8 Minuten Lesezeit 10 März 2020
Schornsteine blasen Kohlenstoffdioxid in die Luft

Dekarbonisierung – wie Deutschland klimaneutral werden kann

Die Klimakrise ist da, Politik und Wirtschaft suchen nach einem Ausweg und einem nachhaltigen Wachstumsmodell. Welche Wege führen zum Ziel?

In Australien brennen die Wälder, der Meeresspiegel steigt, der diesjährige Winter ist so warm wie noch nie seit Beginn der Aufzeichnungen. Die Klimakrise ist da. Nicht nur global, auch in Deutschland tritt die Auseinandersetzung mit den Folgen der Erderwärmung in eine entscheidende Phase. Die Aufgabe, vor der Politik und Wirtschaft stehen, ist epochal: die Transformation der Wirtschaft in Richtung Klimaneutralität – umfassend, sozialverträglich und so rasch wie möglich. Dekarbonisierung ist das Gebot der Stunde, Regulierung das politische Instrument, damit der nötige Wandel noch rechtzeitig gelingt.

Für Deutschland als Industrienation stellt dieser Umbruch eine gewaltige Herausforderung dar. Ob Stahlwerke oder Aluminiumhütten, Zementindustrie oder Kohlekraftwerke – im Vergleich zu anderen EU-Staaten produzieren etliche Bereiche der heimischen Industrie energieintensiv, während die Energiewirtschaft selbst noch in großem Stil Kohle verfeuert. Hinzu kommt die starke Abhängigkeit der Automobilindustrie vom Verbrennungsmotor. Umso drängender ist der Wandel der Wirtschaft – er ist politisch alternativlos und völkerrechtlich verpflichtend. 

Klimaschutzplan 2050

70%

weniger Treibhausgasemissionen für das Jahr 2040 (im Vergleich zu 1990) legt die Bundesregierung in ihrem Klimaschutzplan 2050 fest.

Klimaschutzplan setzt langfristiges Ziel

2015 hat sich die Bundesregierung beim Klimagipfel in Paris völkerrechtlich dazu verpflichtet, einen Beitrag dazu zu leisten, die Erderwärmung gegenüber dem vorindustriellen Niveau auf 1,5 Grad Celsius zu begrenzen. In nationalen Gesetzen spiegelt sich diese Zusage noch nicht vollständig wider, doch das Ziel ist klar. Die Bunderegierung verfolgt das langfristige Ziel, die Emissionen bis Mitte des Jahrhunderts um 80 bis 95 Prozent gegenüber 1990 zu reduzieren. Als Zwischenziel gibt der Klimaschutzplan 2050 vor, die Treibhausgasemissionen bis 2020 um 40 Prozent, bis 2030 um 55 Prozent und bis 2040 um 70 Prozent zu senken. Unterfüttert wird dies durch Ziele für die Senkung des Energieverbrauchs, die Steigerung der Energieeffizienz und den Ausbau erneuerbarer Energien.

CO₂-Preis

55 €

So viel soll eine Tonne CO₂ in den Sektoren Verkehr und Gebäude im Jahr 2025 kosten.

Basierend auf diesen Zielen hat die Bundesregierung ein umfassendes Klimapaket (Klimaschutzprogramm 2030) erarbeitet, das in den kommenden Monaten umgesetzt wird. Es sieht unter anderem den Ausstieg aus der Kohleverstromung bis 2038 vor, die energetische Modernisierung von Gebäuden, eine höhere Pendlerpauschale, den Ausbau erneuerbarer Energien, den Einsatz neuer Technologien wie Wasserstoff sowie stärkere Investitionen in Bus und Bahn. Ab 2021 wird auf den Energieverbrauch in Verkehr und Gebäuden ein CO2-Preis von 25 Euro pro Tonne erhoben, der bis 2025 schrittweise auf 55 Euro steigt. 

Deutschland wird über die bisherigen Maßnahmen hinaus Anstrengungen unternehmen müssen, um seine Klimaziele zu erreichen.

Bislang hat Berlin seine Emissionen erst um rund 35 Prozent gesenkt – das Tempo wird sich deutlich erhöhen, damit in den nächsten zehn Jahren die Lücke von 20 Prozentpunkten geschlossen werden kann. Die Internationale Energieagentur (IEA) mahnt in ihrem jüngsten Gutachten, dass sich Deutschland „sehr anstrengen“ müsse, um die Klimaziele zu erreichen.¹ Vor allem im Verkehrs- und Wärmesektor sind noch erhebliche Herausforderungen zu bewältigen.

Druck mit dem Green Deal

Schützenhilfe bekommt die Bundesregierung aus Brüssel. Die Europäische Kommission hat sich vorgenommen, Europa mit dem sogenannten Green Deal bis Mitte des Jahrhunderts zum ersten klimaneutralen Kontinent der Welt zu machen. Das bedeutet nicht weniger als die vollständige Dekarbonisierung – das Ende der Nutzung von Kohle, Öl und Gas. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sprach bei der Vorstellung ihrer Pläne von „Europas Mann-auf-dem-Mond-Moment“. Die Absicht ist es, Investoren mehr Planungssicherheit zu bieten und die Unumkehrbarkeit der Transformation abzusichern. In ihrem Entwurf für ein Klimagesetz² kündigt die Kommission an, das europaweite Klimaziel bis 2030 von bislang 40 Prozent auf dann 50 bis 55 Prozent gegenüber dem Niveau von 1990 anzuheben. Die Verschärfung des Ziels ist notwendig, um zu harte spätere Einschnitte auf dem Weg zur Klimaneutralität bis 2050 zu vermeiden.

Mit dem Green Deal schafft die Kommission ein Instrument, mit dem die diversen Richtlinien zu erneuerbaren Energien, Energieeffizienz, Autos und Lkw, Gebäude, Kreislaufwirtschaft und Ökodesign von Produkten angepasst werden.

Neben diesen regulatorischen Maßnahmen schlägt die Kommission vor, nationale und EU-Programme auf den kohlenstoffarmen Umbau der Wirtschaft und vom Strukturwandel besonders betroffene Regionen auszurichten und zu verstärken. So will sie innerhalb von zehn Jahren klimafreundliche Investitionen in Höhe von einer Billion Euro auslösen.³ Rückenwind für den Green Deal kommt aus dem Europäischen Parlament. Unübersichtlicher ist die Lage im Ministerrat. Während eine Vorreiter-Allianz um Frankreich, Dänemark und Spanien Tempo macht, stehen die osteuropäischen Staaten um Polen und Tschechien auf der Bremse. Hinzu kommt, dass die EU durch den Brexit einen Leistungsträger beim Klimaschutz verliert. Ohne Großbritannien müssen sich andere EU-Länder mehr anstrengen, damit die EU ihre Ziele erreichen kann.

Dass die Europäische Kommission beim Klimaschutz aufs Tempo drückt, hängt auch mit den internationalen Klimaverhandlungen zusammen.

Klimaziele weiter konkretisieren

Auf dem UN-Klimagipfel im schottischen Glasgow müssen die Länder erstmals ihre zugesagten nationalen Klimabeiträge überprüfen lassen und im besten Fall anheben. So wurde es vor fünf Jahren im Klimavertrag von Paris vereinbart. Bislang klafft zwischen dem 1,5-Grad-Ziel und den Minderungszusagen der Unterzeichnerstaaten eine große Lücke, erst recht nach dem Rückzug der USA. Die EU will nicht mit leeren Händen nach Glasgow reisen. Ihr kommt hier als weltweit bedeutendstem Wirtschaftsraum mit den dritthöchsten Treibhausgasemissionen eine zentrale Verantwortung zu – gerade in Zeiten, in denen der Multilateralismus in einer Krise steckt.

Nachhaltiger Umbau

124 Mrd. €

haben Europas Unternehmen im vergangenen Jahr in kohlenstoffarme Technologien investiert. Die Kapitalinvestitionen müssten jedoch mehr als verdoppelt werden, um die Ziele des „Green Deal" zu erreichen.

Klimaneutralität als Chance

Die Wirtschaft ist sich der Herausforderung bewusst. Der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) hält eine weitgehende Dekarbonisierung nicht nur für technisch machbar, sondern auch für volkswirtschaftlich verkraftbar – selbst dann, wenn andere Länder nicht mitziehen würden. Er schätzt, dass der Umsatz mit den wichtigsten Klimatechnologien in den nächsten zehn Jahren auf 1–2 Billionen Euro jährlich ansteigen wird. Teile der Wirtschaft haben sich bereits auf den Weg gemacht. Allein im letzten Jahr haben europäische Unternehmen rund 124 Milliarden Euro in klimaschonende Produktionsprozesse, Forschung und Entwicklung und kohlenstoffarme Produkte investiert. Der konsequente Kurs in Richtung null Nettoemissionen erfordert jedoch noch größere Anstrengungen. Wir gehen von mindestens einer Verdopplung dieser Investitionen in Europa aus.

Unterdessen haben sich die weltweit größten Pensionsfonds und Versicherer in der Net-Zero Asset Owner Alliance dazu verpflichtet, ihre Anlageportfolios in Höhe von 2,4 Billionen US-Dollar bis 2050 klimaneutral zu stellen. Ein großer deutscher Rückversicherer hat unlängst angekündigt, sich aus dem Kohlegeschäft zurückzuziehen und künftig unter anderem keine neuen Kohlekraftwerke in Industrieländern mehr zu versichern. Der weltweit größte Vermögensverwalter Blackrock hat die Unternehmen zu größeren Anstrengungen im Kampf gegen den Klimawandel aufgefordert und will den Umgang mit Klimarisiken in der künftigen Zusammenstellung seiner Portfolios stärker berücksichtigen.

Neuer Schwung für die deutsche Klimapolitik

Europas klimapolitischer Ehrgeiz wird auch in Deutschland spürbar werden. Wenn die EU Klimaneutralität erreichen will, gilt das auch für ihren größten Mitgliedstaat. Die Bundeskanzlerin hat schon 2019 die Klimaneutralität bis Mitte des Jahrhunderts als Leitziel ausgerufen. Daran anknüpfend wird die Bundesregierung ihre eigenen Ziele verschärfen müssen. Im Rahmen des üblichen „Effort Sharing“ der Mitgliedstaaten ist für Deutschland mit einem Zwischenziel von minus 65 bis 70 Prozent bis 2030 zu rechnen. Das wäre eine deutliche Erhöhung des derzeit gültigen Ziels (minus 55 Prozent).

Bislang fehlt hierfür noch der finale regulatorische Rahmen. Wir gehen deshalb davon aus, dass die Bundesregierung – spätestens nach der nächsten Bundestagswahl – Vorschläge entwickelt, wie sie die Klimaneutralität bis Mitte des Jahrhunderts erreichen will. Dazu gehören die folgenden Maßnahmen:

  • Erneuerbare Energien ausbauen: Zur Flankierung des Atom- und Kohleausstiegs wird der regulatorische Rahmen für Investitionen in Wind- und Solarkraft deutlich verbessert. Dafür werden die Stromnetze ausgebaut, um die variablen Quellen besser integrieren zu können. Der Einsatz von Speichertechnologien und die Sektorkopplung zwischen Strom und Verkehr erleichtern den kostengünstigen Umstieg auf eine Vollversorgung mit erneuerbaren Energien.

  • Energiewende auf Verkehr und Gebäude ausweiten: Die Energiewende, die erfolgreich im Stromsektor angelaufen ist, wird schrittweise auf Verkehr und Gebäude ausgeweitet. Dafür steigen die CO2-Preise nach 2025 weiter und das Steuer- und Abgabensystem wird weiter ökologisiert. Mehr Häuser werden saniert, um auf erneuerbare Wärme umzusteigen und die Energieeffizienz zu verbessern.

  • Mobilität elektrifizieren, digitalisieren und neu denken: Die Mobilität der Zukunft ist emissionsfrei, digital und vernetzt. Digitalisierung und Elektrifizierung bieten die große Chance, mehr Mobilität mit weniger Verkehr zu erreichen. Autonomes Fahren wird dabei eine wesentliche Rolle spielen, auch für die Anbindung des ländlichen Raums. Stärkere Anreize erleichtern den Umstieg auf öffentliche Verkehrssysteme und umweltfreundliche Mobilität wie Bus, Bahn und Rad.

  • Energieeinsparung zur Priorität machen: Wenn Strom stärker auch für Mobilität und zum Heizen genutzt wird, steigt die Nachfrage. Deshalb werden die Energieeinsparung und der Einsatz effizientester Technologien eine neue Priorität erlangen. Insbesondere die Digitalisierung bietet große Chancen, um den effizientesten Technologien zum Einsatz zu verhelfen und so die Energieeinsparung aus ihrem Dornröschenschlaf zu wecken. 

Die Dekarbonisierung der Wirtschaft ist ein Großprojekt, das sich in seiner Tragweite nur mit der Digitalisierung vergleichen lässt.

Die Dekarbonisierung der Wirtschaft ist ein Großprojekt, das sich in seiner Tragweite nur mit der Digitalisierung vergleichen lässt. Beide Transformationen sind disruptiv, verändern die Geschäftsmodelle der Unternehmen und ihrer Kunden tiefgreifend und entscheiden über den künftigen Markterfolg. Dabei bietet die Dekarbonisierung sowohl für Unternehmen als auch für ganze Branchen enorme Chancen: Wer frühzeitig klimaneutral wird und dafür die entsprechenden Technologien entwickelt, vermeidet nicht nur erhebliche geschäftliche Risiken und Reputationsschäden, ihm bieten sich auch ein riesiger neuer Absatzmarkt und eventuell die Marktführerschaft in einer kohlenstofffreien Welt.

  • Quellenangaben

    1. IEA 2020: Germany 2020, Energy Policy Review, Zusammenfassung
    2. Europäische Kommission 2020: Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Schaffung des Rahmens für die Verwirklichung der Klimaneutralität und zur Änderung der Verordnung (EU) 2018/1999 (Europäisches Klimagesetz), Brüssel, 04.03.2020, COM(2020) 80 final2020/0036 (COD)
    3. European Commission 2020: Investing in a Climate-Neutral and Circular Economy

Fazit

Die Klimakrise ist da – mit dem Klimaschutzplan hat die Bundesregierung erste Maßnahmen für die Dekarbonisierung der Wirtschaft aufgelegt. Die EU baut mit dem Green Deal weiter Druck auf. Doch noch fehlt ein konkreter regulatorischer Rahmen für den Weg zur klimaneutralen Wirtschaft bis 2050.