6 Minuten Lesezeit 20 Januar 2022
Straße bei Sonnenuntergang Lichtspuren

„Die Klima- und Trendwende im Verkehr erfordert ein Preissignal“

Drittnutzerfinanzierung setzt ein Preissignal zum Umstieg auf den ÖPNV. Im Interview erläutert Oliver Wittig, wie das Modell funktioniert.

Überblick
  • Vor welchen konkreten Herausforderungen der Verkehrssektor beim Klimaschutz steht.
  • Wie Städte über die Drittnutzerfinanzierung den ÖPNV fördern, Autos aus der City verdrängen und das Klima schonen.
  • Wie Kommunen einen Mobilitätspass gestalten können, um den Individualverkehr zugunsten des ÖPNV auszubremsen.

Der Klimawandel ist eine der größten Herausforderungen unserer Gesellschaft. Nicht zuletzt die UN-Klimakonferenz von Glasgow hat erneut deutlich gemacht, wie wichtig tiefgreifende Maßnahmen sind, um die Erderwärmung auf 1,5 Grad Celsius zu begrenzen. Die Maßnahmen müssen schnell, umfassend und mit aller Kraft umgesetzt werden. Ein Beitrag ist die Eindämmung der klimaschädlichen Treibhausgase.

Einen Großteil davon produziert der Verkehr. Die Verkehrsbranche hinkt jedoch den Klimazielen hinterher. Dabei liegt das Verbesserungspotenzial praktisch vor der Haustür: die Förderung des Öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV). Dr. Oliver Wittig, Leiter Öffentliches Wirtschaftsrecht und Koordinator der Rechtsberatung der öffentlichen Hand für EY Law in Deutschland, hat zusammen mit seinem Team Ideen zur Förderung des ÖPNV entwickelt. Im Interview spricht er darüber, wie Kommunen über eine Drittnutzerfinanzierung das Mobilitätsverhalten der Menschen beeinflussen und zum Umstieg auf Bus und Bahn bewegen können.

EY: Weniger Verkehr, vor allem weniger Autos in den Städten – das wünschen sich viele Menschen. Trotzdem ändert sich wenig. Was motiviert Sie, dieses Thema anzugehen?

Oliver Wittig: Mein Team und ich verstehen unsere Vorschläge und unsere Studie zur Drittnutzerfinanzierung für das Land Baden-Württemberg als Beitrag, die Klimaziele der Vereinten Nationen zu erreichen. Wir wollen Bund, Ländern und Gemeinden sowie Verkehrsbetrieben Argumente an die Hand geben, um zugunsten des ÖPNV umzusteuern. Unser Eindruck ist, dass eine ganze Reihe von Städten nur darauf wartet. Andere werden nachziehen. Spätestens, wenn die Klimaziele regulatorisch vom Bund auf die Länder und dann auf die Kommunen heruntergebrochen werden. Noch bewegen sich die Klimaziele ja in großer Flughöhe, auf Ebene von Vereinten Nationen, Europäischer Union und Bund.

Welchen Beitrag kann der Verkehrssektor denn zum Erreichen der Klimaziele leisten?

Das deutsche Klimaschutzgesetz verlangt, die Treibhausemmissionen in diesem Sektor bis 2030 auf 85 Millionen Tonnen CO2-Äquivalente zu reduzieren. Das entspricht etwa einer Halbierung des derzeitigen CO2-Ausstoßes pro Jahr. Eine weitere Reduktion wäre zumindest wünschenswert. Außerdem soll der Flächenverbrauch deutlich sinken, am besten auf null. Gleichzeitig gehen Schätzungen davon aus, dass die Zahl gefahrener Kilometer steigt. Die fortschreitende Elektrifizierung genügt für eine Trendwende nicht. Der Verkehr sollte deshalb effizienter gestaltet werden. Die Wahl des Transportmittels muss sich ändern.

Treibhausemissionen

50 %

weniger CO2 als derzeit soll der Verkehrssektor bis 2030 ausstoßen.

In den Städten nutzen viele Menschen das Auto. Ein Argument ist, der ÖPNV sei unattraktiv. Es bestehe Verbesserungsbedarf, um die Mobilität mit Bus und Bahn zu erhöhen. Kommunen klagen aber oft über Finanznot. Wie lässt sich dieses Dilemma lösen?

Hier setzt das Modell der Drittnutzerfinanzierung an. Das bedeutet: Es leisten nicht nur diejenigen einen Beitrag, die den ÖPNV nutzen, sondern auch mittelbare Nutzer. Dazu gehören Pendler, Arbeitgeber, Kfz-Halter und die Einwohner einer Stadt. Diese sogenannten Drittnutzer zahlen eine Abgabe. Die daraus erzielten Mehreinnahmen kommen dem Ausbau, der Attraktivitätssteigerung des ÖPNV zugute. Wohlgemerkt: es geht nicht darum, die bestehende ÖPNV-Finanzierung zu ersetzen. Verkehrsbetriebe können zum Beispiel den Takt erweitern, die Qualität erhöhen, in ihre Elektrobusflotte investieren oder in den Modal Shift, die Verbindung mit anderen Verkehrsmitteln wie Leihräder, Sammeltaxis oder ähnliches. Von der Drittnutzerfinanzierung als Hebel zur Änderung des Verhaltens der Verkehrsteilnehmer profitieren Bürger, Kommunen und das Klima.

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Wie sieht eine Drittnutzerfinanzierung konkret aus?

Die Klima- und Trendwende im Verkehr erfordert ein Preissignal. Es geht um die Verteuerung nicht nachhaltiger Verkehrsmittel zugunsten nachhaltiger Transportmittel. Idealerweise ist diese bei Autos am höchsten, während Busse nicht bepreist werden. Eine City-Maut ist ebenso denkbar wie eine Bürgerabgabe und höhere Parkkosten. Bei der Maut würde zwar der Individualverkehr teurer. Aber Verkehrsteilnehmer, zum Beispiel Pendler, werden sich vermutlich nicht Richtung ÖPNV orientieren. Abgesehen davon sind isolierte Bürgerabgabenmodelle und City-Maut in Kommunen schwierig umzusetzen. Es gibt rechtliche und teilweise auch technische Hürden. Deshalb sind andere Anreize sinnvoll.

Es geht um die Verteuerung nicht nachhaltiger Verkehrsmittel zugunsten nachhaltiger Transportmittel.
Dr. Oliver Wittig
Partner | Head of Public Law | Rechtsanwalt | Deutschland

Und wie funktioniert der Mobilitätspass?

Kern dieses neuen Modells ist es, dass der Abgabenleistende im Gegenzug zur Zahlung ein Guthaben, einen Mobilitätspass, in gleicher Höhe erhält. Untersucht haben wir vier Mobilitätspassmodelle, die sich nach dem Abgabenleistenden unterscheiden, nämlich den Mobilitätspass für Einwohner, für Kfz-Halter, für Arbeitgeber und für Kfz-Nutzer (City-Maut). Die Abgabe fließt jeweils an die Bürger zurück – allerdings mit einer Zweckbindung. Das Guthaben kann nur für bestimmte Zwecke, insbesondere für die Nutzung des ÖPNV, eingesetzt werden. Angenommen, die Stadt erhebt monatlich 30 Euro als Einwohnerabgabe, dann erhalten die Einwohner als Gegenleistung ein Guthaben in gleicher Höhe. Das können sie für die Nutzung des ÖPNV einsetzen, zum Beispiel für eine Wochen- oder Monatskarte. Wird das Guthaben nicht aufgebraucht, verfällt es. Um das Modell noch interessanter zu machen, kann die Stadt die ÖPNV-Tarifzonen und Tarife so zuschneiden, dass das Guthaben zum Beispiel ein Ticket für die Innenstadt abdeckt. Auf weitere Bereiche würde das Geld angerechnet, oder der Nutzer legt eventuell etwas drauf.

In gleicher Weise funktioniert der Mobilitätspass für Kfz-Halter oder Kfz-Nutzer. Wer ein Kfz hält oder die Straßen im Innenstadtbereich nutzt, zahlt die Abgabe und erhält den Pass. Wird dieser nicht genutzt, verfällt das Guthaben ebenfalls zugunsten der Stadtkasse. Man kann das Modell zudem mit einer sozialen Komponente ausstatten: Die Abgabe wird auf Erwachsene beschränkt und/oder Bezieher von Sozialleistungen bleiben befreit.

Die Einnahmen aus dem Mobilitätspass sollen der Verbesserung des ÖPNV dienen. Das klingt gut, aber rechnet sich das auch?

In unserer Studie für das Land Baden-Württemberg wurde die finanzielle Wirkung kalkuliert. Würde die Großstadt Stuttgart für den Einwohner-Pass eine Abgabe von 20 Euro oder für den Kfz-Halter-Pass 30 Euro pro Monat nehmen, hätte die Stadt 103 beziehungsweise 90 Millionen Euro verfügbare Mittel zusätzlich. Diese würden zum Ausbau von Bus- und Stadtbahnverkehr eingesetzt. Tübingen würde bei Abgaben von 17 beziehungsweise 57 Euro Mehreinnahmen in Höhe von knapp 15 Millionen Euro erzielen, die ausreichen würden, um einen kostenlosen Nahverkehr für alle anbieten zu können. Das kleine Bad Säckingen käme bei einem Pass von 10 Euro für Einwohner oder 30 Euro für Kfz-Halter auf insgesamt 2 beziehungsweise 1 Million Euro zusätzlich. Das sind Zahlen und Ziele, die für sich sprechen.

Mehreinnahmen

103

Millionen Euro zusätzlich hätte Stuttgart für einen verbesserten ÖPNV zur Verfügung, wenn der Mobilitätspass für Einwohner käme.

Gibt es eigentlich Hinweise, wie ein Mobilitätspass das Verhalten der Verkehrsteilnehmer beeinflusst?

Ja, die zu erwartende Wirkung lässt sich in etwa mit der eines Semestertickets für Studenten und Azubis vergleichen. Die Erfahrung mit diesem Ticket zeigt eine Steigerung der ÖPNV-Nutzerzahlen um bis zu 20 Prozent zulasten des Individualverkehrs, wenn die Fahrt fast nichts kostet. Höhere Nutzerzahlen machen den ÖPNV effizienter. Dies entspricht den Zielen des Klimaschutzgesetzes und fördert die Dekarbonisierung.

Welche Möglichkeiten haben Kommunen, den Mobilitätspass zu realisieren und das richtige Modell zu finden?

Hat der Landesgesetzgeber erst einmal die Möglichkeit zur Einführung eines Mobilitätspasses eingeräumt, kann die Drittnutzerfinanzierung innerhalb weniger Wochen wirksam werden, denn die Abgabenerhebung fällt dann in den kommunalen Kompetenzbereich. Bei dem Mobilitätspass für Kfz-Nutzer ist zu beachten, dass zunächst die Bundesstraßen auszunehmen sind. Für eine Einbeziehung wäre zunächst Bundesrecht zu ändern. Diesbezüglich sind wir bereits auf den Bund zugegangen.

Welches Pass-Modell das richtige ist, ist von Stadt zu Stadt zu prüfen. Bei der Analyse bietet es sich an, neutrale Expertise von außen zu holen.

Ein erster sehr positiver Schritt ist, wenn neben Baden-Württemberg auch andere Länder den Kommunen die Ermächtigung einräumen, einen Mobilitätspass einführen zu können. In einem zweiten Schritt wäre es sehr schön, wenn die Kommunen überhaupt überlegen, wie sinnvoll ein solches Modell für die jeweilige Kommune ist. Ob eher die Einwohner oder die Pendler oder gegebenenfalls die Arbeitgeber belastet werden, ist eine kommunalpolitische Entscheidung. Diese wird sicher auch die Pendlerzahlen berücksichtigen. Flankierend zum Mobilitätspass kann außerdem über höhere Parkgebühren und ein besseres Parkraummanagement nachgedacht werden, um die Wirkung zu unterstützen.

Mit Blick darauf: Könnten sich Städte zum Beispiel für alle drei Varianten des Mobilitätspasses entscheiden oder nur für ein Entweder-oder?

Es ist aus rechtlichen Gründen kaum möglich, die Abgabe sowohl für Einwohner, Kfz-Halter und Kfz-Nutzer parallel zu erheben. Die Kommune sollte eine Variante auswählen. Sonst kann es rechtliche Schwierigkeiten geben, wenn jemand zum Beispiel als Einwohner und Kfz-Nutzer doppelt belastet würde.

Mit der Drittnutzerfinanzierung haben Städte und Verkehrsbetriebe die Chance, sowohl die Klimaschutzziele zu erreichen als auch den ÖPNV so umzugestalten, dass Menschen auf das Auto verzichten und stattdessen Bus und Bahn nutzen. Davon profitieren die Innenstädte.

Sie sprachen gerade die Rechtslage an. Was sollte auf dieser Seite passieren, damit der Anreiz Drittnutzerfinanzierung gesetzt werden kann?

Um den Kommunen das Instrument in die Hand zu geben, müssen die Bundesländer die Gesetzesgrundlage für den Mobilitätspass schaffen. Baden-Württemberg plant dies. Die Landesregierung hat diese bereits in ihrem Koalitionsvertrag festgeschrieben. Für die Städte ist wichtig, die Einnahmen zweckgebunden zugunsten eines verbesserten ÖPNV einzusetzen. Sie könnten ihren Verkehrsbetrieben Vorgaben machen, wofür diese das Geld ausgeben, damit der Zweck wirklich angestrebt wird: Die Menschen hinlenken zu einem attraktiven, klimaschonenden öffentlichen Nahverkehr, damit unsere Gesellschaft ihre Nachhaltigkeitsziele erreicht.

Für die Städte gibt es noch ein anderes Argument: Viele kämpfen darum, ihre Innenstadt lebenswerter zu machen. Mit herkömmlichen Mitteln geht das nicht mehr. Der Mobilitätspass reduziert den Individualverkehr und schafft damit Platz. Und weniger Individualverkehr ist eine Möglichkeit, die Aufenthaltsqualität zu erhöhen und Menschen in die City zurückzuholen.

Fazit

Der Verkehrssektor soll bis 2030 seinen CO2-Ausstoß mindestens halbieren. Das ist nur zu schaffen, wenn der Individualverkehr in den Städten deutlich reduziert wird und mehr Menschen den Nahverkehr nutzen. Durch Drittnutzerfinanzierung lässt sich die angestrebte Trendwende beschleunigen. Neben besserem Parkraummanagement gehört der Mobilitätspass zu den Instrumenten, die Kommunen in dem Rahmen einsetzen können.