5 Minuten Lesezeit 6 September 2021
Bild der Webcam auf dem Tisch

Warum es Produkt-Compliance-Management zur Risikovermeidung braucht

Von Andreas Pyrcek

EY Global Forensics Integrity, Compliance & Ethics Leader; Global Forensics Sector Leader, Technology, Media & Entertainment and Telecommunications, EY GmbH & Co. KG Wirtschaftsprüfungsgesellschaft | Deutschland

Erfahrener Partner für proaktive Compliance-, Ethik- und Integritätsfragen. Darüber hinaus steht er bei der Reaktion auf Betrug, Bestechung und Korruption weltweit, beratend zur Seite.

5 Minuten Lesezeit 6 September 2021

Die produktbezogene Marktüberwachung in der EU wurde verschärft – ein Überblick zur Rechtslage und Fallstricke für Unternehmen.

Überblick
  • Produktbezogene Trends hin zu mehr Nachhaltigkeit oder Sicherheit werden durch den Konsumenten und vor allem durch zunehmende rechtliche Vorgaben getrieben. 
  • Die Einhaltung dieser Vorgaben soll durch das neue Marktüberwachungsgesetz gestärkt werden. Den Unternehmen werden entsprechende Pflichten auferlegt.
  • Produkt-Compliance-Management entwickelt sich weiter zum essenziellen Faktor, um produktbezogene Haftungsrisiken zu vermeiden. 

Die europäische Rechtsprechung wurde bisher den komplexen Lieferketten des internationalen Onlinehandels nicht gerecht. Daher konnten auch für Mensch und Umwelt schädliche Produkte auf den europäischen Markt gelangen. Brüssel hat darauf mit der EU-Marktüberwachungsverordnung (MÜ-VO) reagiert. Diese soll nun einen angemessenen Schutz der Gesundheit und Sicherheit von Verbrauchern und gleiche Wettbewerbsbedingungen gewährleisten. Die neuen Vorschriftenzielen auf die Verbesserung des Verbraucherschutzes und das Funktionieren des EU-Binnenmarktes mittels Stärkung der Marktüberwachung ab.

Die Hersteller oder Händler von Non-Food-Produkten, die unter die Harmonisierungsrechtsvorschriften der Union im engeren Sinne der MÜ-VO fallen, müssen damit interne Maßnahmen für stärkere Konformitätskontrollen umsetzen. Insbesondere relevant ist die neue Verordnung für Unternehmen, die europäisch harmonisierte Produkte wie kosmetische Mittel, Spielwaren, Schuhe, Elektro- oder Elektronikgeräte, Textilien, Batterien, Verpackungen, Maschinen oder medizinische Produkte herstellen beziehungsweise vertreiben. Hier herrscht Handlungsbedarf. Da infolge der COVID-19-Pandemie, aber auch durch die Globalisierung der Großteil der oben genannten Produkte online vertrieben und zur Verfügung gestellt wird, ist der Onlinehandel von den neuen Regelungen besonders betroffen. 

Was ist neu in der EU-Marktüberwachungsverordnung?

Die MÜ-VO hat die Begriffsbestimmungen „Inverkehrbringen“ und „Wirtschaftsakteure“ angepasst, um die Weiterentwicklung der Wirtschaft aufgrund des vielfältigen Anstiegs des Onlinehandels zu berücksichtigen. Die Definition von Inverkehrbringen wird insoweit erweitert, als nun Produkte bereits als in den Verkehr gebracht gelten, wenn sich das Onlineangebot an einen EU-ansässigen Endverbraucher richtet – auch wenn das nur aus den möglichen Lieferregionen oder Zahlungsarten abgeleitet werden kann. Der Anwendungsbereich ist bezüglich der Wirtschaftsakteure dahin gehend erweitert worden, dass sich neben Herstellern und Importeuren nun auch Akteure der nachgelagerten Lieferkette wie beispielsweise Fulfillment-Dienstleister darin wiederfinden. Das Ziel ist, damit Lücken im Durchsetzungssystem der Marktüberwachungsbehörde zu schließen.

So darf ein Produkt nur in Verkehr gebracht werden, wenn ein in der EU niedergelassener Wirtschaftsakteur für dieses Produkt verantwortlich ist. Hieraus ergeben sich für ihn gemäß Art. 4 Abs. 3a bis d und Abs. 4 folgende Pflichten: 

  • Dokumentationspflicht
  • Informationspflicht
  • Verfügbarkeitspflicht
  • Korrekturpflicht

Mögliche Sanktionen bei Verstößen und wie das Risikomanagement vorbeugen kann

Die EU-Verordnung wurde durch das Marktüberwachungsgesetz (MüG) in deutsches Recht umgesetzt. Die Mitgliedstaaten haben die Sanktionen für Verstöße gegen die Verordnung national festgelegt. Die deutschen Marktüberwachungsbestimmungen gelten für alle Produkte im Anwendungsbereich der Marktüberwachungsverordnung und des Produktsicherheitsgesetzes.

Aufzeichnung unseres letzten digitalen Live-Events – jetzt anschauen:

Grundsätzlich gilt gemäß § 17 Abs. 4 Ordnungswidrigkeitengesetz (OWiG) im Sinne der Sanktionierung, dass die Geldbuße den wirtschaftlichen Vorteil, den der Akteur durch die Pflichtverletzung erlangt hat, übersteigen soll. Um solch einer Sanktionierung vorzubeugen, ergeben sich aus der neuen Rechtslage einige Punkte, die es beim Risikomanagement im Unternehmen zu beachten gilt:

  • Wertschöpfungskette und Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz: Die Marktüberwachungsverordnung beziehungsweise das Marktüberwachungsgesetz zielen auf die produktkonforme Wertschöpfung im Rahmen der Lieferkette ab, jedoch nicht explizit auf das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz (LkSG). Sie schränken dieses auch nicht ein, sodass die Marktüberwachungsregelungen zusätzlich zum Lieferkettengesetz anzuwenden sind.
  • Compliance-Management-Systeme: Aus einer holistischen Perspektive wirken rechtliche Risiken direkt auf die beteiligten Wirtschaftsakteure. Ein allgemeines Compliance-Management-System (CMS) verfolgt den Ansatz, diese Risiken frühzeitig zu identifizieren, zu mitigieren und zu überwachen. Somit rücken produktbezogene Risiken zunehmend in den Fokus von Haftungsfragen. Für betroffene Unternehmen ist zu prüfen, ob die eingesetzten CMS diesem Anspruch und dieser neuen Komplexität gerecht werden.
  • Produkt-Compliance-Management: Produkt-Compliance-Management wird nun für die Wirtschaftsakteure an Bedeutung gewinnen und gegebenenfalls sogar unerlässlich sein. Dies ergibt sich insbesondere durch die grundsätzliche Verantwortung in der Überprüfung der Produkt-Compliance – der Konformität mit allen Produktvorschriften im Absatzmarkt. So liegt die Sicherstellung der technischen Richtigkeit und Rechtskonformität der gehandelten Produkte bei den Importeuren, aber auch bei den Fulfillment-Dienstleistern im europäischen Geltungsraum. Hier sind vor allem spezialisierte und zentralisierte Dienstleister im Blick der Behörden, die mit Herstellern außerhalb der EU kooperieren. Unternehmen müssen im Rahmen ihres Produkt-Compliance-Managements die Produktkonformität überprüfen und bei begründeten Verdachtsfällen für ein bestehendes Risiko dieses der Marktüberwachungsbehörde melden. Ein Produkt-CMS (PCMS) erfüllt dabei nicht nur Aufgaben zur besseren Identifikation, Prävention und Überwachung produktbezogener Risiken, sondern kann auch im Sanktionsfall eine positive Wirkung entfalten. Ein funktionierendes und effektives PCMS kann ein Unternehmen in der Regel vor Haftungsszenarien im Bereich der Fahrlässigkeit und darüber hinaus schützen.
  • Fallstricke und Risiken, die aus der MÜ-VO resultieren: Durch die Einführung der MÜ-VO werden für bestimmte Absatz- beziehungsweise Lieferkettenstrukturen die Markteintrittsbarrieren erhöht.
  • EU-Entry-Option und Fraud: Für Produkte aus dem Nicht-EU-Raum gilt, dass ein Wirtschaftsakteur in der EU ansässig sein muss. Dabei wird die produktbezogene Konformität vom jeweiligen EU-Land überwacht und hat EU-weite Gültigkeit. Im Rahmen der dezentralisierten Marktüberwachung ist hier eine Diskrepanz innerhalb der Mitgliedstaaten der EU unter Berücksichtigung des Corruption Perceptions Index (CPI) hinsichtlich der potenziellen Gefahr für Bestechung und Korruption zu erkennen. Verdeutlicht wird dies auch durch das Global Corruption Barometer (GCB). Da Unternehmen frei in der Wahl ihres Standortes innerhalb der EU-Mitgliedstaaten sind, können sich Gelegenheiten für Korruptions- und Bestechungsversuche von Aufsichts- und Kontrollbehörden ergeben. 

Wirtschaftsakteure sollten über Treu und Glauben hinaus genau überprüfen, dass die vom Hersteller zur Verfügung gestellten Dokumente den Ansprüchen an die Konformitätsbedingungen der EU genügen. Im Rahmen einer Marktüberprüfungsmaßnahme sind die Überwachungsbehörden ermächtigt, dies zu überprüfen; so dient beispielsweise Reverse Engineering als technische Maßnahme zur Überprüfung.

Mögliche Auswirkungen auf die Jahresabschlussprüfung

Im Rahmen der Abschlussprüfung von Wirtschaftsakteuren ist die Berücksichtigung der MÜ-VO – entsprechend dem Geschäftszweck – mit Blick auf die Einhaltung rechtlicher Vorgaben notwendig. Mögliche Verstöße gegen die MÜ-VO haben keinen unmittelbaren Rechnungslegungsbezug, sind jedoch unter Umständen im Prüfungsbericht darzustellen (vgl. § 321 Abs. 1 Satz 3 HGB, IDW PS 300). Das Aufdecken sonstiger Gesetzesverstöße, die nicht zu falschen Angaben in der Rechnungslegung führen, ist nicht Gegenstand der Abschlussprüfung; somit ist eine Ausweitung der Prüfungshandlung zur Aufklärung dieser Verstöße (nach Bekanntwerden) nicht erforderlich (vgl. IDW PS 450).

Ein mittelbarer Rechnungslegungsbezug könnte jedoch über die Bildung von Rückstellungen hergestellt werden. Rückstellungen könnten in verschiedenen Ausprägungen vorhanden sein. Denkbar wären beispielsweise Kulanzrückstellungen, aber auch Rückstellungen für Garantiefälle, ergänzend könnten auch Prozessrückstellungen gebildet werden. Unklar ist bislang, durch welchen Wirtschaftsakteur die Bilanzierung der Rückstellungen zu erfolgen hat – innerhalb oder außerhalb der EU beziehungsweise bei mehreren Akteuren innerhalb der EU.

  • Co-Autor: Matthias Richter, Manager, EY

    Erfahrener Compliance-Experte bei forensischen Untersuchungen und zur Risikoprävention, insbesondere in den Bereichen Korruptionsbekämpfung, Betrugsprävention und Datenschutz.

    Des Weiteren hat er profunde Expertise in der Konzeption und Implementierung von Compliance-Risikobewertungen, Compliance-Programmen und Prozessanpassungen.

    Darüber hinaus bietet er spezifisches Wissen und Beratung im Zusammenhang mit technischer bzw. Produkt-Compliance in der Automobilbranche.

Fazit

Die Marktüberwachungsverordnung (MÜ-VO) zielt vor allem auf eine verbesserte Produktsicherheit für den Verbraucher und auf Fragen der Haftung der involvierten Wirtschaftsakteure ab. Durch die veränderten Rahmenbedingungen in der MÜ-VO ergeben sich neue Pflichten für die Marktteilnehmer – insbesondere für diejenigen, die in der EU ansässig sind. Ein effektives, zielgerichtetes Unternehmens-CMS, vor allem ein Produkt-Compliance-Management-System (PCMS), ist für ein risikoorientiertes Vorgehen unerlässlich. Bestehende Systeme müssen den Ansprüchen der neuen Vorgaben standhalten beziehungsweise adjustiert werden, um produktbezogene Haftungsrisiken zu vermeiden.

Über diesen Artikel

Von Andreas Pyrcek

EY Global Forensics Integrity, Compliance & Ethics Leader; Global Forensics Sector Leader, Technology, Media & Entertainment and Telecommunications, EY GmbH & Co. KG Wirtschaftsprüfungsgesellschaft | Deutschland

Erfahrener Partner für proaktive Compliance-, Ethik- und Integritätsfragen. Darüber hinaus steht er bei der Reaktion auf Betrug, Bestechung und Korruption weltweit, beratend zur Seite.