4 Minuten Lesezeit 11 Mai 2021
Frau schaut auf ihre Smart Watch

Wie die Digitalisierung die Rolle der Krankenversicherungen verändert

Von Christian Egle

Leiter Gesundheitswirtschaft Region Europa, Mittlerer Osten, Indien und Afrika, EY Strategy & Transactions GmbH

Findet Lösungen für die Transformation einer ganzen Branche. Zwei Kinder und ausgiebige Joggingrouten durch den Spessart halten ihn gesund.

4 Minuten Lesezeit 11 Mai 2021

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Die gesetzlichen Krankenversicherungen wandeln sich: vom passiven Payer zum aktiven Player und sogar zum Pacemaker des Gesundheitssystems.

Überblick
  • Die digitale Transformation der gesetzlichen Krankenversicherungen (GKV) lief lange Zeit schleppend.
  • Doch Erwartungen der Versicherten, regulatorische Rahmenbedingungen und technologischer Fortschritt machen den GKV Druck, digitale Potenziale zu nutzen.
  • Individuelle Services für Versicherte, Telemedizin, automatisierte Prozesse: Als zentrale Akteure können GKV Digitalisierung im Gesundheitswesen gestalten.

Während andere Branchen von den disruptiven Kräften der Digitalisierung regelrecht überrollt wurden, ließ der digitale Wandel im deutschen Gesundheitssystem auf sich warten. Die gesetzlichen Krankenversicherungen (GKV) befanden sich in einem innovationshemmenden Raum aus stark reguliertem gesetzlichen Auftrag und hohen Eintrittsbarrieren, der wenig Anreiz und gleichzeitig hohe Einschränkungen für digitalen Wandel bot.

GKV förderten digitale regionale Pilotprojekte wie den Einsatz telemedizinischer Konsultationen oder die digitale Begleitung von Chronikern, zum Beispiel in der Behandlung von Diabetes. Doch von der wirksamen Integration digitaler Leistungen in die flächendeckende Regelversorgung kann noch nicht die Rede sein, was große Potenziale bisher ungenutzt lässt: Beispielsweise könnten sich die Akteure über medizinische Disziplinen und Organisationsgrenzen hinweg stärker digital vernetzen und Informationen reibungsloser weitergeben. So ließen sich sowohl unnötige Doppeluntersuchungen vermeiden als auch notwendige Therapiemaßnahmen schneller und gezielter einleiten. Als weiteres Beispiel ist die datenbasierte analytische Intelligenz zu nennen, die dazu beitragen könnte, Behandlungen individueller und effektiver zu gestalten.

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Telemedizin

48 %

finden eine Videosprechstunde als Ersatz für reguläre Hausarztbesuche attraktiv.

Doch nun haben die Regulatoren den Druck erhöht und gleichzeitig neue Innovationsmöglichkeiten eröffnet. Zahlreiche neue Gesetze sind in der aktuellen Legislaturperiode in Kraft getreten, mit denen die Politik die digitale Transformation des Gesundheitswesens forciert. Die elektronische Patientenakte (ePA), die seit dem 1. Januar 2021 allen gesetzlich Versicherten in der ersten Ausbaustufe zur Verfügung steht, und die „App auf Rezept“ sind prominente digitale Initiativen, die auf diese Gesetzgebung zurückgehen.

Digitales Rezept

68 %

der Versicherten mit Interesse an digitalen Angeboten wünschen sich das E-Rezept.

Die Akzeptanz für digitale Anwendungen steigt bei den Versicherten

Seitens der Versicherten wirkt die Corona-Pandemie wie ein Katalysator auf ihre Erwartungen. Laut einer repräsentativen Umfrage von EY21 unter 1.053 gesetzlich Versicherten im Juni 2020 sagen knapp 30 Prozent, dass aufgrund der Corona-Erfahrungen digitale Interaktionsmöglichkeiten mit dem Arzt für sie attraktiver geworden sind. 68 Prozent der Versicherten mit Interesse an digitalen Angeboten wünschen sich das E-Rezept. Auch Angebote, die die Diagnostik unterstützen und echte Verhaltensänderungen implizieren, stoßen auf beträchtliche Akzeptanz: 48 Prozent finden eine Videosprechstunde als Ersatz für reguläre Hausarztbesuche attraktiv, 42 Prozent eine direkte Chatfunktion mit dem Arzt und 39 Prozent sogar den digital unterstützten „Symptom-Checker“ als ersten Self-Service-Schritt der Diagnostik.

Digitale Diagnostik

39 %

finden den digital unterstützten “Symptom-Checker” als ersten Self-Service-Schritt der Diagnostik attraktiv.

Auch gegenüber ihrer Krankenkasse zeigen Versicherte klare Prioritäten: Aus einer Liste möglicher digitaler Services wählen die Befragten am häufigsten den persönlichen E-Notfallpass aus, der bereits im Rettungswagen wichtige Informationen zur Behandlung liefert. Hoch im Kurs stehen auch die Unterstützung bei der Identifikation von Fachärzten für die individuelle Folgebehandlung oder ein Online-Buchungstool für Arzttermine.

Krankenkassen können digitale Möglichkeiten für personalisierte Angebote nutzen

Aber nicht nur die Erwartungen der Versicherten und die regulatorischen Rahmenbedingungen machen den GKV spürbar Druck, auch der technologische Fortschritt: Bisherige Kernfunktionen, wie Ansprüche auf medizinische Behandlungen zu genehmigen und berechtigte Leistungen zu vergüten, oder das Management von Arzneimittelverträgen mit Pharmaunternehmen werden zunehmend automatisiert. Ebenso lösen viele digitale Self-Service-Optionen Standardinteraktionen mit Versicherten ab. Wenn die GKV nicht an Bedeutung verlieren wollen, müssen sie sich wandeln, neue, digital unterstützte Wertschöpfungsmodelle erschließen und ihr Rollenverständnis ändern: vom passiven „Payer“ zum aktiven „Player“.

Wenn die gesetzlichen Krankenversicherungen nicht an Bedeutung verlieren wollen, müssen sie sich wandeln, neue, digital unterstützte Wertschöpfungsmodelle erschließen und ihr Rollenverständnis ändern: vom passiven „Payer“ zum aktiven „Player“.

Dafür sollten die GKV den Versicherten in ihren Digitalisierungsstrategien stärker in den Mittelpunkt rücken und sich am Bild des einzelnen, souveränen Kunden orientieren. Dieser erwartet kontextsensitive, personalisierte Angebote, also Angebote, die helfen, die medizinische Behandlung an den individuellen Erfordernissen auszurichten und situativ durch mögliche Therapiepfade zu navigieren. Das Ziel: den Einzelnen in seiner persönlichen Situation spürbar unterstützen und ihm so eine auf ihn zugeschnittene Versorgung ermöglichen. Ein Beispiel für ein solches Angebot könnte ein digitales Interface sein, mit dessen Hilfe der Versicherte eine geeignete Reha-Einrichtung auswählt – basierend auf einem Matching der individuellen Therapieerfordernisse und der Spezialisierung von Kliniken. Über dieses Tool könnte der Versicherte den Platz online buchen und per Klick relevante Entlassungsdokumente an die Reha-Einrichtung übermitteln.

Die effektive Digitalisierung des deutschen Gesundheitssystems ist nicht alleinige Aufgabe der GKV. Dazu haben sie auch gar nicht das Mandat. Aber als zentrale Akteure mit Schnittstellen zu allen wichtigen Teilnehmern – Patienten, Ärzten, Apotheken, Pharmaunternehmen, Politik, Therapeuten, Arbeitgebern – sind die GKV einzigartig positioniert, um den Takt der Digitalisierung mitzubestimmen: als Pacemaker. Dazu sollten sie als ersten Schritt eine sichtbarere Rolle gegenüber dem Versicherten einnehmen. Die Einwilligung des Versicherten vorausgesetzt, können sie ihm helfen, Informationen zu finden und zu vernetzen, und ihm so als aktiver Gesundheitspartner zur Seite stehen.

Co-Autoren: Sophie Charlott Krause-Hassenstein, Matthias Frey

Fazit

Regulatorik, Zeitgeist und nicht zuletzt Patienten selbst fordern mehr Digitalisierung im deutschen Gesundheitssystem. Gesetzliche Krankenversicherungen (GKV) können eine umfassende digitale Transformation nicht allein stemmen. Als Schnittstelle können sie die Digitalisierung aber mitgestalten und vorantreiben. Der Fokus sollte dabei auf individuellen Lösungen liegen, die den Versicherten Gesundheitsvorsorge und etwaige Therapien leichter machen.

Über diesen Artikel

Von Christian Egle

Leiter Gesundheitswirtschaft Region Europa, Mittlerer Osten, Indien und Afrika, EY Strategy & Transactions GmbH

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