7 Minuten Lesezeit 26 August 2021
Mann sitzt auf einem Steg am Wasser

„Auf dem Weg zum Klimaziel dürfen wir keine Fehler mehr machen“

Allein die formulierte Verschärfung der Klimaziele mindert noch keine Emission. Die Stiftung Klimaneutralität liefert Handlungsempfehlungen.

Überblick
  • Im EYCarbon Webcast stellt Dr. Julia Metz von der Stiftung Klimaneutralität die Publikation „50 Politikinstrumente für ein klimaneutrales Deutschland“ vor.
  • Der Handlungsbedarf ist groß, um die inzwischen noch ambitionierteren Klimaziele erreichen zu können.
  • Deutschland nimmt bei der wirtschaftlichen Transformation eine Vorreiterrolle ein.

Die Bundesregierung hat die Klimaziele für Deutschland höhergesteckt als die Vorgaben der EU und verantwortet den drängenden Start von Maßnahmen. Die drei Thinktanks Stiftung Klimaneutralität, Agora Energiewende und Agora Verkehrswende haben hierzu die Publikation „50 Politikinstrumente für ein klimaneutrales Deutschland“ vorgelegt, über die Florian Huber, Leiter Unternehmensentwicklung und Leiter EYCarbon, im Webcast von EYCarbon mit Dr. Julia Metz, Senior Advisor bei der Stiftung Klimaneutralität, diskutierte.

  • Zur Person: Dr. Julia Metz

    Julia Metz ist Senior Advisor bei der Stiftung Klimaneutralität. Sie war mit Klima- und Energiepolitik im Rahmen verschiedener Stationen beim Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW) sowie beim Deutschen Bundestag befasst, zuletzt als Referentin der Vorsitzenden der Hauptgeschäftsführung des BDEW, Kerstin Andreae. Zuvor hat sie am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) zu europäischer Politik geforscht. Julia Metz hat in Heidelberg Politikwissenschaft und Volkswirtschaft studiert und an der Freien Universität Berlin zu europäischer Politik promoviert.

EY: Jahrhundertflut und verheerende Waldbrände: Aufgrund aktueller Ereignisse rutscht Klimaschutz hoch nach oben in der politischen Agenda. Reichlich spät, oder?

Dr. Julia Metz: Spätestens jetzt, aber schon durch die vergangenen Dürresommer wurden die Bedrohungen durch den Klimawandel spürbar. Auch in der breiten Bevölkerung ist angekommen, dass die Klimakrise angegangen werden muss. Und es ist richtig: Im Kontrast dazu steht das Tempo, das hierzu bislang an den Tag gelegt wurde. Nach den aktuellen Zahlen der AG Energiebilanzen sind die energiebedingten CO2-Emissionen im ersten Halbjahr 2021 im Vergleich zum ersten Halbjahr 2020 wieder um 6,3 Prozent gestiegen. Dabei sollten wir nach dem neuen Bundesklimaschutzgesetz auf dem Reduktionspfad sein.

Welche Absicht verfolgt die Stiftung Klimaneutralität mit ihren Handlungsempfehlungen „50 Politikinstrumente für ein klimaneutrales Deutschland“?

Metz: Während in Unternehmen längst diskutiert wird, wie das Ziel der Klimaneutralität erreicht werden kann, gibt es seitens der Politik keine entsprechende Strategie. Wir zeigen hierzu Wege auf und legen dabei den Fokus auf die Formulierung von Regulierungsmaßnahmen, von Politikinstrumenten. Diese sind sowohl europa- als auch verfassungsrechtlich geprüft und „ready to implement“ formuliert, um nicht noch mehr Zeit zu verlieren.

Florian Huber: Unternehmen wünschen sich Orientierung, Leitplanken. Sobald das Ziel auf null stand, haben alle verstanden: Wir müssen transformieren. Das unternehmerische Risiko lässt sich nie auf null reduzieren. Aber viele denken auch beim Thema Klima in Businessplänen: Wie viel kriege ich umsonst? Was kostet es mich andernfalls? Wie halten wir dabei dem internationalen Wettbewerb stand? Welche Unterstützung gibt es? Antworten können nur Instrumente geben. Darum ist dieser Katalog eine hervorragende Guideline.

Allein die Formulierung der Ziele bringt keine CO2-Minderung.
Dr. Julia Metz,
Stiftung Klimaneutralität

Welche Rolle spielt das Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) in diesem Zusammenhang?

Metz: Das Urteil des BVerfG hatte internationale Strahlkraft für die Rechtsprechung zum Klimaschutz. Die Bundesregierung hat in sehr kurzer Zeit das Gesetz nachgeschärft, mit einem ambitionierteren 2030-Ziel von minus 65 Prozent Treibhausgasemissionen im Vergleich zu 1990 und dem Vorziehen der Klimaneutralität auf 2045.

Doch allein die Formulierung der Ziele bringt keine CO2-Minderung. Das war auch die zentrale Aussage des BVerfG, dass diese Minderung erbracht werden muss, damit die Freiheit künftiger Generationen nicht gefährdet wird. Im nächsten Schritt müssen also die Maßnahmen ergriffen werden. 

Huber: Wenn wir das noch schaffen wollen, können wir uns keine Fehler mehr erlauben. Mit jedem Jahr, in dem Lücken entstehen, verschärft sich die Lage. Irgendwann ist die Klimaneutralität nicht mehr erreichbar. Darum sollte jede künftige Entscheidung hinterfragt werden: Ist sie auch klimazielkonform? 

Irgendwann ist die Klimaneutralität nicht mehr erreichbar. Darum sollte jede künftige Entscheidung hinterfragt werden: Ist sie auch klimazielkonform?
Florian Huber,
Leiter Unternehmensentwicklung EYCarbon

In welchem Bereich besteht der größte Dekarbonisierungsbedarf?

Metz: Treibhausgasneutralität bedeutet grundsätzlich, dass alle Sektoren dekarbonisieren müssen und für die verbleibenden Emissionen Carbon Capture and Storage (CCS) eingesetzt wird. Die Energiewirtschaft verursacht nach wie vor gut ein Drittel der Treibhausgasemissionen in Deutschland. Ihre Dekarbonisierung ist nicht nur deswegen wichtig, sondern auch weil sie Voraussetzung für die Dekarbonisierung energiebasierter Sektoren wie Industrie, Verkehr und Gebäude ist. 

Wie lauten die konkreten Handlungsempfehlungen für die Energiewirtschaft?

Metz: Der Kohleausstieg ist ein zentraler Baustein, um das Klimaziel 2030 zu erreichen und den Energiesektor möglichst schnell CO2-frei zu kriegen. Und er ist machbar. Wir schlagen hier einen CO2-Mindestpreis für den Stromsektor vor, der bei 50 Euro startet und bis 2030 auf 65 Euro steigt. Das ist ausreichend, damit 2030 keine Kohle mehr verbrannt wird.

Die andere Seite ist, massiv den Ausbau der erneuerbaren Energien voranzubringen. Dafür sollten endlich drei gordische Knoten durchschlagen werden. Der erste: ausreichend Flächen für die Windenergie an Land bereitstellen, und zwar im Durchschnitt 2 Prozent der Bundesfläche. Der zweite: Planungs- und Genehmigungsverfahren beschleunigen. Der dritte: eine tragfähige Lösung für den Konflikt mit dem Artenschutz, insbesondere dem Vogelschutz, finden.

Ein weiterer Schwerpunkt unserer Empfehlungen ist es, ausreichend Flächen bereitzustellen für Offshore-Windenergie und Photovoltaik auf Freiflächen sowie deren Ausbau auf Dächern.

Für all diese Themen haben wir in unseren Handlungsempfehlungen „50 Politikinstrumente für ein klimaneutrales Deutschland“ konkrete Vorschläge an die Politik formuliert.

Egal in welcher Farbkonstellation die neue Bundesregierung entsteht, sie wird Klimaschutzmaßnahmen in allen Bereichen ergreifen müssen.
Dr. Julia Metz,
Stiftung Klimaneutralität

Wie realistisch – wirtschaftlich wie technologisch – ist die Umsetzung des Ausbaus erneuerbarer Energien in den nächsten 20 Jahren?

Metz: Wir brauchen die genannten Rahmenbedingungen auf regulatorischer Ebene, um in kurzer Zeit ausreichende Strommengen ausbauen zu können, um die Klimaziele zu erreichen. Das sind bis 2030 80 Gigawatt (GW) Windenergie an Land, 150 GW Photovoltaik und 25 GW Offshore-Windenergie. Das bedeutet eine Verdopplung bis Verdreifachung der Geschwindigkeit. Alles ist da: die Technologien, die Akteure, die Unternehmen, die in erneuerbare Energien investieren wollen. Auf der anderen Seite will die Wirtschaft erneuerbare Energien abnehmen. Es liegt an der Politik, die Hemmnisse für den Erneuerbaren-Ausbau zu beseitigen.

Huber: Die Handlungen der nächsten Bundesregierung werden darüber entscheiden, ob das Erreichen des Klimaziels noch möglich ist oder nicht – und zwar die, die sie am Anfang der Legislaturperiode ausführt.

Metz: Egal in welcher Farbkonstellation die neue Bundesregierung entsteht, sie wird Klimaschutzmaßnahmen in allen Bereichen ergreifen müssen und bei den Instrumenten konkret werden.

  • Carbon Capture and Storage und Carbon Contracts for Difference

    Carbon Capture and Storage (CCS) bezeichnet eine Technologie, bei der CO2-Emissionen abgespalten und tief im Erdboden oder im Meeresuntergrund gelagert werden. Eine erste Anlage dafür entsteht in Europa gerade vor der Küste Norwegens.

    Carbon Contracts for Difference (CCfD) stehen für Verträge zwischen dem Staat und einem Unternehmen. Wendet dieses höhere Kosten auf, um CO2-reduziert zu produzieren, anstatt weniger effektive, aber günstigere CO2-Zertifikate zu erwerben, trägt der Staat die Differenz zwischen den CO2-Vermeidungskosten und dem Marktpreis für Emissionszertifikate.

Wie können Fehlinvestitionen vermieden und klimakompatible Investitionen gefördert werden?

Metz: Bei der Industrie, dem zweitgrößten Treibhausgasemittenten nach der Energiewirtschaft, spielt der internationale Wettbewerb eine zentrale Rolle. Jede Anlage, in die jetzt investiert wird, muss 2045 klimaneutral sein. Wir schlagen eine gesetzliche Regelung vor, die die Nutzung fossiler Energieträger auf das Jahr 2045 befristet, damit klar ist: Ab 2045 dürfen keine fossilen Brennstoffe mehr verbrannt werden. Das ist wichtig für die Planungssicherheit und auch, um Entschädigungszahlungen wie beim Kohleausstieg zu vermeiden. Zudem geben langfristige Finanzierungszusagen seitens der Politik mehr Planungssicherheit für die Transformation, Stichwort Carbon Contracts for Difference (CCfD), etwa für den Einsatz von grünem Wasserstoff.

Ich glaube fest daran, dass eine neue Produktqualität aus Deutschland „klimaneutral“ sein wird.
Florian Huber,
Leiter Unternehmensentwicklung EYCarbon

Welche Rolle werden Maßnahmen wie CCfD spielen, auch hinsichtlich des Themas Arbeitsplätze?

Metz: Investitionen in den Klimaschutz sind Investitionen in den Wirtschaftsstandort Deutschland. Sie bedeuten Arbeitsplatzsicherung und Schaffung neuer Arbeitsplätze. Die notwendigen Investitionen übersetzen sich in zusätzliche Arbeitsplätze. Die Herausforderung liegt vielmehr darin, die Arbeitskräfte zu bekommen, die wir benötigen.

Huber: Deutschland ist eine führende Exportnation, weil „made in Germany“ für Qualität von Produkten und Leistungen steht. Ich glaube fest daran, dass eine neue Produktqualität „klimaneutral“ sein wird. Wir können wiederholen, was bereits zigmal gelang: uns global etablieren als die, die das in einer „most efficient, most effective and most trustful“ Weise sicherstellen – und so auf neue, klimaneutrale Art Wohlstand erzeugen.

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Warum wird die Debatte um Wasserstoff erst jetzt intensiviert?

Metz: Mit dem Ziel der Klimaneutralität hat Wasserstoff eine neue Bedeutung bekommen, denn jetzt muss auch das kostengünstigere Erdgas bis zum Zieljahr komplett ersetzt werden, um auf netto null Treibhausgasemissionen zu kommen. Ohne Wasserstoff werden wir das Ziel der Klimaneutralität nicht erreichen.

Huber: Fast alle Ressourcen, die wir zur Dekarbonisierung brauchen, sind wahnsinnig knapp: Fähigkeiten und Kenntnisse, Mitarbeiter, Teile der Brennstoffe, Ingenieurleistungen für die neuen Technologien, selbst grüne Energie. Wir können uns daher keine Verschwendung von Ressourcen leisten und auch keine Alternativen ausarbeiten, die nicht relevant sind. Das gilt besonders beim Thema Wasserstoff, weil er eine der knappsten Ressourcen ist. Wasserstoff darf nur dort angewandt werden, wo er alternativlos ist. Darum muss man zwischen den Sektoren vermitteln und sektorenübergreifend diskutieren, sonst kommt es zu suboptimalen Lösungen. 

Das Klima scheint sich unerwartet stark zu verändern. Sind die bisherigen Klimamodelle zu optimistisch gewesen?

Metz: Das nehme ich auch wahr. Es verstärkt eigentlich nur den Handlungsdruck. Aktuell liegt die Erderwärmung global bei 1,1 Grad. 1,5 Grad sind noch einzuhalten, aber nur mit extremen Anstrengungen und erhöhtem Tempo – und zwar global. Dafür ist es wichtig, dass Deutschland einen Maßstab setzt und vorangeht – als wirtschaftsstarkes Land für sich, aber auch als Treiber in der europäischen Klimapolitik und damit auch für die Dynamik zwischen den Wirtschaftsregionen auf internationaler Ebene. Die Bedeutung dessen, was die nächste Bundesregierung bewirken kann, darf nicht unterschätzt werden. 

EYCarbon Lunch Break Panel: 

„50 Politikinstrumente für ein klimaneutrales Deutschland“

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Fazit

Noch besteht die Chance, die Erderwärmung auf 1,5 Grad zu begrenzen. Doch die Zeit drängt. Viel hängt von den regulierenden Maßnahmen der nächsten Bundesregierung ab, die zügig eingeleitet werden sollten. Die Publikation „50 Politikinstrumente für ein klimaneutrales Deutschland“ gibt hierfür wertvolle Handlungsempfehlungen.