8 Minuten Lesezeit 7 Dezember 2020
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„Das sind dicke Bretter, die wir da bohren müssen“

Die Klimapolitik der EU wird von Unternehmen unterstützt, erfordert aber auch tiefgreifende Transformation. Ein Gespräch über den Weg zur Klimaneutralität. 

Überblick
  • „Future Forum Europe 2020“: Deutsche Unternehmen geraten durch den European Green Deal unter Transformationsdruck und fordern darum Rahmenbedingungen.
  • 82 Prozent der befragten Führungskräfte sind der Meinung, dass Investitionen in Klimaschutz gegen die Folgen der Corona-Krise helfen.
  • Green Deal bietet wiederum auch große Exportchancen, vor allem bei Technologien zur Dekarbonisierung.

Der Blick von 400 deutschen Unternehmen auf Europa im Jahr 2020 offenbart neue Wendungen: Gefragt sind handfeste Entscheidungen in der Klimapolitik, der Brexit hingegen stößt auf Desinteresse. Prof. Dr.-Ing. Manfred Fischedick, Wissenschaftlicher Geschäftsführer des Wuppertal Instituts, und Prof. Dr. Bernhard Lorentz, Managing Partner Markets bei EY und Leiter EYCarbon, leiten im Interview ihre Erkenntnisse aus den Ergebnissen der Studie „Europa 2020 – Die Sicht deutscher Unternehmen“ ab.

EY: Unternehmen wünschen sich von der Europäischen Union (EU) eine aktivere Klimapolitik – immerhin neun Prozentpunkte mehr als noch 2019. Moralische Einsicht oder doch ein eher ökonomisch getriebenes Anliegen?

Prof. Dr.-Ing. Manfred Fischedick: Ich würde mal sagen: beides ein bisschen. Es gibt die Ziele zur Treibhausgasneutralität bis 2050 in Deutschland, aber auch zunehmend in wichtigen Exportmärkten: China 2060, Japan 2050, Südkorea 2050. Und nach dem Wahlsieg von Joe Biden demnächst auch in den USA mit 2050. Deswegen ist das durchaus getrieben von regulatorischen Rahmenbedingungen und somit auch davon, was sich künftig am Markt durchsetzen lässt. Auf der anderen Seite gibt es aber ebenso Unternehmen, die freiwillige Maßnahmen ergriffen haben, aus Überzeugung einerseits, aber auch als Antwort auf die gestiegenen Erwartungen der Kunden. 

  • „Future Forum Europe 2020“ – Studie von EY, der DGAP und dem Wuppertal Institut

    Das Meinungsforschungsinstitut forsa hat im Auftrag von EY, der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) und dem Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie eine Umfrage unter Führungskräften von 400 deutschen Unternehmen mit mindestens 250 Mitarbeitern durchgeführt. Die Ergebnisse der Befragung vom Sommer 2020 deuten den Blick deutscher Unternehmen auf die Zukunft Europas. Eine hervorstechende Zahl in diesem Jahr sind die 26 Prozent der Befragten, die die Umwelt- und Klimapolitik als eine der drei aktuell größten Herausforderungen für die Europäische Union bezeichnen – das sind 17 Prozentpunkte mehr als noch 2019.

Prof. Dr. Bernhard Lorentz: Die Gesamtzahl der Unternehmen ist keine homogene Einheit. Manche muss man mit regulativen Bestimmungen in Richtung Klimaschutz schieben. Es gibt aber auch neue, kreative Köpfe, sowohl in etablierten Unternehmen als auch in Start-ups. Die sehen in den neuen Herausforderungen Chancen und Möglichkeiten. Das Gesamtbild ist heterogen. 

Klimaschutz und Corona

82 %

halten staatliche Investitionen in den Klimaschutz für richtig und hilfreich beim Weg aus der Krise.

Eine knappe Mehrheit der Befragten hält die gesetzte Klimaneutralität bis 2050 eher für unrealistisch – warum?

Lorentz: Der Weg zur Klimaneutralität ist eine gesamtgesellschaftliche Anstrengung. Diese Aufgabe fordert alle heraus – Politik wie Wirtschaft gleichermaßen. Klimaneutralität 2050 ist machbar. Dazu braucht aber deutlich mehr Schwung bei allen Beteiligten.

Fischedick: Wir Wissenschaftler sind natürlich immer optimistisch. Auf Basis der Technologien, die wir heute haben oder die in der Entwicklung sind, halte ich das 2050er-Ziel durchaus für machbar. Das ist allerdings kein Selbstgänger, das sind dicke Bretter, die wir da bohren müssen. Es geht um eine Transformation aller Wirtschaftsbereiche. Beim Verkehr angefangen, wo sich bisher wenig bis gar nichts getan hat, bis zum Industrie- und Gebäudebereich – es geht überall ans Eingemachte. Daher ist nachvollziehbar, dass die Unternehmen eher skeptisch sind, vor allem vor dem Hintergrund, dass die bisherigen Klimaschutzziele – zumindest in Deutschland – nicht immer eingehalten wurden. 

Beim jetzigen Status der politischen Rahmenbedingungen fällt es Unternehmen schwer sich vorzustellen, wie sie treibhausgasneutral werden können, ohne vom Markt zu verschwinden.
Prof. Dr.-Ing. Manfred Fischedick
Wuppertal Institut

Was sollte also passieren?

Lorentz: Derzeit wird auf europäischer Ebene über die Anhebung der Emissionsreduktionsziele diskutiert. Die Bundesregierung unterstützt den Vorschlag der Europäischen Kommission, das EU-weite Ziel für die Verringerung der Nettotreibhausgasemissionen auf 55% bis 2030 gegenüber dem Stand von 1990 zu erhöhen. Ich denke, ein wichtiger Schritt ist getan, wenn das verabschiedet ist. Es wird darauf ankommen, dass die Politik noch eine Menge Hausaufgaben macht und auch Unternehmen sich bewegen. Es müssen noch einige große Sprünge gelingen – im Sinne von Innovationen, von Entwicklungsprozessen, von Kostendegressionen. Da stehen gewaltige Aufgaben vor uns allen.

Fischedick: Es braucht vor allem auch den richtigen regulatorischen Rahmen. Mit Maßnahmen wie „carbon contracts for difference“ oder dem gezielten Stimulieren von grünen Produktmärkten können Investitionen in neue Technologien ausgelöst werden. Mit erfolgreichen Beispielen wird dann automatisch der Glaube an eine Zielerreichung bei den Unternehmen größer. Beim jetzigen Status der politischen Rahmenbedingungen fällt es Unternehmen schwer sich vorzustellen, wie sie treibhausgasneutral werden können, ohne vom Markt zu verschwinden. Das gilt besonders für diejenigen im globalen Wettbewerbskontext.

CO2-neutrale Energiesysteme aus Europa heraus auch anderswo auf der Welt aufzubauen: Das ist eine oder sogar die wichtigste neue Wettbewerbschance.
Prof. Dr. Bernhard Lorentz
Managing Partner Markets bei EY und Leiter EYCarbon

75 Prozent sehen durch die Klimapolitik verbesserte Exportchancen für Deutschland. Welche sind das?

Lorentz: Hier sind aus meiner Sicht vor allem Technologie- und Systemlösungen von Bedeutung. Ein zentrales Thema ist Wasserstoff und dazu Überlegungen, wie sich auch energieintensive Prozesse im Industriebereich dekarbonisieren lassen. Das kann nur in einem Gesamtsystem funktionieren, in einem Energiesystem mit allen Infrastrukturen und dem Wechselspiel zwischen Strom- und Gaswirtschaft bis hin zu einem Unternehmen mit konkretem Use Case. In Deutschland wird dieses Thema gerade sehr intensiv angegangen. Die dabei geschaffene Technologie zu einem Exportartikel zu machen, das dabei gesammelte Wissen weiterzugeben und CO2-neutrale Energiesysteme aus Europa heraus auch anderswo auf der Welt aufzubauen: Das ist eine oder sogar die wichtigste neue Wettbewerbschance.

Fischedick: Hinzu kommen Power-to-X-Technologien, hier ist Deutschland zum Beispiel China noch deutlich voraus. Der dritte Bereich ist die Circular Economy, die Kreislaufwirtschaft. Da passiert zwar im Konkurrenzmarkt China schon eine Menge, aber es gibt auch viel Potenzial in Deutschland und Europa, das sich vor allem in Verbindung mit den heute verfügbaren Digitalisierungstechnologien besser als früher ausschöpfen lässt.

  • Was steckt hinter „Carbon Contracts for Difference” und „Power-to-X-Technologien”?

    Carbon Contracts for Difference (CCfD)

    Mit den Carbon Contracts for Difference (CCfD) – oder auch projektbasierte CO2-Differenzverträge – sollen klimafreundliche Investitionen in die Industrie gefördert werden. In einem solchen Vertrag zwischen dem Staat und einem bestimmten Projekt im Unternehmen wird beispielsweise ein stabiler CO2-Preis festgelegt, der eine Reduzierung von Emissionen über den aktuellen Preis im Emissionshandel hinaus belohnt. Für das Unternehmen mindert das Unsicherheit und Kosten und erzeugt den Anreiz, klimafreundlicher zu produzieren, weil es nicht beanspruchte CO2-Zertifikate zu dem vereinbarten Preis verkaufen kann.

    Power-to-X-Technologien

    Das Wort „Power“ steht in diesem Begriff für Strom, das X wie in der Mathematik für eine Variable. Prinzipiell geht es bei Power-to-X-Technologien um die Nutzung von überschüssigem Strom aus erneuerbaren Energien für industrielle Zwecke. In erster Linie dienen sie der Herstellung synthetischer Energieträger oder chemischer Grundstoffe. Daher teilt sich diese Technologie auch in Unterformen wie Power-to-Liquid zur Produktion flüssiger Kraftstoffe oder Power-to-Gas für die Herstellung von Brenngas. 

Erster klimaneutraler Kontinent zu sein: Welche Bedeutung hätte das für Europa?

Fischedick: Das hat natürlich eine wichtige Signalwirkung. Der European Green Deal hat ein übergeordnetes ökologisches Ziel, aber dahinter steht auch die Stärkung der Wirtschaftskraft, der Innovationsdynamik, des Beschäftigungsmotors. Man will nicht nur „good guy“ als Vorreiter für den globalen Klimaschutz sein, sondern auch handfeste Wirtschaftspolitik betreiben. Hinzu kommt, dass ambitionierter Klimaschutz Konjunktur hat: Europa will zwar der erste Kontinent sein, der 2050 in Richtung Treibhausgasneutralität geht, aber es ist nicht die einzige Region, die dieses Ziel anstrebt. Entsprechend wird es einen schönen Wettbewerb um gute Klimaschutztechnologien auf den Märkten geben.

Die fehlende Rechtsstaatlichkeit in dem einen oder anderen osteuropäischen Land birgt Spaltungskräfte.
Prof. Dr.-Ing. Manfred Fischedick
Wuppertal Institut

Auf der anderen Seite wird der mangelnde Zusammenhalt in der EU von 41 Prozent der in der Studie Befragten kritisiert.

Lorentz: Die Brexit-Verhandlungen haben gezeigt, dass die Union schon gut zusammengestanden ist, als es wirklich hart kam. Die Unternehmen sehen den mangelnden Zusammenhalt zwar als Problem, aber nicht mehr als ein ganz so großes wie noch 2019. Eine Herausforderung wird es aber ganz klar bleiben. Die EU sollte in der Lage sein, eine gemeinsame Stimme zu artikulieren, um dann eben auch Gewicht zu haben und Einfluss nehmen zu können auf globale Entwicklungen.

Der Green Deal ist hier ein gutes Beispiel. Da gibt es ja auch sehr kontroverse Positionen zwischen einigen Ländern, aber nichtsdestotrotz ist es gelungen, eine Richtung zu implementieren und Fortschritte zu erzielen.

Fischedick: Die EU ist in der Lage gemeinsame Positionen zu beziehen, wenn es gelingt den Mehrwert für alle Mitgliedstaaten deutlich zu machen. Aber machen wir uns nichts vor, die fehlende Rechtsstaatlichkeit in verschiedenen osteuropäischen Ländern birgt schon Spaltungskräfte, die zukünftige gemeinsame Lösungen deutlich erschweren können.

Die Sorge um den Brexit besteht mittlerweile kaum noch. Woran liegt das?

Fischedick: Meine platte Interpretation: Die Unternehmen sind der Spekulationen überdrüssig, was die Briten wohl machen. Der befürchtete Domino-Effekt, bei dem sich auch noch andere Länder verabschieden, hat nicht eingesetzt. Das schweißt die EU ein Stück weit zusammen. 

Exit für den Brexit

8 %

zählen den Brexit noch zu den drei größten Herausforderungen der EU.

Trotz der Corona-Krise bleibt eine deutlich positive Grundstimmung bestehen. Was ist jetzt wichtig, um diese aufrechtzuerhalten?

Fischedick: 22 Prozent haben angegeben, die Wachstumschancen werden sich eher verbessern als verschlechtern, 60 Prozent denken, Corona werde nichts ändern. Das finde ich sehr erstaunlich und zugleich erfreulich. Jetzt ist es unbedingt notwendig, den Ankündigungen Taten folgen zu lassen, sowohl auf europäischer als auch nationaler Ebene. Die Strategiepapiere und Aktionspläne zum Green Deal müssen im nächsten und übernächsten Jahr konkret umgesetzt werden in Initiativen und Gesetzgebungsvorhaben. Das hat sich die EU auch ins Stammbuch geschrieben. Nicht weniger als 80 Initiativen und mehr als 40 Gesetzesvorhaben sollen in 2021 konkret angeschoben werden. Wenn das passiert, bleibt diese positive Dynamik erhalten. 

Wir brauchen einen deutlich massiveren Ausbau der erneuerbaren Energien. Da hat es auf Bundesebene nicht wirklich einen ausreichenden Schub in die richtige Richtung gegeben.
Prof. Dr.-Ing. Manfred Fischedick, Wuppertal Institut
Wuppertal Institut

Die Unternehmen fordern diese Kontinuität inzwischen selbst von der Politik ein...

Fischedick: Wir brauchen einen deutlich massiveren Ausbau der erneuerbaren Energien. Da hat es auf Bundesebene nicht wirklich einen ausreichenden Schub in die richtige Richtung gegeben. Diese Forderungen werden von den unterschiedlichsten Akteuren gestellt, das ist spannend und wichtig zugleich. Jetzt sind es ausgerechnet die großen, energieintensiven Unternehmen, die unglaublich viel Druck auf die Politik ausüben. Das wäre vor drei Jahren undenkbar gewesen. Mit der Stahlindustrie konkret über wasserstoffbasierte Stahlerzeugung zu diskutieren, ist vor einigen Jahren noch nicht möglich gewesen. Heute hat sie konkrete Investitionspläne für die Umsetzung.

Lorentz: Dieser Wandlungsprozess, dieses Umdenken in den Köpfen der strategischen Planer und der Führungsetagen, das ist eine ganz fundamentale und bemerkenswerte Erkenntnis aus dieser Studie. Um den Bogen zur Eingangsfrage zu schlagen, ob Unternehmen vorrangig opportunistisch reagieren und sich von Regulierungen schubsen lassen oder am Ende auch Verantwortung übernehmen: Unternehmen sind das Ergebnis von Entscheidungen von Individuen, von Mitgliedern unserer Gesellschaft. So, wie sich die Gesellschaft insgesamt verantwortungsvoll verhält und auch weiterentwickelt in eine gute Richtung, tun das die Unternehmen auch.

Fazit

Zur Zeit der Befragung im August und September war die Grundstimmung in deutschen Unternehmen trotz COVID-19 zuversichtlich. Damit das so bleibt, sollte von der EU-Politik vor allem im Bereich Klimaschutz jetzt die Handlungsfähigkeit initiiert werden, die Unternehmen brauchen und einfordern. Prof. Dr.-Ing. Manfred Fischedick vom Wuppertal Institut und Prof. Dr. Bernhard Lorentz erörtern im Interview die Ergebnisse der Studie und betrachten die Sicht deutscher Unternehmen auf Europa.