6 Minuten Lesezeit 7 September 2021
Blick aus dem Himmel auf den Kreisverkehr

Warum die Automobilbranche mehr Kreislaufwirtschaft braucht

Von Constantin Gall

Managing Partner Strategy and Transactions

Hat jahrzehntelange Erfahrung in der Strategie- und Transaktionsberatung sowie in der Automobilbranche. Ist auch privat ein Autoenthusiast und geht gerne mit Familie und Freunden auf Reisen.

6 Minuten Lesezeit 7 September 2021

Der Umstieg auf Elektromobilität ist in vollem Gange. Doch ohne gleichzeitigen Einstieg in die Circular Economy wird die Automobilindustrie ihre Klimaziele nicht erreichen.

Überblick
  • Beim E-Auto kommen Emissionen vermehrt aus der Herstellung. Solange nicht CO2-frei produziert wird, entstehen bei der Herstellung eines Elektroautos im Vergleich zum Verbrenner etwa doppelt so hohe Emissionen.
  • Die Pariser Klimaziele kann die Branche daher nur erreichen, wenn Autos in geschlossenen Stoffkreisläufen hergestellt werden. Die Kreislaufwirtschaft entkoppelt Wirtschaftswachstum vom Ressourcenverbrauch und ermöglicht neue Ertragsmodelle für Zulieferer, Hersteller und Verwerter.

Zuletzt haben sich die Hersteller ein Wettrennen geliefert, um vor den Konkurrenten das Ende des Verbrenners zu verkünden: Mehrere Unternehmen aus der Automobilindustrie haben ihre Ausstiegspläne gleich mit konkreten Daten versehen. In der Europäischen Union ist das Aus von Benziner und Diesel auch politisch besiegelt. Die Umstellung auf emissionsfreie Antriebstechnologien ist in vollem Gange, schneller, als viele das erwartet haben.

Doch das Elektroauto hat ein Problem: Die CO2-Emissionen in der Produktion sind deutlich höher als beim konventionellen Verbrenner. Das liegt vor allem an der energieintensiven Batterieherstellung, die etwa 50 Prozent der Emissionen in der Produktion ausmacht. Durch Energiesparen und die fortschreitende Umstellung auf erneuerbare Energien allein lässt sich der Lebenszyklus von Elektrofahrzeugen nicht ausreichend dekarbonisieren.

Laut der Ellen MacArthur Foundation entstehen derzeit 55 Prozent der Emissionen durch die Verbrennung von Energie und 45 Prozent durch die Herstellung von Produkten. Um die Emissionen aus der Produktion zu verringern, brauchen wir neue, zirkuläre Geschäftsmodelle für Mobilität. Über den Nachhaltigkeitsaspekt hinaus kann die Entwicklung von Elektromobilität und parallel dazu der Umstieg auf eine Circular Economy die Art und Weise revolutionieren, wie Autos hergestellt und genutzt werden.

Stahlproduktion

60 %

der Treibhausgasemissionen aus der Stahlherstellung lassen sich mit Circular Economy reduzieren.

Die Kreislaufwirtschaft steht vor dem Durchbruch

In der Kreislaufwirtschaft werden Rohstoffe und Waren so entworfen, gebaut, repariert und wiederverwendet, dass möglichst kein Abfall im herkömmlichen Sinne mehr anfällt, sondern die Rohstoffe innerhalb eines geschlossenen Kreislaufs bleiben. Am Ende seines Lebens soll das Auto nicht Schrott, sondern „Materialbank“ für neue Fahrzeuge sein. Ansätze dafür gibt es schon lange. So verwertet die Industrie Produktionsabfälle und setzt Recyclingmaterial ein. Doch Kreislaufwirtschaft als Gesamtsystem galt bislang eher als theoretisches Konstrukt.

Neue Technologien wie Smart Contracts, basierend auf Blockchains, können die Kreislaufwirtschaft zur Realität werden lassen. Sie macht Kooperationen mit Lieferanten, Entsorgern, Dienstleistern und neuen Playern so einfach, dass sich ein transparentes, zirkuläres Ökosystem aufbauen lässt. So können engere und dauerhaftere Bindungen zwischen Partnern entstehen. Die vierte industrielle Revolution könnte den Grundsatz kippen, dass die Produktion von Waren immer auch zur Produktion von Abfall führt. Jedes Einzelteil wird mit einem digitalen Produktausweis nachverfolgbar. So wird das althergebrachte Konzept des „take – make – waste“ ersetzt durch „rethink – reuse – recycle“.

Unsere Berechnungen zeigen, dass zirkuläre Ansätze bis 2050 zwischen 40 und 60 Prozent zur Dekarbonisierung beitragen können.
Constantin M. Gall
Managing Partner Strategy and Transactions

Wachstum ohne Ressourcenverbrauch kann die Zerstörung der Umwelt stoppen, ohne dass die Wirtschaft darunter leidet. Auch andere Stakeholder unterstützen das: Investoren fordern immer deutlicher nachhaltige Konzepte und Strategien langfristiger Wertschöpfung, die Anforderungen an das Reporting steigen. Und bei den Kunden wird der Wunsch nach grüner Mobilität immer größer.

Bei Automobilexperten und Führungskräften aus der Branche steht das Thema daher weit oben auf der Prioritätenliste. Unsere Berechnungen zeigen, dass zirkuläre Ansätze bis 2050 zwischen 40 und 60 Prozent zur Dekarbonisierung beitragen können. So würden beispielsweise Reuse-, Refurbish- und Recyclingprozesse allein beim Stahl in den kommenden zwei Jahrzehnten 50 bis 60 Prozent der Emissionen reduzieren, bis ausreichend grüner Stahl zur Verfügung steht. Die Automobilbranche könnte hier zum Vorreiter und Modell für die globale Wirtschaft werden.

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Automobilbranche als Vorreiter

Wichtige Player haben das bereits erkannt. Ein französischer Autobauer etwa hat sein Montagewerk am historischen Standort Flins bei Paris in eine „Re-Factory“ umgebaut: 45.000 Fahrzeuge im Jahr können dort für den Second-Hand-Markt wiederaufgearbeitet werden. Die Fabrik soll 2030 eine negative CO2-Bilanz haben. Mazda stellt in Japan Stoßfänger mit Kunststoff aus alten Stoßfängern her. Und viele andere arbeiten an neuen Materialien, die sich besser wiederverwenden lassen. Der CEO eines deutschen Premiumherstellers rechnet damit, dass Fahrzeuge schon 2030 „zu 100 Prozent recyclingfähig“ sein werden – und die Fertigung CO2-neutral.

Bei vielen Rohstoffen kann Circular Economy die Dekarbonisierung entscheidend voranbringen. Es wird für Automobilhersteller zum Beispiel schwierig sein, Stahl aus China zu dekarbonisieren, wo Kohle weiter den Energiemix dominiert. Die Verlängerung des Lebenszyklus von Produkten und Komponenten sowie das Stahlrecycling sind neben grünem Stahl daher ein zentraler Hebel für die Dekarbonisierung. Allerdings besteht hier noch das Problem, dass in einem Karosserieteil viele verschiedene Stahlsorten stecken, die noch nicht sortenrein weiterverwendet werden können.

Schneller als der Gesetzgeber

Wer Metalle, Kunststoffe und Batterien recycelt, ist weniger von schwankenden Weltmarktpreisen, instabilen Förderländern und anfälligen Lieferketten abhängig. Die Corona-Krise hat gezeigt, wie eine Unterbrechung in der globalen Lieferkette, zum Beispiel beim Stahl, die Produktion stilllegen kann. Viele Automobilhersteller haben daraufhin ihre globalen Verflechtungen neu gedacht. Glokalisierung  ist als neuer Trend daraus entstanden: Woher ein Material kommt, ist nicht mehr die entscheidende Frage. Vielmehr zählt, wie es ökologisch sinnvoll wiedereingesetzt wird.

Hier wird in Zukunft auch die Regulierung greifen: In Europa, Nordamerika und Asien gibt es erste Gesetze, die zirkuläre Prinzipien vorschreiben. Viele Unternehmen wollen das nicht abwarten. Ein großer deutscher Autobauer testet seit einigen Monaten in einer Pilotanlage in Salzgitter das Recycling von Fahrzeugbatterien. Alte Zellen werden dort zu Granulat zerrieben. Die Ausbeute aus einem 400-Kilo-Akku ist beträchtlich: 8 Kilo Lithium, 22 Kilo Kupfer und 126 Kilo Aluminium. Noch gibt es nicht genügend ausgemusterte Akkus, damit sich ein industrialisiertes Recycling lohnt. Für die Zukunft plant der Hersteller aber mit einer Wiederverwendungsquote von über 90 Prozent. Schließlich sind recycelte Batterierohstoffe so leistungsfähig wie neue, sagt das Unternehmen.

Besonders interessant wird die Kreislaufwirtschaft im Zusammenspiel mit neuen Eigentumsmodellen, bei denen nicht mehr das Auto als Produkt, sondern die Mobilität als Dienstleistung verkauft wird.
Constantin M. Gall
Managing Partner Strategy and Transactions

Auch der CO2-Grenzausgleich, den die EU für Importe einführen will, wird die Lieferketten für die energieintensiven Batteriezellen verändern. Er könnte zum einen dazu führen, dass die Fertigung in Europa mit einem grüneren Energiemix attraktiver wird; zum anderen werden wohl ein Second Life als stationärer Speicher sowie die Wiederaufarbeitung und das Recycling ausgedienter Batterien von der europäischen Grenzabgabe profitieren. Zusätzlich könnte eine Zusammenarbeit der Hersteller schon in der Designphase helfen, mit einheitlichen Standards das Recycling für die gesamte Branche lukrativer zu machen.

Einfacher, nachhaltiger und günstiger

Besonders interessant wird die Kreislaufwirtschaft im Zusammenspiel mit neuen Eigentumsmodellen, bei denen nicht mehr das Auto als Produkt, sondern die Mobilität als Dienstleistung verkauft wird. Denkbar sind zum Beispiel Tauschmodelle. In China gibt es bereits Akkutauschstationen, die in drei Minuten eine leere Batterie im Auto gegen eine geladene tauschen. Auch könnte die Batterie nach einer festgelegten Anzahl Ladevorgängen oder Kilometer an den Hersteller zurückgehen. Wenn Produzenten den Stahl, die Batterie oder die Reifen nach der Nutzung wiederbekommen, wird es für sie interessanter, ihre Produkte haltbar, wiederverwendbar und leicht recycelbar zu konzipieren. 

Preis der Dekarbonisierung

97 %

der Materialemissionen aus der Produktion lassen sich ohne zusätzliche Kosten einsparen.

Noch setzen sich modular konzipierte und besonders haltbare Komponenten im Produktdesign nicht durch, weil sie zum Beispiel teurer sind. In Zukunft könnten Wiederaufbereitung, Wiederverwendung und Recycling den Herstellungsprozess aber einfacher, nachhaltiger und zugleich auch günstiger machen. Laut einer Studie des Weltwirtschaftsforums lassen sich beim Elektroauto 59 Prozent der Materialemissionen aus der Produktion so einsparen, dass auch die Kosten sinken. 97 Prozent der Emissionen lassen sich zumindest ohne zusätzliche Kosten einsparen.

Durchlässigkeit zwischen Geschäftsmodellen

Neue zirkuläre Geschäftsmodelle setzen darauf, Fahrzeuge möglichst effizient einzusetzen und die Nutzung zu maximieren. Viele Hersteller bereiten sich darauf vor, Dienstleister rund ums Auto zu werden, mit neuen Auslieferungs- und Rücknahmesystemen und Plattformen rund um Carsharing, Flotten und Abo-Fahrzeuge. Solche Modelle sorgen dafür, dass pro Fahrzeug mehr Passagierkilometer möglich sind als heute, wo private Pkw 95 Prozent ihrer Lebenszeit am Straßenrand oder in der Garage stehen.

Noch bringt „Mobility as a Service“ oft mehr Probleme und bürokratischen Aufwand als Profit. Digitale Tools werden aber auch dieses Geschäft für Kunden und Unternehmen bald einfacher, günstiger und flexibler machen. Sie können eine völlig neue Durchlässigkeit zwischen den Geschäftsmodellen schaffen, verwaltet und abgerechnet über die Blockchain: Ein Auto kann an einem Tag als Mietwagen unterwegs sein, am nächsten Tag Teil einer Taxiflotte sein, bevor es dann im Carsharing-Pool fährt. Modulares Design macht Add-ons auf Knopfdruck wie zum Beispiel ein zuschaltbares Navi oder mehr PS möglich. Einzelne Features werden sich zukünftig austauschen und erneuern lassen.

Eine Horrorvision für die Branche?

Auch neue Dienstleister können von diesen zirkulären Ertragsmodellen profitieren. Für Werkstätten bietet Predictive Maintenance die Möglichkeit, mit einer optimierten Wartung Ressourcen zu schonen. Die Wiederaufbereitung von Gebrauchtfahrzeugen wird ein neues Geschäftsfeld, ebenso die Aufarbeitung gebrauchter Teile. Hier sind noch einige rechtliche Fragen offen: Wem gehört wann was? Wer haftet bei Problemen? Und wann ist ein voller Mehrwertsteuersatz bei wiederaufbereiteten Teilen oder Fahrzeugen überhaupt noch gerechtfertigt? 

Im Endeffekt werden diese zirkulären Geschäftsmodelle dafür sorgen, dass mehr Leute mit weniger Autos unterwegs sind. Ist das nicht eine Horrorvision für eine Branche, die sich bisher durch ihre Absatzzahlen definiert? Die Entwicklung des Autos vom individuellen Statussymbol zum klimaneutralen Mobilitätsdienstleister birgt durchaus Risiken für die Branche. Doch wer mutig ist, kann auch gewinnen: Die Kreislaufwirtschaft macht viele Aspekte sicherer plan- und steuerbar. Außerdem werden Fahrzeuge in Sharing-Flotten häufiger ersetzt als im Privatbesitz. Und nicht zuletzt hat Mobilität weltweit betrachtet ein enormes Wachstum vor sich.

Fazit

Für die Automobilindustrie führt an der Kreislaufwirtschaft kein Weg vorbei. Um die Klimaziele zu erreichen, muss sie die CO2-Emissionen in der Lieferkette senken – mit weniger Abfall, mehr Reparaturen und ausgeklügeltem Recycling. Eine ganzheitliche Betrachtung und die Kooperation aller Beteiligten in der Lieferkette schaffen langfristigen Nutzen für die Stakeholder. Kreislaufwirtschaft kann die Branche ähnlich revolutionieren wie einst Henry Fords Fließband. Unternehmen, die sich jetzt dieser Herausforderung stellen, können in den kommenden Jahren spannende neue Perspektiven und innovative Ertragsmodelle entdecken.

Über diesen Artikel

Von Constantin Gall

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Hat jahrzehntelange Erfahrung in der Strategie- und Transaktionsberatung sowie in der Automobilbranche. Ist auch privat ein Autoenthusiast und geht gerne mit Familie und Freunden auf Reisen.