7 Minuten Lesezeit 17 November 2020
Verschwommene Lichter von Zügen

Wie Digitalisierung Anlagenbauern frische Umsatzquellen eröffnet

Neue Technologien steigern die Effizienz. Noch wichtiger und lukrativer sind aber neue Geschäftsmodelle, die jetzt möglich werden.

Überblick
  • Deutsche Maschinen- und Anlagenbauer müssen neue Geschäftsmodelle entwickeln, um nachhaltig von der Digitalisierung ihrer Branche zu profitieren.
  • Softwarebasierte Variantenerzeugung erlaubt Anlagen, die günstiger in Entwicklung und Betrieb sind, flexibler im Einsatz und dank Second Life auch nachhaltiger.
  • Anlagenbauer, die als Plattformbetreiber auftreten können vielfach an nachgelagerten Wertschöpfungsschritten partizipieren.
  • Noch hat die Branche das ganze Potenzial der Digitalisierung aber nicht erkannt.

Der digitale Wandel wartet auf niemanden. Auch die Maschinen- und Anlagenbauer dürfen Digitalisierung nicht länger als abstrakten Begriff oder als Fernziel verstehen. Es geht darum, die Branche jetzt auf die nächste Stufe zu heben.

Unternehmen müssen erkennen, auf welche Aspekte sie sich sinnvollerweise konzentrieren sollten – wo Kosten und Nutzen sich also besonders vorteilhaft zueinander verhalten.

Risiken und Chancen der Individualisierung

Ein bestimmender Trend der vergangenen Jahrzehnte ist die Individualisierung. Kunden sind immer seltener zufrieden mit Standardangeboten. Sie erwarten spezifische Lösungen für ihre Bedürfnisse. Das zieht sich durch alle Branchen und gilt für Endverbraucher ebenso wie für Firmenkunden.

Im Maschinen- und Anlagenbau kann die Antwort auf diese Herausforderung nicht lauten, für jeden Kundenwunsch individuelle Anlagen zu entwerfen und auszuliefern. Zu viele Einzellösungen würden eine extreme Komplexität in der Lieferkette bedeuten, wobei der Hersteller von der Planung bis zur Versorgung mit Ersatzteilen alle Schritte dokumentieren müsste. Das wäre mit hohen Kosten verbunden, die der Kunde kaum zu zahlen bereit wäre.

Die Ziele lauten also:

  • spezifische Kundenanforderungen erfüllen,
  • Komplexität gering halten,
  • und dabei die eigenen Umsätze und Margen steigern.

Nur auf den ersten Blick handelt es sich um ein Dilemma, denn diese Ziele sind durchaus miteinander vereinbar. Die Möglichkeiten der Digitalisierung erlauben die Produktion von Anlagen, die ganz individuellen Ansprüchen genügen – und zwar ohne komplexe manuelle Eingriffe vor oder nach der Auslieferung. Die installierte Software spielt dabei eine zentrale Rolle. Wichtig sind gerade für deutsche Unternehmen ein aktiver Umgang mit Digitalisierung und die Bereitschaft zu neuartigen Geschäftsmodellen.

Es geht nicht nur um Effizienz

Es wäre naheliegend, den größten Nutzen von Digitalisierung in gesteigerter Effizienz und Kostenvorteilen zu sehen – etwa durch den Einsatz zunehmend „schlauer“ Sensorik und Aktorik. Doch dieses Rennen können deutsche Maschinen- und Anlagenbauer nicht gewinnen.

Selbst wenn Wettbewerber im Ausland weniger hochwertige Hardware und weniger Erfahrung haben, erzielen sie doch dank der stetig ausgefeilteren Sensorik und Aktorik vergleichbare Ergebnisse und können ihre Nachteile so immer besser kompensieren. Für in Deutschland produzierte Premium-Anlagen bietet Digitalisierung also kaum zusätzlichen Nutzen, wenn sie nur Prozess- und Leistungsfähigkeit steigern soll. 

Für heimische Premium-Anlagen ist der zusätzliche Nutzen von Digitalisierung für die reine Steigerung der Prozess- und Leistungsfähigkeit tendenziell gering.
EY Deutschland
Building a better working world

Besser sind neue Geschäftsmodelle

Der steinigere, aber wesentlich lukrativere Weg zum Erfolg in Zeiten der Digitalisierung führt über die Erweiterung oder Neudefinition von Geschäftsmodellen. So können Maschinen- und Anlagenbauer sich neue Umsatzpotenziale mit radikal anderen Margenmodellen erschließen.

Drei Richtungen, in die das Umdenken sich lohnen könnte, sind etwa:

1. Daten sammeln und nutzen

Beim Betrieb jeder Anlage fallen Unmengen von Daten an, die der Hersteller sammeln und auswerten kann. Ist diese Datenbasis breit genug, stammt sie also von einer Vielzahl auch weit verstreut installierter Anlagen, können Algorithmen sie nach Big-Data-Prinzipien automatisiert vergleichen und dabei Muster und Auffälligkeiten herausarbeiten. Diese kann der Hersteller auf ganz unterschiedliche Weise gewinnbringend nutzen.

a) Kundenzufriedenheit steigern

Falls die Auswertung der Nutzungsdaten ergibt, dass der Kunde seine Anlage nicht optimal konfiguriert oder ausgelastet hat, kann der Hersteller ihn auf entsprechende Parametereinstellungen hinweisen. Ebenso ist es möglich, Wartung und Instandhaltung schon vor dem Auftreten von Problemen anzubieten – falls die Daten darauf hinweisen, dass ein Ausfall in Kürze zu erwarten ist.

b) Optimieren als Serviceleistung

Zum Umsatzmodell wird das, wenn der Hersteller den Kunden für wertvolle Vorschläge bezahlen lässt – etwa für den Hinweis auf eine effizientere Fahrweise, die mehr Durchsatz ermöglicht oder die Geschwindigkeit erhöht und dem Kunden damit langfristig viel größere Kostenvorteile bringt.

c) Betreibermodell anbieten

Oft müssen Kunden eine Anlage während ihrer Lebensdauer immer wieder individuell anpassen und optimieren lassen. Diese teure und zeitaufwändige Last kann der Hersteller ihnen abnehmen, indem er von vornherein selbst als Betreiber seiner eigenen Anlage auftritt – nach dem Motto „Wir kennen unsere eigenen Anlagen am besten“.

d) Daten für Entwicklung nutzen

Lassen sich aus den gesammelten Daten beispielsweise häufige Gründe für Störungen und Ausfälle von Anlagen ableiten, so sollten diese Informationen selbstverständlich in die Entwicklung und Optimierung von Neuanlagen einfließen. So arbeitet die nächste Generation weniger fehleranfällig und ist noch hochwertiger.

Wichtig ist es in jedem Fall, die Hoheit über die Daten mit den Nutzern vertraglich zu regeln – auch im Hinblick auf mögliche zukünftige neue Gesetze.

2. Features auf Knopfdruck freischalten

Innovation entsteht immer an den Grenzen des Machbaren. Immer öfter verlangen Kunden Funktionen, die nicht zum Standardrepertoire gehören. Dank zunehmender Digitalisierung hat der Hersteller nicht mehr nur die Wahl, Individualisierungswünsche entweder abzulehnen oder sich in Sonderausführungen zu verzetteln. Mit einer durchdachten Produktarchitektur kann er Varianten in einem einzigen Produkt konsolidieren. Spezifische Anforderungen der Kunden bedient er per Softwaresteuerung. Das Prinzip: Features auf Knopfdruck.

Ein bekannter US-amerikanischer Hersteller von Elektro-Autos macht bereits vor, wie es funktioniert. Es gibt unterschiedliche Anwendungsfälle, die sich analog auf Maschinen und Anlagen übertragen lassen und neue Geschäftsmodelle mit sich bringen:

a) Mehr Leistung kaufen

Beim E-Auto geht es um Höchstgeschwindigkeit oder Beschleunigungsverhalten. Bei Anlagen könnte der Kunde gegen Bezahlung etwa einen zusätzlichen Antrieb freischalten oder virtuell die nächsthöhere Modellvariante kaufen. Das alles kann dauerhaft gelten oder on demand für eine bestimme Zeit, falls der Kunde seinen Durchsatz nur vorübergehend steigern muss.

b) Features freischalten

Dies kann beispielsweise eine integrierte Kamera sein, die optische Verfahren zur Oberflächenkontrolle ermöglicht. Solche optionalen Hardware-Features müssen natürlich standardmäßig in jeder Anlage verbaut sein, egal ob der Kunde sie später nutzt oder nicht. Das muss keine Mehrkosten bedeuten, denn standardisierte Komponenten und Plattformen senken die physikalische Vielfalt von Teilen und Varianten.

c) Goodies

Der Hersteller kann bei E-Auto Fahrern, die sich etwa in einem Katastrophengebiet befinden, gezielt mehr Reichweite geben – indem die Softwaresteuerung regelt, dass die Batterie ausnahmsweise weiter leergefahren werden kann als üblich. Analog können Anlagenhersteller ihren Kunden in bestimmten Situationen gezielt besondere Möglichkeiten einräumen.

d) Updates und Verbesserungen

Tritt im Betrieb einer Anlage ein Problem auf, das sich softwareseitig lösen lässt, so kann der Hersteller alle weiteren Anlagen aus der Ferne ebenfalls neu konfigurieren und seinen Kunden so viele Probleme ersparen. Beim E-Auto betraf dies in der Vergangenheit schon mal das Bremsverhalten.

Features auf Knopfdruck ermöglichen einen flexibleren Umgang mit dem Produkt, bei geringerem Aufwand und Kosten – viele Vorteile also für Hersteller und Anwender.

Bei Hardwarekomponenten sollte der Hersteller von vornherein in die Zukunft planen – auch für Anwendungsfälle, die es noch gar nicht gibt. Als die ersten Smartphones auf den Markt kamen, hatten sie bereits Bewegungs- und Lagesensoren. Die ersten Apps, die davon etwa für einen Kompass sinnvoll Gebrauch machten, wurden erst danach entwickelt. Es kann sich also lohnen, etwa günstige Sensoren proaktiv zu verbauen, auch wenn Anwendungen dafür sich erst noch finden müssen.

Die Standardisierung von Anlagen für Features auf Knopfdruck bringt nicht nur in Entwicklung und Betrieb Einkaufsvorteile, weniger Komplexität und geringe Fehleranfälligkeit. Sie steigert auch den Wiederverkaufswert der Anlage, in der ja bereits weitere Features und Modellvarianten enthalten sind. Eine Umrüstung findet ohne Umbau statt – einfach per Knopfdruck. Der höhere Restwert zum Ende einer ersten Einsatzphase macht eine derart flexibel einsetzbare Anlage für Kunden noch attraktiver.

Die längere Lebensdauer und ein mögliches „Second Life“ bedient auch den wichtigen Aspekt der Nachhaltigkeit. Die Europäische Union (EU) treibt das Konzept der Circular Economy mit Nachdruck voran. Eine flexiblere Nutzung und längere Einsatzzeiten kommen dem entgegen. Die Anlage behält einen Großteil ihres Wertes und muss nicht entsorgt werden.

Digitalisierung und Virtualisierung von Features unterstützen das Konzept der Circular Economy.
EY Deutschland
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3. Als Plattformbetreiber auftreten

Ähnlich wie bekannte Start-ups der Sharing Economy können auch Maschinen- und Anlagenbauer als Plattformbetreiber auftreten und dadurch an nachgelagerten Wertschöpfungsschritten partizipieren. Dabei geht es nicht mehr nur um das eigene Produkt. Auch namhafte Autohersteller betreiben mittlerweile gemeinsam Plattformen für Car-sharing und Taxidienste. Dort vermitteln sie Transportbedarf – unabhängig vom Hersteller der letztlich eingesetzten Fahrzeuge.

Im Maschinen- und Anlagenbau sind neue Plattformen denkbar, auf denen nicht nur die eigenen Anlagen, sondern auch Produkte von Wettbewerbern vernetzt sind. Die einen Kunden können ihre zusätzlichen Produktionskapazitäten dort anbieten – die anderen dazu buchen, um Produktionsspitzen, kurzfristige Schwankungen oder Ausfälle eigener Maschinen auszugleichen. Der Betreiber der Plattform verdient auf diesem Weg an Anlagen mit, die er gar nicht selbst betreibt.

Ein Hersteller muss auch nicht alles selbst entwickeln, sondern kann Schnittstellen von Hardware und Software an seinen Anlagen freigeben, etwa im Robotik-Bereich. Andere könnten dann unterschiedlichste Soft- und Hardware-Erweiterungen entwickeln, die sich dort einsetzen lassen. Gegen eine Umsatzbeteiligung nimmt der Hersteller sie auf seine Plattform.

Potenziale erkennen

Dem Maschinen- und Anlagenbau ermöglicht Digitalisierung zahlreiche neuartige, lukrative Umsatzmöglichkeiten. Um davon zu profitieren, müssen Hersteller aktiv werden und Geschäftsmodell-Entwicklung betreiben: Was ist in der eigenen Branche möglich, mit welchen Modellen lässt sich Geld verdienen? Und auf Engineering-Seite: Welche Variantenvielfalt ist nötig, wie kann sie per Software aktiviert werden?

Die Branche steht am Beginn einer aufregenden Entwicklung. Das Potenzial, mit Digitalisierung Geld zu verdienen, ist noch nicht überall bekannt. Die Zeit, die Weichen zu stellen, ist jetzt.

Fazit

Die große Chance von Industrie 4.0 für Maschinen- und Anlagenbauer liegt nicht in Effizienz und Kostenvorteilen. Es ist die Möglichkeit, dank Digitalisierung ganz neue Geschäftsmodelle zu entwickeln und profitabel zu betreiben. Dabei können sie auf bereits Vorhandenes setzen: etwa gespeicherte Nutzungsdaten oder Anlagen mit standardmäßig verbauten Features, die nur noch per Software freigeschaltet werden müssen. So sparen sie Kosten und Ressourcen und erschließen sich neue profitable Umsatzpotenziale.