5 Minuten Lesezeit 9 Juni 2022
Segelboot segelt bei Sonnenuntergang dem Horizont entgegen

„Mehr Kapital, höhere Investitionen, breite Streuung – Biotech wächst“

Das Zutrauen in die deutsche Biotechnologie hält in der Post-Pandemie-Ära an. Die erhoffte Verbesserung der Rahmenbedingungen für den Investitionsstandort Deutschland ist allerdings ausgeblieben.

Überblick

  • Im Fokus von Investoren rückt der Gesundheitssektor an zweite Stelle. Auch an Biotechnologie als Asset-Klasse besteht ein höheres Interesse.
  • Das Investitionsvolumen ist gegenüber 2020 zwar wieder gesunken, bleibt aber das zweithöchste und richtet sich deutlich weniger auf COVID-19. 
  • Entgegen dem weltweiten Trend zu mehr partnerschaftlichen Allianzen gab es in Deutschland in diesem Bereich einen Einbruch.

Erfolgreiche Investitionen bedeuten Fortschritt und der Fortschritt in der Biotechnologie wiederum Antworten auf existenzielle Fragen zu Gesundheit, Ernährung und Umweltschutz. Der „Deutsche Biotechnologie-Report 2022“ von EY zeigt, dass mehr Geld breiter verteilt in die Branche fließt. Warum dennoch mehr drin sein könnte, erklärt Dr. Alexander W. Nuyken, Leiter des Sektors Life Sciences im Bereich Strategy and Transactions.

EY: Herr Dr. Nuyken, angeschoben von der Pandemie stand die Biotechnologie laut Report 2021 am „Tipping Point“, am Wendepunkt. Hat sie den ein Jahr danach erfolgreich genommen oder wurde daraus eher ein Wendehammer? 

Alexander W. Nuyken: Die Biotech-Industrie selbst hat das Momentum genutzt und sich vom Thema COVID-19 losgelöst. Die Aufbringung von Kapital und die Entwicklung der Branche sind inzwischen auf breitere Füße gestellt. Das ist die wirklich gute Nachricht.

Hinter der „wirklich guten Nachricht“ steckt mit 2,43 Milliarden Euro zwar noch das zweitstärkste Kapitaljahr, aber doch mehr als eine halbe Milliarde weniger als 2020 mit 3,1 Milliarden Euro. Auch der Anstieg von M&A geht zurück. Worin sehen Sie die Wende zum Besseren?

Das Interesse auf Investorenseite ist gestiegen, damit steht mehr Geld zur Verfügung. Es wurden teilweise hervorragende Returns erzielt, das Umfeld von Life Scienes, Biopharma und Biotech hat sich als resilient erwiesen. Die Zahl der Transaktionen von Venture Capital Funds mit 50 bis 100 Millionen Euro oder mehr ist deutlich gestiegen. Früher war ein einzelner Deal über 50 Millionen Euro noch eine Schlagzeile.

Und die Investitionen zielen nicht mehr hauptsächlich auf COVID-19 …

Genau deswegen bin ich optimistisch: Wir sehen mehr Investitionen in der Breite der Therapiegebiete. 2020 wanderte mehr als die Hälfte der 3 Milliarden Euro Richtung COVID-19, vergangenes Jahr waren es nur noch 18 Prozent. Die 2,4 Milliarden Euro im Jahr 2021 sind vielleicht erst mal als Rückschritt gegenüber dem Vorjahr zu werten, ohne die COVID-19-bezogenen Investments stellt sich das Bild jedoch genau umgekehrt dar: Der Wachstumstrend besteht um COVID-19 bereinigt ganz klar fort. Der Zugewinn geht in neue Modalitäten wie Zell-, Gen- und RNA-Therapie, die zunehmend an Bedeutung gewinnen.

Es wurde massiv Geld versenkt, darum hat sich das IPO-Fenster fürs Erste geschlossen. Nun muss sich der Markt erst mal wieder stabilisieren und Erfolge aufweisen.

Die Finanzierungsrunden werden größer, aber nicht mehr – warum?

Die VC-Fonds haben erheblich mehr Kapital zur Verfügung, wollen aber deswegen nicht mehr Deals machen. Deren Zeit für das Management der Investments hat sich ja nicht gleichzeitig mit dem Kapital erhöht, daher verteilen sie das Geld auf größere Pakete, statt sich im Kleinen zu verlieren. Das gibt den Unternehmen wiederum mehr Spielraum. Sie können das Unternehmen weiterentwickeln, statt ständig im Fundraising-Modus zu lavieren. Das sind positive Trends, die aus den letzten ein, zwei Jahren resultieren.

Sailboat sailing towards the horizon at sunset

Download: Deutscher Biotechnologie-Report 2022

Auch wenn COVID-19 noch lange nicht vom Tisch ist, sind wir aus der Perspektive der Biotech-Branche in Deutschland bereits in der Post COVID-19-Ära angekommen. Das belegen die Kennzahlen zur Finanzierung.

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Der lange Atem, den Investoren bei Biotechnologie brauchen, ging an der Börse teilweise in Schnappatmung über …

2021 war das stärkste IPO-Jahr weltweit seit 2000. Allein 124 Biotech-Unternehmen wagten den Börsengang, vier davon aus Deutschland. Am größten Kapitalmarkt, in den USA, konnten jedoch einige die Erwartungen nicht erfüllen und bekamen eine deutlich niedrige Bewertung als der Ausgabepreis. Da wurde massiv Geld versenkt. Darum hat sich das IPO-Fenster fürs Erste geschlossen. Vor einer überzogenen Erwartungshaltung haben wir grundsätzlich immer gewarnt. Investoren in Biotech brauchen weiterhin einen langen Atem und starke Nerven. Nun muss sich der Markt erst mal wieder stabilisieren und Erfolge aufweisen. 

Gleichzeitig nimmt auch der Appetit auf M&A ab, wohingegen sich Partnering-Modelle als globaler Trend herausbilden und ein Rekordhoch erreichen. Welche Vorteile bieten sie?

Der Kapitalmarkt ist momentan nicht besonders günstig, die Prämien für M&A sind relativ hoch und Unternehmen haben Bedenken, zu viel zu bezahlen. Sie sind daher hinsichtlich M&A vorsichtiger, denn im Trend geht eher Geld verloren. Über Partnerschaften hingegen erhält die Pharma-Industrie das, was sie braucht – ohne Akquisitionsprämien zu zahlen und ohne das Risiko einer missglückten Integration. Sie kauft die Lizenz, ein Produkt im Markt zu vertreiben, und bringt dafür ihre Fähigkeiten in Regulatorik, Marketing und Sales ein. 

So beteiligt sich die Industrie an den Kosten, übernimmt aber nicht wie bei M&A den vollen Preis für ein Produkt, das womöglich nie den Markt erreicht. Dies ist eine erheblich bessere Risikostreuung. Dazu sind die Erfolge beim Partnering gegenüber M&A insgesamt größer, der Return höher – und zwar um knapp 30 Prozent. Das analysiert auch unser Firepower-Report in seiner letzten Ausgabe.

Die Bundespolitik hätte die Rahmenbedingungen weiter stärken können, aber das ist nicht passiert. Unsere Rechtsformen wie GmbH oder AG enthalten zum Beispiel Vorgaben, die an dem Bedarf von Biotechs vorbeigehen.

In Deutschland überwogen 2021 die Mergers & Acquisitions, Transaktionen nahmen um 17 Prozent zu, Partnering setzt sich hier noch nicht in dem Maße durch. Woran liegt das?

In der Tat läuft diese deutsche Entwicklung gegen den globalen Trend. Ich betrachte das eher als ein Mikroklima. Über kurz oder lang werden wir die gleiche Richtung einschlagen. 

M&A, Partnering und IPO hängen miteinander zusammen. Schließen sich bei einem die Türen, wird das andere attraktiver. Möchte ein Unternehmen einen Exit abschließen, schlägt auch das Pharma-Unternehmen zu, das eigentlich lieber verpartnert. Es ist eine Frage der Dynamik und des Zugangs zum Produkt. Am Ende geht es auch darum, wer am längeren Hebel sitzt. 

Der längste Hebel ist bei allen guten Entwicklungen allerdings im Wendehammer stecken geblieben, oder?

Ja, die Bundespolitik hätte die Rahmenbedingungen weiter stärken können, aber das ist nicht passiert. Unsere Rechtsformen wie GmbH oder AG enthalten zum Beispiel Vorgaben, die an der Lebenswirklichkeit von Biotechs vorbeigehen. 

Insgesamt sind wir daher in Anbetracht der sich nach 2020 bietenden Chancen unter unserem Potenzial geblieben, Deutschland als Biotech-Standort voranzubringen und den Boom fester als Chance zu ergreifen. 

Dies ist der letzte Biotechnologie-Report 2022, den Sie bei EY verantworten. Den Life Sciences bleiben Sie erhalten?

In anderen Branchen wechseln Menschen eher schneller, bei den Life Sciences lebt man viel vom und für den Purpose. Krankheiten besiegen, Menschen zu einem gesünderen Leben verhelfen, Bedingungen für Patienten verbessern – das ist im Grunde eine Mission, an der die meisten, die ich kenne, mit ganzem Herzen und voller Überzeugung arbeiten, ich auch. Insofern: ja.

Fazit

Die Zeichen standen auf Boom: COVID-19 verlieh der Biotechnologie erhebliche Schubkraft und damit ein Momentum, diese Voraussetzungen zukunftsweisend zu steuern. Die Branche hat dies für sich genutzt und profitiert vom Anstieg an Interesse und Kapital. Das löst jedoch nicht den Knoten, um Deutschland zu einem attraktiveren Biotech-Standort zu machen.