5 Minuten Lesezeit 15 April 2020
Verschwommen von hinten zu sehende Person benutzt ihr Smartphone

COVIDPulse: Wie eine App die Corona-Dunkelziffer reduziert

Autoren
Paul Staiger

Project Manager bei etventure/EY

Christian Reichmann

Partner bei etventure/EY

5 Minuten Lesezeit 15 April 2020

Je mehr Quarantänefälle bekannt sind, desto besser können Krankenhäuser ihre Kapazitäten im Kampf gegen das Coronavirus planen.

Im Kampf gegen das Coronavirus ist eine unsichere Datenlage eines der größten Hindernisse. Denn für ihre Kapazitätsplanung benötigen Krankenhäuser, Behörden und Institute verlässliche Zahlen und Prognosen. Die Web-App „COVIDPulse“ soll dabei unterstützen, die Dunkelziffer der COVID-19-Infizierten zu reduzieren – mit bundesweit und anonym erhobenen Daten zur Erfassung von Quarantänefällen. Im Interview erläutern Paul Staiger, Initiator der App und Project Manager bei etventure/EY, sowie Christian Reichmann, Sponsor des Projekts und Partner bei etventure/EY, die Hintergründe.

EY: Wie seid ihr auf die Idee zu COVIDPulse gekommen?

Paul Staiger: Es war Donnerstag, der 19. März. Für Berlin wurden gerade stärkere Maβnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie diskutiert, weshalb ich ins Homeoffice nach Lübeck ging. In der Heimat hörte ich ein Gespräch mit zwei Ärzten, in dem es um die notwendigen Vorkehrungen der Kliniken bei der Corona-Krise ging. Um die Kapazitätsplanung zu unterstützen, wären Zahlen wichtig, die bislang nicht existierten. Dabei ging es um die Quarantänefälle, die durch die lokalen Gesundheitsämter aus diversen Gründen nicht erhoben werden konnten.

Diese Zahl wäre den beiden Ärzten zufolge besonders bedeutend, da aus ersten Statistiken hervorging, dass ca. 15 Prozent aller Quarantänefälle einen schweren medizinischen Verlauf haben, der auch einen Krankenhausaufenthalt nötig macht. Diese Informationen wären also essenziell und müssten unbedingt erhoben werden, notfalls von den lokalen Ärzten selbst.

Die Zahl der Quarantänefälle ist besonders bedeutend, da sich aus ihr die Zahl der Infizierten mit einem schweren medizinischen Verlauf ableiten lässt.

Mir kam dadurch ziemlich schnell die Idee, eine App zu kreieren, die die Dunkelziffer der COVID-19-Infizierten reduzieren sollte, um eine belastbare Datenbasis und Prognosen zur weiteren Planung für die Behörden, Institute bis hin zu regionalen Krankenhäusern bereitzustellen.

Wie ging es dann weiter?

Paul Staiger: Noch am selben Abend habe ich einen Kollegen bei etventure/EY angesprochen und wir hatten bereits nachts um eins die erste, um acht Uhr morgens dann die zweite Version dieser Web-App gebaut. Der inhaltliche Teil, der Fragebogen selbst, wurde mit Medizinern und Personen aus dem Krisenstab einer Klinik entworfen worden. Er ist so gestaltet, dass der Nutzer in nur 60 Sekunden alle für die entsprechenden Stellen relevante Informationen eingeben kann. Nach weniger als drei Tagen sind wir über das Wochenende live gegangen.

COVIDPulse

Für mehr Transparenz im Kampf gegen Corona hat etventure/EY die App COVIDPulse entwickelt: Nutzer in Quarantäne geben eine Selbstauskunft ab – einfach, schnell und anonym. Das soll Krankenhäusern einen besseren Überblick zu Selbstquarantänefällen geben.

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Wir haben den Link zu COVIDPulse über Social Media mit unseren Freundeskreisen und Familien geteilt. Gleichzeitig machten wir das lokale Gesundheitsamt und ca. 600 Ärzte auf die App aufmerksam. Allein durch diesen kleinen Anstoß beim Livegang haben wir in den ersten 24 Stunden über 5.000 Einträge generiert. Dadurch wurde die App in ganz Deutschland bekannt. Es gab bereits Presseartikel und Kontaktaufnahme sowohl zu Gesundheitsämtern und Kliniken als auch zu Universitäten und Landkreisen.

Wer steht hinter der App?

Christian Reichmann: Hinter der App steht eine Non-Profit-Initiative der etventure GmbH – von EY unterstützt, initiiert und umgesetzt durch ein kleines Team von knapp 20 Freiwilligen, darunter Entwickler, Statistiker und Marketingkollegen, begleitet durch das Management. Die gesamte Arbeit findet „pro bono“ neben der Arbeitszeit statt.

Wer liefert die Daten?

Paul Staiger: Die Nutzer, ganz klar. Dabei haben wir die App mittlerweile auch weiterentwickelt: Es sind ausdrücklich alle Einträge wichtig, nicht nur die Auskünfte von Menschen, die sich aktuell in Quarantäne befinden. Somit verbessert sich unsere Datengrundlage stetig, woraus wir statistische Muster erkennen können. Diese unterstützen die Kapazitätsplanung und ermöglichen sogar Prognosen.

Die Daten werden nicht verkauft, sondern vollkommen kostenfrei zur Verfügung gestellt. Unsere Entwicklung ist auch keine „Tracking App“, sondern appelliert rein an die Solidarität des Einzelnen.
Christian Reichmann

Wie steht es um den Datenschutz?

Christian Reichmann: Die App dient einzig der statistischen Erhebung von Daten für die Stellen in Krankenhäusern und Instituten, sowie Ministerien und Ämtern, die relevant für die Vorbereitung und Kapazitätsplanung sind. Die Informationen, welche sich aus den Abfragen ergeben, helfen Experten und Medizinern bei der Vorhersage erwartbarer Infektionen und lassen dadurch rechtzeitige Rückschlüsse auf benötigte Krankenbetten und insbesondere auch notwendige intensivmedizinische Maßnahmen zu. So werden frühestmöglich alle Vorkehrungen getroffen, einen geregelten Krankenhausalltag aufrecht zu erhalten.

Die Daten werden nicht an Krankenhäuser und andere Institutionen verkauft, sondern kostenfrei zur Verfügung gestellt. Unsere Entwicklung ist auch keine „Tracking App“, sondern appelliert rein an die Solidarität des Einzelnen. Das bedeutet, dass jeder seine Angaben freiwillig tätigt und diese komplett anonym bleiben.

Was unterscheidet die App von anderen Apps?

Paul Staiger: Wir setzen voll auf persönliche Anonymität der Nutzer und waren die Ersten, die mithilfe der Bevölkerung eine Datenbasis aufgebaut haben. Es geht aber nicht darum, mit anderen Apps zu konkurrieren, sondern sich sinnvoll zu ergänzen. Der Sinn von Big Data ist ja gerade, durch hohe Nutzerzahlen verlässlichere und differenzierte Prognosen erstellen zu können. Toll wäre, wenn wir innerhalb kürzester Zeit 70.000 bis 80.000 Nutzer generieren könnten.

Der Sinn von Big Data ist ja gerade, durch hohe Nutzerzahlen verlässlichere und differenzierte Prognosen erstellen zu können.
Paul Staiger

Das Schöne an der App ist meines Erachtens auch, dass wir durch die zielgerichtete Sammlung und Verarbeitung von Daten helfen können, die Wirkungsweise der Alltagsbeschränkungen zu verstehen und messbar zu machen, wodurch wir auch die schrittweise Lockerung unterstützen können.

Was sind die nächsten Schritte?

Christian Reichmann: Im Dialog mit Medizinern verfeinern wir die Fragen, was durch steigende Nutzerzahlen immer besser möglich sein wird. Entscheidend sind für uns dabei medizinische Relevanz, Transparenz über Infektionsherde sowie statistische Aussagekraft.

Eine spannende Perspektive ist, mit der App auch anderen Ländern solidarisch unter die Arme greifen zu können. Wir haben zudem den Eindruck, dass es erste Nachahmer im Ausland gibt, was wir eher als Auszeichnung denn als Ärgernis verstehen.

Fazit

Die App COVIDPulse will Krankenhäuser, Behörden und Institutionen dabei unterstützen, ihre Kapazitäten in der Corona-Krise besser zu planen. Dazu sammelt sie bundesweit und anonym Daten, die Aufschluss über die Quarantänefälle in Deutschland geben. Auf dieser Basis lassen sich die voraussichtlichen schweren Verläufe der Krankheit COVID-19 besser abschätzen.

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Paul Staiger

Project Manager bei etventure/EY

Christian Reichmann

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