8 Minuten Lesezeit 30 März 2021
Mechanischer Roboterarm arbeitet im Zwischenlager in einem Distributionslager

Warum Glokalisierung ein neuer Megatrend geworden ist

Internationale Lieferketten geraten von vielen Seiten unter Druck – und behalten doch weiter ihre Berechtigung.

Überblick
  • Handelskriege, Dekarbonisierung und die weltweite Pandemie setzen die Globalisierung unter Druck.
  • Neben der Herausforderung, Lieferketten transparent und weniger risikoanfällig zu gestalten, rückt das Prinzip der Kreislaufwirtschaft in den Fokus.
  • Glokalisierung bedeutet keine ausschließliche Reduzierung auf das Lokale, sondern schließt eine  faire und transparente Globalisierung mit ein.

In Folge der Covid-19-Pandemie ist die Globalisierung mit ihren effizient getakteten Lieferströmen über Kontinente hinweg an ihre Grenzen geraten. Doch das Image des weltumspannendenden Handelsaustauschs leidet schon länger, die Hochzeiten zunehmend globaler Lieferketten sind vorbei. Seit einigen Jahren wachsen internationale Handelsströme langsamer, ausländische Direktinvestitionen sind auf dem Rückzug. Schlagworte von der „Glokalisierung“ und der „Slowbalisierung“ machen die Runde- sie beschreiben eine Rückbesinnung auf den heimischen Markt und eine langsamere Taktung der Entwicklung.

Martin Neuhold, EY-Partner für Advanced Manufacturing & Mobility, und der Leiter der EY-Mittelstandsberatung Stephan Biallas erörtern die Ausgangslage, anstehende Veränderungen sowie Chancen für die Industrie.

Die Daten sprechen eine eindeutige Sprache, die Globalisierung stottert. Erleben wir eine Trendwende hin zum Lokalen?

Martin Neuhold: Wir sehen unterschiedliche Einflüsse am Werk. Einerseits sind das politische Entscheidungen: Die aktuellen Auseinandersetzungen um den Handel, Strafzölle und ähnliches machen die Ein- und Ausfuhr für bestimmte Warengruppen unattraktiver. Andererseits zeigen sich technische Effekte: Wir haben sehr lange eine Verschiebung von Produktion in sogenannte Niedriglohnländer gesehen – doch dort steigen die Löhne seit Jahren, gut ausgebildete Arbeitskräfte sind knapp. Gleichzeitig sorgt eine stärkere Automatisierung für niedrigere Stückzahlkosten, die vom Lohnniveau entkoppelt sind. In vielen Fällen gibt es daher deutlich weniger Gründe, Material ständig über die Grenzen zu schicken. Und im Sinne der Nachhaltigkeit ist es das oft auch nicht.

Stephan Biallas: Der Kostenpunkt gilt übrigens auch für Dienstleistungen. Wo es sich vor einigen Jahren noch gelohnt hat, die Buchhaltung oder ein Call-Center nach Osteuropa oder Asien zu verlagern, kann heute dank der Automatisierung von Prozessen das Angebot in Deutschland wieder deutlich günstiger sein. Beispiel hierfür sind der Einsatz von künstlicher Intelligenz im Bereich der Buchhaltung und des Controllings sowie Chatbots für die erste Interaktion mit Kunden.
Zusätzlich zu den gerade genannten Aspekten haben wir den COVID-19-Effekt gehabt, durch Exportbeschränkungen und Ausfall von Transportkapazitäten.

In der Pandemie schien es zunächst, als müssten sämtliche Lieferbeziehungen in Frage gestellt werden. Dann kam rasch Unsicherheit auf, ob Unternehmen sich den Umbau leisten können. Wie laufen die Diskussionen in den Betrieben?

Neuhold: Zum COVID-Effekt haben wir eine Umfrage gemacht. Tatsächlich waren die Auswirkungen viel weniger deutlich, als wir das im ersten Moment erwartet hatten. Aber viele Unternehmen sagen uns, dass ihnen zusätzliche Transparenz bezüglich ihrer Warenströme geholfen habe, mit den Veränderungen umzugehen.

In einzelnen Branchen führen die Erfahrungen des vergangenen Jahres jedoch zu Überlegungen einer grundlegenden Veränderung. Pharma ist ein Beispiel, dort hat die Krise gezeigt, dass es oft nur noch zwei oder drei Wirkstoffhersteller gibt, sehr viele davon in Indien angesiedelt. Hier müssen die Risiken künftig breiter gestreut werden. Politische Unterstützung hilft bei diesem Schritt, selbst wenn er auf den ersten Blick nicht der effizienteste ist. In anderen Branchen steht eher im Vordergrund, Lagerbestände aufzustocken, und vor allem die Lieferketten transparenter und fairer zu machen.

Biallas: Dazu bereitet die Politik in Deutschland gerade das Lieferkettengesetz vor. Auch auf europäischer Ebene ist eine solche Initiative geplant. Um auf Probleme bei meinen Zulieferern reagieren zu können, muss ich wissen, wo Rohstoffe und Bauteile herkommen. Was bei Textilien oder Nahrungsmitteln noch vergleichsweise einfach möglich ist, stößt bei mehrstufigen Lieferketten, zum Beispiel für komplexe Maschinen oder High-Tech-Güter, schnell an Grenzen. Verflechtungen, die über Jahre entstanden sind, gilt es zuerst einmal transparent zu machen.

Transparenz in komplexe Lieferketten zu bringen ist kompliziert und kostspielig. Aber mit der richtigen Technologie und im europäischen Verbund kann es gelingen und lohnt sich.

Ein hehres Ziel, aber ist es realistisch? Stoßen wir nicht genau wegen der internationalen Verflechtungen an Grenzen?

Biallas: Wir stoßen an technologische Grenzen. Wir müssen bei einer mehrstufigen Lieferkette ein unglaubliches Datenvolumen verarbeiten, Wirtschaftsräume zusammenbringen, gegebenenfalls Patente offenlegen. Einfach wird das nicht, dennoch müssen wir das angehen, am besten im europäischen Schulterschluss und in einer globalen Vorreiterrolle, um europäische Standards zu setzen.

Neuhold: Im Moment kann niemand die komplette Transparenz zu vernünftigen Kosten darstellen. Das gilt für die Anforderungen des Lieferkettengesetzes genau wie für die Frage nach CO2-Fußabdrücken. Viele Firmen stehen vor der Entscheidung, ob sie vorpreschen und investieren oder besser noch abwarten. Nach meiner Erfahrung überwiegt Letzteres.

Welche technischen Möglichkeiten existieren bisher, um die geforderte Transparenz zu schaffen?

Neuhold: Die Blockchain ist eine Trägertechnologie, ein Beispiel für sicheres Arbeiten mit einer Datenbank. Auch Cloud-Systeme, die ganze Warenwirtschaftssysteme abdecken, können bei der Abbildung der benötigten Informationen helfen. Am Ende bleibt das Problem des physikalischen Nachweises, der damit zusammenhängt, dass es in der Lieferkette eine ständige Dekomposition und Rekomposition von Material gibt. Das Metall, das am Ende im Auto landet, war ursprünglich ein Eisenerz. Es wurde zu Stahl, hat sich verzweigt in Hunderte verschiedener Stahlsorten und ist über Komponenten wiederzusammen gekommen. Das physikalisch nachzuverfolgen, ist sehr schwer. Es lässt sich nicht komplett automatisieren, es sind immer auch manuelle Schritte nötig. Letztlich müssen wir darauf vertrauen, dass die Einträge in so eine Blockchain oder andere Datenbank korrekt sind. Und im Zweifel mit Kontrollorganen und Forensik arbeiten.

Gibt es einzelne Branchen, die hinsichtlich der Transparenz besonders gute Karten haben?

Biallas: Das hängt vor allem vom Grad der Komplexität ab. Zulieferer in überschaubaren räumlichem Umfeld helfen, selbst wenn sie alle in China sitzen. Auch ist Transparenz leichter darzustellen, wenn es nicht zu viele unterschiedliche Lieferteile gibt. Was bei einer Spielekonsole unglaublich vielschichtig ist, ist bei Erdbeeren, Äpfeln oder Rotwein deutlich einfacher.

Die Unternehmen müssen zunächst einmal den Zugang zu allen gefragten Informationen erlangen. Haben sie die dafür nötige Marktmacht?

Biallas: Im Moment gilt das bestenfalls für die großen Multis. Doch letztlich wird das durch die beiden Pole der Konsumenten und der staatlichen Regulierung getrieben werden. Wenn der Konsument für lückenlose Transparenz einen gewissen Aufschlag zahlt, wird das zum Anreiz für den Produzenten. Wir sehen diesen Druck heute schon in der Frage nach dem CO2-Fußabdruck.

Neuhold: Der Bedarf für umfangreiche technische Lösungen, um die Lieferkette transparent zu machen, könnte auch wieder nachlassen. Mit der Diskussion um Dekarbonisierung bekommt auch die Circular Economy oder Kreislaufwirtschaft erheblichen Auftrieb. Dabei spielen Recycling und Weiterverwertung eine zentrale Rolle. Statt der Frage, wo eine Faser ursprünglich herkommt, steht dann im Vordergrund, ob sie sinnvoll und möglichst regional wiedereingesetzt wurde.

Kommt da ein weiterer Faktor ins Spiel, der die Globalisierung zurückdreht?

Neuhold: Wir gehen davon aus, dass aus linearen, globalisierten Wertschöpfungsketten eine ganze Reihe regionaler, zirkulärer Ökosysteme werden. Das bedeutet, dass ich nicht zwangsläufig neuwertiges Material weit transportiere, um es einzusetzen. Stattdessen wird viel mehr vor Ort aufbereitet und wiederverwertet. So könnten wir übrigens einen raschen Schub bekommen bei der Dekarbonisierung. Studien gehen davon aus, dass Circular-Economy-Prinzipien, die Produkte länger im Lebenszyklus halten, in den nächsten drei Dekaden zwischen 40 und 60 Prozent zur CO2-Reduktion beitragen können.

Das Gesamtgeschehen beeinflussen also Dekarbonisierung, Lokalisierung und Transparenz. Für Unternehmen ist das extrem komplex, denn es geht nicht nur darum, Materialien zu ersetzen. Sondern oft auch die Produkte anders zu designen. Aber wer sich daran wagt, kommt zu spannenden Ergebnissen.

Gibt es Beispiele, die das verdeutlichen?

Neuhold: Wir haben ein Projekt mit einem Hersteller von Wasseruhren umgesetzt. Sie wurden so designt, dass sie mehrere Lebenszyklen überstehen. Die Kunden, in diesem Fall Stadtwerke, geben die Uhren mit Ablauf der Eichfrist zurück, der Hersteller arbeitet sie mit geringem Aufwand auf. Dann gehen sie in die zweite Lebensphase. Durch den Einsatz von höherwertigem Material verdient der Hersteller im ersten Zyklus weniger. Dafür ist die Marge danach sehr groß.

Das einfache Beispiel zeigt schon, dass die Materialauswahl mit dem Produktdesign, dem Geschäftsmodell und dem Ökosystem in Einklang gebracht werden muss. Zusätzlich müssen die Konsumenten mitmachen und die Regulierung das Ganze befeuern. Aber die Fälle, die wir kennen, sind für die Unternehmen höchst profitabel.

Unternehmen verstehen inzwischen, dass sie um Veränderungen nicht herumkommen. COVID-19 hilft bei dieser Erkenntnis genau wie Handelsbeschränkungen und die Besteuerung von CO2-Emissionen. All das kommt jetzt auf einen Schlag zusammen.
Stephan Biallas
Leiter Beratung Mittelstand, EY Consulting GmbH | Deutschland

Was bedeuten diese Entwicklungen unter dem Strich für die Exportnation Deutschland? Werden die Lieferketten deutlich weniger komplex und international? Wird weniger exportiert?

Neuhold: Die Produktion zurückzuholen wäre vielerorts weder wirtschaftlich noch ökologisch sinnvoll. Betrachten wir als Beispiel einen Apfel. Ihn ausschließlich aus lokaler Erzeugung, auch im Winter, zur Verfügung zu stellen, würde sehr viel Energie kosten. Es ist besser eine Gesamtbetrachtung aufzumachen, weitere Wege in Kauf zu nehmen und dann diese CO2-neutral zu gestalten.

Biallas: Wir werden zwar mehr und mehr regionale Ökosysteme sehen. Aber für zahlreiche Produkte behalten die multinationalen Konzerne ihre Berechtigung, schon wegen der Skaleneffekte. Das betriebswirtschaftliche Gesetz, dass sich gewisse Investitionen erst bei großen Mengen amortisieren, wird weiter gelten.

Nehmen neben den angesprochenen Trends auch die Investoren und ihr Drängen auf umfängliches Risikomanagement an Bedeutung zu?

Biallas: Wir bewegen uns gerade weg vom klassischen Shareholder-Value-Prinzip, das seit den 1990er Jahren das Maß aller Dinge war, hin zu den so genannten Stakeholdern. Unternehmen müssen breiter denken, nicht nur an die Anteilseigner, sondern auch an die Gesellschaft, die Mitarbeiter, die Verbraucher.

Neuhold: Ich beschäftige mich seit bald zehn Jahren mit dem Thema Circular Economy. Anfangs hatte man oft das Gefühl, als Heile-Welt-Prediger oder Öko abgetan zu werden. Aber jetzt verstehen immer mehr Unternehmen, dass sie um Veränderungen nicht herumkommen werden. Dabei hilft es, auf Erfolgsmodelle verweisen zu können. Dabei hilft aber auch so ein Ausnahmeereignis wie Covid-19. Da helfen Handelsbeschränkungen und die Besteuerung von CO2-Emissionen. All das kommt jetzt auf einen Schlag zusammen.

Um die großen internationalen Themen zu lösen, spielt ein globaler wirtschaftlicher Ansatz eine wichtige Rolle. Es muss aber eine faire und transparente Globalisierung sein.
Stephan Biallas
Leiter Beratung Mittelstand, EY Consulting GmbH | Deutschland

Werden wir im Ergebnis in den nächsten Jahren vor allem lokaler?

Neuhold: Mir fällt in diesen Debatten oft auf, dass zwar von Glokalisierung gesprochen, aber Lokalisierung diskutiert wird. Dabei steckt die Globalisierung in dem Begriff ja mit drin. Sicher werden die diskutierten Entwicklungen in vielen Bereichen zu mehr Lokalisierung führen. Doch es gibt Bereiche, die noch globaler werden dürften. Bei Designprinzipien rechne ich damit, bei Baukasten-Modellen. Da gibt es Parallelen zur Automobilindustrie, die schon heute mit vielen gleichen Teilen in aller Welt Fahrzeuge produziert, lokal montiert, aber auch auf die lokalen Bedürfnisse abgestimmt.

Biallas: Wir sollten Globalisierung vor allem nicht per se in die „Schmuddelecke“ stellen. Um die großen Themen, die uns global umtreiben, zu lösen, spielt sie eine wichtige Rolle. Bei der Reduzierung der ungleichen Verteilung von Wohlstand weltweit oder um Flüchtlingsströme zu verhindern, hilft ein globaler wirtschaftlicher Ansatz. Es muss aber eine faire und transparente Globalisierung sein.

Fazit

COVID-19 hat viele globale Lieferbeziehungen auf den Prüfstand gestellt. Doch die Faktoren, welche die Globalisierung in den vergangenen Jahren gebremst haben, sitzen tiefer. Handelskriege spielen eine entscheidende Rolle, steigende Löhne in vielen Teilen der Welt, gleichzeitig neue Chancen durch Automatisierung. Hinzu kommt der regulatorische Druck in Sachen Dekarbonisierung. Ein simples Zurückdrehen der Globalisierung ist dennoch nicht sinnvoll. Vielmehr müssen neue Lösungen gefunden werden, zum Beispiel mit Hilfe von Kreislaufsystemen.