und wird oft nur noch über ein besonderes Einkaufserlebnis in den stationären Einzelhandel gelockt werden können.

Für Ladengeschäfte wird das voraussichtlich eine neue Ausrichtung ihres Geschäftsmodells nach sich ziehen, bei der Einkaufserlebnis und Beratung gewichtiger sind als hohe Lagerbestände auf großen Flächen. Der Kunde wird wählerischer und individueller. Um ihn für sich zu gewinnen, muss der Handel Relevanz herstellen, beispielsweise durch ein wechselndes Warenangebot auf kleineren Flächen. Diese Store Propositions erörtert der Artikel „Wie stationärer Handel vom Problemfall zum Quartiersanker wird“. Die Vision: Ein übersichtliches Angebot im Shop, aus dem der Kunde sein Produkt im Laden direkt aussucht, bestellt und bestenfalls geliefert bekommt, sobald er wieder zu Hause ist.

Damit würde sich auch die Supply Chain ändern: weg von der Tüte, die aus dem Geschäft getragen wird, hin zur Lieferung nach Hause – ganz so, wie es die großen Online-Plattformen auch tun, sofern die gleiche Geschwindigkeit gewährleistet wird. Doch wie könnte der Handel das sicherstellen? Wie könnte er hier mithalten? Die Idee des Metropolitan Commerce kann die Lösung dafür sein, diesen Nahversorgungsauftrag in urbanen Regionen auf dem schnellsten und sichersten Weg zu erfüllen und sich damit auf Augenhöhe mit den großen Online-Plattformen zu positionieren.

Metropolitan Commerce ist „the power of many”

Hinter Metropolitan Commerce steht der Gedanke eines Ökosystems, bei dem sich gleichgesinnte Einzelhändler (Onliner wie Offliner) und/oder Herstellermarken zusammenschließen, um für Abwicklungs- und Lieferdienstleistungen gemeinsame Strukturen zu schaffen. In der Praxis könnte sich das als ein gemeinsames Lager darstellen, in dem die verschiedenen Teilhaber ihre Produkte vorrätig halten. Der Kunde, der im Laden ein Produkt kauft, bekommt dieses aus dem Lager geliefert. Die Ware gelangt auf dem gleichen Weg wie bei einer Online-Bestellung zu ihm, er hat sie aber vorher anfassen und ausprobieren können. Es entsteht eine Konvergenz zwischen den Geschäftsmodellen der großen Online-Akteure und den kleineren Einzelhändlern, die so hinsichtlich der Geschwindigkeit aufschließen können. Auf diese Weise steigern sie ihre Wettbewerbsfähigkeit, rücken dichter an den Kunden und seine Bedürfnisse heran und können gleichzeitig zuvor ein außergewöhnliches Einkaufserlebnis bieten – die große Stärke der Offline- gegenüber der Online-Welt.

Hinter Metropolitan Commerce steht der Gedanke eines Ökosystems, bei dem sich gleichgesinnte Einzelhändler (Onliner wie Offliner) und/oder Herstellermarken zusammenschließen, um für Abwicklungs- und Lieferdienstleistungen gemeinsame Strukturen zu schaffen.

Online-Einzelhändler können von dieser Strategie des Zusammenschlusses ebenso profitieren, denn sie stehen unter dem gleichen Druck, Liefertempo und Verfügbarkeit zu erhöhen. Stark nachgefragte Artikel beispielsweise sollten nicht mehr nur in einem Zentrallager in Deutschland, sondern in den jeweiligen Lagern von acht, neun oder zehn Metropolregionen abrufbereit liegen. So tragen sich Skalierungseffekte durch die gesamte Lieferkette bis zum Konsumenten.

Alternativen für den Einzelhandel: Plattformen oder selbst formen

Vor der Corona-Pandemie war E-Commerce noch eine Wettbewerbsherausforderung für den stationären Handel, inzwischen ist er zum Bestatter vieler Einzelhändler geworden. Diese Entwicklung kann man betrauern; dies ist jedoch wenig hilfreich, denn sie wird sich nicht ändern. 39 Prozent der Befragten des EY Future Consumer Index 2021 sagen, sie würden künftig verstärkt online kaufen. Dass diese Zahl je wieder sinkt, ist kaum anzunehmen.

Dem Einzelhandel bleiben zwei Möglichkeiten: sich selbst auf eine der großen Plattformen zu begeben oder neue Wege zu gehen. Denn so viel ist sicher: Als Einzelkämpfer braucht ein Händler den Online-Goliaths nicht gegenüberzutreten, sie treiben bereits alle Davids vor sich her. Wenn ein neuer Marktstandard gesetzt ist, sollten sich Beteiligte und Betroffene im Umfeld fragen: Welche Rolle ist die unsere in dem Spiel? Ergeben wir uns der Dominanz oder finden wir eine Möglichkeit, neben ihr zu bestehen?

Durch die Anbindung an eine Plattform bekommt ein Händler zwar Zugang zu einem großen Kundenstamm, er verliert jedoch gleichzeitig seinen direkten Draht zum Kunden und seine Unabhängigkeit. Er wird zu einem unter vielen im riesigen Sortiment. 

Das würde ein Ökosystem Metropolitan Commerce umgehen. Und es bietet Händlern weitere Vorteile:

  • Die direkte Kundenbeziehung bleibt bestehen. 
  • Es gibt keinen Eingriff in die individuelle Gestaltung des Händlertums. 
  • Kosten und Bestandsrisiko werden geteilt.
  • Der Flächenbedarf sinkt – und damit auch die Kosten.
  • Die Händler können sich neu definieren und einzigartige Einkaufserlebnisse schaffen.
  • Sie erzeugen Relevanz und Wachstum.
  • Es entsteht Skalierung über viele Parteien hinweg.

Von dem letzten Punkt, der Skalierung, profitieren alle Teilnehmer, die Volumen in das Ökosystem des Metropolitan Commerce stecken. Das Gegenargument, damit wiederum einen Unique Selling Point (USP) aufzugeben, ist in Anbetracht der Situation schnell widerlegt: Die Einzelhändler sitzen alle im gleichen Boot, das bereits in hohem Wellengang schlingert. Je mehr Gewicht sie gemeinsam zusammenbekommen, desto höher ist die Chance auf Stabilisierung. Aber die Zeit drängt, der Handlungsdruck besteht – und er wird steigen.

Die Einzelhändler sitzen alle im gleichen Boot, das bereits in hohem Wellengang schlingert. Je mehr Gewicht sie gemeinsam zusammenbekommen, desto höher ist die Chance auf Stabilisierung.
Jörg Schäfer
EY Global Retail Supply Chain Leader, Partner EY Strategy & Transactions GmbH | Deutschland

Dazu lässt sich das Modell noch weiterdenken: in Planungsfähigkeiten, Sourcing oder auch weitere Modelle, in denen Einzelhändler und Hersteller neu kooperieren. Der Hersteller stellt seine Produkte dabei beispielsweise über das Lager zum Verkauf zur Verfügung und kann gleichzeitig für seinen eigenen Online-Handel hieraus Ware beziehen, was ihm neue D2C-Möglichkeiten bietet.

Städte und Kommunen profitieren beim Wandel der Innenstädte

Für Städte und Kommunen ergeben sich ebenfalls positive Folgen. Sie haben das Ziel, ihre Innenstädte und Quartiere attraktiver zu gestalten, um wieder mehr Menschen anzuziehen. Das würde kaum gelingen, wenn tausend kleine Transporter von tausend Händlern die Straßen verstopfen, abgesehen davon, dass sich viele einen eigenen Lieferdienst plus Logistik nicht leisten könnten. 

Beim Metropolitan Commerce hingegen können alle mitmachen: große und kleine Unternehmen, Onliner und Offliner. Einzige Voraussetzung ist, dass sie im Einzugsgebiet des Lagerstandortes liegen, damit sie in Schlagdistanz ihr Quartier, ihre Community versorgen können. Gleichzeitig gestalten diese Einzelhändler den Wandel dadurch aktiv mit und fördern zusammen mit den Städten Regionalität und Nachhaltigkeit.

Aus dem Metropolitan Commerce sollte sich der Gedanke entwickeln: Wer sich hier nicht anschließt, begeht einen Fehler.
Jörg Schäfer
EY Global Retail Supply Chain Leader, Partner EY Strategy & Transactions GmbH | Deutschland

Um den Ball ins Rollen zu bekommen, sollten zu Beginn einige größere unternehmerische Treiber dabei sein, Ladenketten beispielsweise, die nicht mehr in jeder Filiale jedes Produkt in jeder Ausführung vielfach vorhalten möchten, sondern in jeder Version maximal einmal. Aus dem Metropolitan Commerce sollte sich der Gedanke entwickeln: Wer sich hier nicht anschließt, begeht einen Fehler. Je schneller der Ball rollt, desto besser wird der Service und damit die Widerstandsfähigkeit aller gegenüber den großen Online-Konkurrenten. 

Im besten Fall können sogar eigene Marktstandards gesetzt werden. Das ist möglich, wenn etwas entsteht, von dem die Menschen jetzt noch gar nicht wissen, dass sie es gerne in Anspruch nehmen möchten. Wie sagte der Autobauer Henry Ford einst so schön: „Wenn ich die Menschen gefragt hätte, was sie wollen, hätten sie gesagt: schnellere Pferde.“

Fazit

Viele Einzelhändler sind – bereits vorher und noch einmal verstärkt durch die Corona-Pandemie – beim Kampf gegen große Online-Anbieter weiter ins Hintertreffen geraten. Die großen Player setzen über Geschwindigkeit und Service Marktstandards. Der Konsument erlebt die Lieferkette heute hautnah als integralen Bestandteil seines Konsumerlebnisses. Sein Anspruch hat sich dadurch enorm gewandelt. Darum ist es auch für den Einzelhandel – online und offline – von entscheidender Bedeutung, diese Transformation mitzugehen und diese Erwartungserhaltung zu erfüllen oder sogar zu übertreffen. Als Einzelkämpfer kann das, wenn überhaupt, nur wenigen Großen gelingen. Doch im Verbund mit anderen und einer gemeinsamen Liefer- und Logistikstruktur haben alle die Chance, sich neben Online-Riesen zu behaupten.

Über diesen Artikel

Von Jörg Schäfer

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Stratege. Lieferketten-Enthusiast. Pragmatischer Denker mit Hands-on-Mentalität. Stolzer Ehemann und Vater.