6 Minuten Lesezeit 27 Juni 2019
Kräne beladen Containerschiff

Wie Europas Großkonzerne Verkäufe vorantreiben

Die EY Global Corporate Divestment Study zeigt, dass der europäische Markt in Bewegung ist und Unternehmen sich zunehmend umstrukturieren.

Vision 2020+, Agilität, Innovationsdrang, Digitalisierung: Mit solchen Schlagworten kündigen Europas Unternehmen heute Abspaltungen und Umstrukturierungen an. Und sie verdeutlichen vor allem eine zukunftsorientierte Unternehmenskultur. Dafür wird immer stärker an traditionellen Konzernstrukturen und Geschäftsmodellen gerüttelt. Bisher breit aufgestellte Marken leiten durch Verkäufe ganzer Sparten den Abschied vom traditionellen Mischkonzern ein. Ein deutscher Automobilkonzern trennt sich erstmals seit Jahren von Teilen und plant den Börsengang seiner Lkw-Sparte. Auch in der Chemie- und Pharmabranche prüfen Konzernchefs Verkaufsoptionen und ordnen ihre Portfolios neu.

Unsere aktuelle Studie zu Unternehmensveräußerungen in Europa (EY Global Corporate Divestment Study 2019) untermauert die rasante Entwicklung: 84 Prozent der befragten Unternehmen beabsichtigen, Unternehmensteile zu veräußern – in den nächsten zwei Jahren. Für die EY-Studie wurden von September bis November 2018 weltweit 1.030 Führungskräfte befragt, 322 davon aus Europa. Die zentrale Erkenntnis: Die Konzentration auf das Kerngeschäft ist das Gebot der Stunde. Um weiter zu wachsen, stoßen Unternehmen Randsparten im Sinne einer klassischen Portfoliobereinigung zunehmend ab.

Veräußerungspläne

84 %

der befragten Unternehmen wollen in den nächsten zwei Jahren Unternehmensteile verkaufen.

Damit entstehen nicht nur neue Strukturen, sondern vor allem ändert sich die Denkweise in den Führungsetagen und auch bei Investoren und Anlegern. Konglomerate gelten zunehmend als schwerfällig: CEOs empfinden Größe als träge und bemängeln, dass schnelles Handeln oder Marktanpassungen schlichtweg ausgebremst werden. Ein schlankeres Betriebsmodell wiederum gibt den Geschäften mehr Eigenständigkeit, schärft den Fokus und begünstigt neue Investitionen.

Unternehmensveräußerungen entwickeln sich für europäische Unternehmen vor allem zum effektiven Mittel, um ihre Wettbewerbsfähigkeit zu stärken und Transformationspläne umzusetzen. So erklärten 79 Prozent der befragten Unternehmen, dass die in den nächsten zwölf Monaten geplanten Desinvestitionen Teil ihrer Strategie zur Verschlankung des Betriebsmodells sind.

Weltpolitik dominiert Entscheidungen in Führungsetagen

Doch nicht nur Wettbewerbsfähigkeit und das Streben nach mehr Flexibilität treiben den Trend an. Geopolitische Unsicherheiten bleiben ebenfalls im Blickfeld der befragten Unternehmer – wenngleich sie nicht mehr die zentrale Rolle wie in den Vorjahren einnehmen. Zölle, schwelende Handelskonflikte, Grenzkontrollen und mögliche Konsequenzen des Brexit bestimmen nach wie vor die Nachrichten. Direkte Auswirkungen solcher Risiken auf das Wirtschaftsklima sind zwar oft nicht sofort spürbar, müssen in den Führungsetagen aber mit Weitblick einkalkuliert werden. Denn Währungsschwankungen oder die mögliche Abschottung wichtiger Märkte vom Freihandel stellen langfristig Standorte und Geschäftsfelder in Frage.

Auch veränderte Kundenwünsche können zu Schwerpunktverlagerungen führen. Beispielsweise konzentrieren sich europäische Lebensmittelkonzerne aktuell stärker auf Produkte wie Kaffee oder vegetarische Produkte, weil diese ein höheres Wachstum versprechen.

Digitalisierung ist der Motor

Die stärkste Kraft im Transformationsprozess ist die Digitalisierung. 74 Prozent der europäischen Unternehmen erklärten, dass die Digitalisierung direkten Einfluss auf ihre Veräußerungspläne hat. 81 Prozent gehen davon aus, dass die Zahl der technologiebegründeten Desinvestitionen in den kommenden zwölf Monaten zunehmen wird. Das ist ein Anstieg von knapp 20 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. 40 Prozent der Befragten planen, Investitionen in neue Technologien durch Veräußerungen zu finanzieren.

„Weniger reden, mehr ausprobieren“ wird immer häufiger zum Credo der befragten europäischen Unternehmen.

Mut zu Innovation bedeutet auch Mut zu Veränderungen. „Weniger reden, mehr ausprobieren“ wird immer häufiger zum Credo der befragten europäischen Unternehmen. Vorreiter ist hierbei die Automobilindustrie: Sie wird aktuell durch revolutionäre Entwicklungen wie autonome Fahrzeuge, Künstliche Intelligenz (KI) in der Produktion und vorausschauende Wartung komplett neu definiert. Auch Märkte für zukünftige Technologien wie Nanotechnologie, Biotechnologie oder Mikro- und Makroelektronik sind besonders wachstumsstark.

Abspaltungen als Kickstarter

Kleinere Strukturen lassen sich besser vernetzen und stecken weniger stark in hierarchischen Abläufen fest. Agile Organisationen reagieren schlichtweg flexibler auf Veränderungen. Vor allem geht es aber darum, das Portfolio proaktiv zu optimieren. Wer statisch bleibt oder sich auf Erfolgen ausruht, wird sehr wahrscheinlich den Anschluss verlieren. CEOs und Geschäftsführer sollten sich daher immer fragen:

  • Welche Aktionen stärken die Wettbewerbsposition?
  • Welche Sparte verspricht ein erfolgreiches Abschneiden im Markt?

Für Europas Führungskräfte haben Veräußerungen vor allem strategische Gründe. Dazu passt auch, dass mittlerweile 61 Prozent der Befragten Veräußerungserlöse vorrangig in neue Produkte, Märkte oder Regionen investieren. 58 Prozent reinvestieren sie gar in das Kerngeschäft des Unternehmens. 

Wer sein Portfolio regelmäßig bereinigt, hat direkten Zugriff auf die notwendigen Ressourcen und kann auf neue Trends schnell reagieren.

Aktivitäten abzustoßen gilt heute nicht mehr als Schwäche, sondern als strategische Weitsicht. Denn eine Veräußerung bedeutet nicht, einen „schlechten“ Teil des Unternehmens loszuwerden. Ganz im Gegenteil: Möglicherweise passt er besser in das Portfolio eines anderen Unternehmens – vielleicht auch, weil es sich in einem anderen Land befindet und dort andere Marktbedingungen gelten. Unternehmen merken, wie wichtig die Kräftekonzentration ist. Klare Geschäftsmodelle schaffen Flexibilität. 65 Prozent der Befragten geben an, dass die Verschlankung des Betriebsmodells Antrieb für ihre letzte Desinvestition war. Wer sein Portfolio regelmäßig bereinigt, hat direkten Zugriff auf die notwendigen Ressourcen und kann auf neue Trends schnell reagieren.

Planvoll zum besseren Verkaufspreis

Dass Unternehmen agiler werden müssen, zeigt sich auch beim Weg zur erfolgreichen Veräußerung. Eine gute Vorbereitung ist unerlässlich. Sie fängt immer mit der genauen Definition des Transaktionsumfangs an. Dabei sollten die unterschiedlichen Transaktionsstrukturen gegeneinander abgewogen werden – nur so lässt sich letztendlich eine optimale Wertschöpfung erzielen.

Bei 75 Prozent der europäischen Befragten ist ein Carve-out das bevorzugte Modell. Im Vorjahr tendierten nur 48 Prozent dazu. Interessant ist, dass Teilveräußerungen oder Joint Ventures mit 20 Prozent deutlich zurückgehen. 2018 war dieser Wert mit 46 Prozent mehr als doppelt so hoch. Der Grund hierfür dürfte in möglichen Regulierungs-Problemen liegen, die auftreten können, wenn Unternehmen Partnerschaften mit anderen Unternehmen eingehen.

Für 45 Prozent der Befragten erwies sich die unzureichende Vorbereitung auf regulatorische Anforderungen, Produktstandards und Eigentumsvorschriften als Hindernis für den Erfolg ihrer Veräußerungspläne.

Auffallend ist, wie stark in Europa die Diskrepanz zwischen den Preiserwartungen von Verkäufern und Käufern in Bezug auf den zu veräußernden Vermögenswert auseinanderdriftet.

Eine der größten Herausforderungen ist die Steuerung der Arbeitsabläufe: Für 60 Prozent der Befragten wurde das bereits zur Hürde. Bereiche wie IT sind hochkomplex, gemeinsame rechtliche Einheiten und Shared Services erfordern intensive Aufmerksamkeit. Eine klare Struktur und erfahrene Verantwortliche, die den Prozess von Anfang an überwachen, erleichtern die Transaktion merklich. Dabei ist die Entflechtung komplexer Bereiche ebenso wichtig wie transparente Kommunikationsstrukturen.

Preiserwartung

37 %

der Befragten gaben an, dass ihre Preiserwartung bei der letzten Transaktion nicht erfüllt wurde.

Auffallend ist, wie stark in Europa die Diskrepanz zwischen den Preiserwartungen von Verkäufern und Käufern in Bezug auf den zu veräußernden Vermögenswert auseinanderdriftet. Zwei Drittel der Befragten nannten eine Abweichung von mehr als 20 Prozent zwischen den Erwartungen der Verkäufer und den Angeboten der Käufer. Im Vorjahr sagten dies lediglich 22 Prozent und damit deutlich weniger. Mehr als ein Drittel (37 Prozent) gab an, dass die letzte Transaktion ihre Preiserwartungen nicht erfüllt hat. Im Vorjahr lag die Zahl bei 14 Prozent.

Mehr als die Hälfte der Befragten bereut es im Nachhinein, sich ohne ausreichende Erkenntnisse aus Datenanalysen in die Verhandlungen mit Käufern begeben zu haben.

Dabei helfen die Erkenntnisse aus Datenanalysen äußerst effektiv, Fehler zu vermeiden. In Europa setzen 79 Prozent der Befragten auf Analytics bei ihrer Investitionsentscheidung. Überraschend ist aber: Die Zahl der Befragten, die Analytics nutzen, um ihre Daten einem Stresstest aus Käufersicht zu unterziehen, ist von 70 Prozent im Vorjahr auf 44 Prozent gefallen. Ein Fehler? Offensichtlich, denn mehr als die Hälfte der Befragten gab an, dass sie es im Nachhinein bereuten, sich ohne ausreichende Erkenntnisse aus Datenanalysen in die Verhandlungen mit Käufern begeben zu haben.

Erfolgswerkzeug unabhängiges Betriebsmodell

Auch unabhängige Betriebsmodelle sind Erfolgswerkzeuge. Unternehmen, die frühzeitig die Eigenständigkeit abzuspaltender Gesellschaften planen und die richtigen Weichen stellen, können Wettbewerbsvorteile erringen. Denn Verzögerungen können teuer werden: Das Asset Closing kann sich durch das Versäumnis, eigenständige Unternehmen angemessen mit Kapital zu versorgen und so betriebsbereit zu machen, enorm verschieben. 41 Prozent der europäischen Befragten ist das bereits passiert. Potenzielle Käufer sollten also mit unabhängigen Betriebsmodellen versorgt werden. Flexibilität ist auch hier ausschlaggebend. 57 Prozent der Befragten sagten, dass eine mangelnde Flexibilität in der Verkaufsstruktur den Wert ihrer letzten Desinvestition verringert hat.

Fazit

Die Veränderungen auf dem europäischen Markt geben immer neue, schnellere Impulse. Gerade bei Veräußerungen hat sich viel getan, Methoden wurden verfeinert und verbessert. Vor allem aber wächst bei Unternehmen die Bereitschaft,  Werte durch Veräußerungsprozesse zu schaffen.

Die Aussichten für künftige Transaktionen sind weiterhin glänzend. Eine beträchtliche Zahl der europäischen Befragten geht davon aus, dass die Zahl der strategischen Verkäufe, der unaufgeforderten Angebote und der branchenfremden Käufe zunehmen wird. Wer also aktiv bleibt, sein Betriebsmodell flexibel gestaltet und Vermögenswerte frühzeitig für den Verkauf vorbereitet, kreiert entscheidende Vorteile – und bestimmt das eigene Tempo.