8 Minuten Lesezeit 17 Juni 2020
Female researcher with tube

Warum viel Forschung nicht immer viel Entwicklung bedeutet

Von Klaus Ort

Partner des Marktsegments Life Sciences & Gesundheitswesen, EY Strategy & Transactions GmbH | Europe West

Erfahrener Partner mit Blick für Leistungs- und Wertsteigerung. Als fünffacher Familienvater sind Zusammenhalt und Wertschätzung für ihn nicht nur die Kernattribute für beruflichen Erfolg.

8 Minuten Lesezeit 17 Juni 2020

Die Pharmaindustrie konzentriert sich aktuell auf COVID-19. Am Ende könnte ein Game Changer stehen – oder Game over.

Es gibt etwas, das die meisten von uns eint: Hätte uns jemand im Januar gesagt, was uns in den kommenden Monaten erwarten würde – wir hätten es nicht geglaubt. Auch ich hätte nicht geglaubt, welche unglaublichen Kräfte der Ausbruch einer Pandemie in der Pharmaindustrie entfalten kann.

Kollaborationen über Unternehmensgrenzen hinweg, beschleunigte Verfahren, die Freisetzung immenser Beträge zur Erforschung und Bekämpfung der Infektionskrankheit COVID-19: Weltweit arbeiten Pharmaunternehmen gerade an 242 Therapeutika, 161 Impfstoffen und rund 618 Diagnostiktests. Das ist Stand heute; morgen werden die Zahlen bereits andere sein, denn sie ändern sich täglich. Dieses enorme Volumen im Bereich Forschung und Entwicklung (F&E) verlangt nach näherer Betrachtung. Nur so können wir einschätzen, was am Markt passiert, wohin er sich bewegt und wo er womöglich stagniert – und auch, welchen Beitrag zur Bewältigung der Corona-Pandemie wir am Ende erwarten können.

COVID-19: Forschung und Entwicklung

242

Therapeutika werden weltweit aktuell ungefähr getestet.

Die erste Säule der Forschung: Therapeutika

Therapeutika zielen bei viralen Erkrankungen wie COVID-19 in erster Linie darauf ab, den Verlauf der Krankheit abzumildern, indem sie beispielsweise die Ausbreitung der Viren im Körper hemmen. Andere Medikamente können außerdem der Linderung einzelner Symptome dienen bzw. eine fatale Kettenreaktion im Körper unterbrechen, die zu einer Überreaktion des Immunsystems und dann schließlich zum Tod führt. Wenn wir über die Entwicklung von 242 Therapeutika sprechen, sprechen wir allerdings nicht über 242 neue Wirkstoffe, die erforscht werden. Vielmehr untersuchen viele Pharmaunternehmen auch die Anwendung von Produkten, die bereits am Markt sind oder die in der klinischen Phase III bereits eine Zulassung für eine andere Indikation wie Ebola, HIV oder Malaria haben. Das ist sinnvoll, denn diese Produkte könnten im Erfolgsfall eine schnelle Zulassung für COVID-19 erhalten, weil sie bereits Hürden genommen haben, die Therapeutika in der präklinischen Phase oder in den klinischen Phasen I und II noch bevorstünden. Hier würde noch viel Zeit verstreichen, bis alle offenen Fragen geklärt sind. 

Niemandem ist mit dem Versuch geholfen, den Teufel mit dem Beelzebub auszutreiben.

Remdesivir ist ein Beispiel für so ein Phase-III-Produkt. Eigentlich ein Präparat zur Anwendung bei Ebola, hat es einigen COVID-19-Patienten zu einer schnelleren Genesung verholfen. In den USA hat Remdesivir für den begrenzten Einsatz gegen SARS-CoV-2 seit Mai eine Ausnahmegenehmigung; bei der Europäischen Arzneimittelbehörde EMA läuft das Verfahren.

Dennoch muss man Wirkung und Nebenwirkung bei der Anwendung von Produkten genau abwägen, denn niemandem ist mit dem Versuch geholfen, den Teufel mit dem Beelzebub auszutreiben. Remdesivir wird auch in Kombination mit Immunmodulatoren getestet, der zweiten Wirkstoffgruppe nach den Virenhemmern, die in der aktuellen Corona-Forschung eine große Rolle spielen. Insofern resultiert die hohe Zahl der Therapeutika-Tests auch aus Dopplungen, bei denen einzelne Wirkstoffe parallel in Kombination mit anderen untersucht werden.

COVID-19: F&E weltweit

161

Impfstoffe werden aktuell ungefähr getestet.

Die dritte Testgruppe bilden Medikamente gegen Lungenerkrankungen, da die Lungenentzündung eine typische Folgeerkrankung der SARS-CoV-2-Infektion ist. Hinzu kommen an vierter Position Herz-Kreislauf-Präparate: Es hat sich herauskristallisiert, dass COVID-19 massive Auswirkungen auf das biologische Gleichgewicht im Körper hat und die Todesursache nicht das Virus selbst ist, sondern die aus der Infektion folgenden Immun- oder Organreaktionen.

Dieses Gesamtbild relativiert die stetig steigende Zahl der Therapeutika-Tests mindestens zu einem Teil, zu einem anderen steckt auch Aktionismus dahinter, der der Extremsituation und dem Druck, etwas unternehmen zu müssen, geschuldet ist. Auch Erfolgsmeldungen, die nur bedingt verifiziert sind, bringen Unternehmen Schlagzeilen – und sei es nur kurzfristig.

Die zweite Säule der Forschung: Impfstoffe

Vor wenigen Wochen befanden sich erst zwei Impfstoffe gegen COVID-19 in der klinischen Erprobung, mittlerweile sind es zehn und jeden Tag können es mehr sein. Auch hier wird mit Hochdruck gearbeitet, dennoch dürfen die Gesetzmäßigkeiten nicht missachtet werden. Ein Impfstoff muss zwei elementare Voraussetzungen erfüllen: Er muss sicher und wirksam sein. Erst wenn diese Faktoren durch Tests bestätigt und dokumentiert sind, darf eine Zulassung erfolgen. Dieser Prozess kostet Zeit, die wir uns bei allem Verlangen nach einem Impfstoff nehmen müssen.

Danach wartet eine zweite Hürde: Je nachdem, welche Art von Impfstoff am Ende das Rennen machen könnte, steht die Frage im Raum, wie schnell wir ihn in der Masse produzieren können. Unter Umständen müssen dafür neue Fabriken gebaut werden, weil sich nicht jede einfach umfunktionieren lässt. Obwohl als Motto zur Bekämpfung von COVID-19 „whatever it takes“ ausgerufen ist, Kapital und Kapazitäten dafür nahezu grenzenlos zur Verfügung gestellt werden: Es würde dauern. Noch länger, bis tatsächlich 60 Prozent der Bevölkerung geimpft wären und noch einmal länger, wenn die Impfung ein Arzt vornehmen muss.

Seit 30 Jahren sucht die Wissenschaft nach einem Impfstoff gegen Malaria. Es gibt ihn bis heute nicht.

Ohne desillusionierend sein zu wollen: Wir dürfen hinsichtlich des Impfstoffes keine Wunder erwarten. Seit 30 Jahren sucht die Wissenschaft nach einem Impfstoff gegen Malaria. Es gibt ihn bis heute nicht.

Eine Analyse von Aktienkursen der Pharmaunternehmen, die mit Forschungsergebnissen zu COVID-19 in den Medien standen, zeigt: Die Erwartung im Markt ist eher verhalten als euphorisch. Auf Investorenseite scheint die Vernunft zu regieren, wie mit der Gesamtsituation umzugehen ist. Sollte es gelingen, einen Impfstoff zu entwickeln, wird dieser für das Pharmaunternehmen ein Game Changer, für kleinere sogar ein massiver. Sie bräuchten zur Bewältigung der Aufgabe Unterstützung und Partnerschaften, aber daran würde es nicht scheitern – „whatever it takes“ eben.

Die dritte Säule der Corona-Forschung: Diagnostiktests

Die dritte Säule ist zahlenmäßig zugleich die höchste: Rund 618 Diagnostiktests beziffern hier ein sehr großes Volumen. Bei genauerer Betrachtung beginnt diese Säule allerdings auch schnell zu bröckeln, denn viele Tests sind erwiesenermaßen untauglich. Mit 60 Prozent ist ihre Zuverlässigkeit gerade einmal zehn Prozent höher als würde man eine Münze werfen. Um es offen auszusprechen: Hier blökt eine ganze Herde schwarzer Schafe, die die Gelegenheit nutzen möchte, schnelles Geld zu machen. 

F&E COVID-19

618

Diagnostiktests werden aktuell ungefähr getestet.

Doch da wird sich klar die Spreu vom Weizen trennen. Wir brauchen Tests, die eine Zuverlässigkeit von 95 bis 97 Prozent liefern, idealerweise günstig, freiverkäuflich zu erwerben und eigenhändig anzuwenden sind, vergleichbar mit einem Schwangerschaftstest. Denn diese Tests müssen in Massen produziert werden. Da machen nur wenige Cent pro Stück in der Summe einen großen Unterschied. Mit den Kosten hängt auch die Frage der Logistik zusammen: Müssten Blutproben in ein Labor geschickt und dort mit teuren Molekulardiagnostikgeräten untersucht werden, wären breitflächige Massentests nicht umsetzbar. Die in Apotheken erhältlichen Schnelltests sind bislang offensichtlich nicht aussagekräftig genug, doch es gibt Anlass zur Hoffnung, dass sich das mittelfristig ändert.

Wo Kapital und Kapazitäten fehlen, die COVID-19 verschlingt

Wenn Geld und Einsatz die Richtung wechseln, ist die logische Schlussfolgerung, dass beides an anderer Stelle fehlt. Es ist zu erwarten, dass sich die Steigerung der F&E-Ausgaben, die 2019 14,2 Prozent betrug, in diesem Jahr noch erhöhen wird, weil die akute Corona-Krise weniger Planungszeitraum und strukturierte Vorbereitung bot und dadurch automatisch mehr Geld (fehl)investiert wird. Zumal schätzungsweise 97 Prozent der Therapeutika, Impfstoffe und Tests, die sich momentan in der Forschung befinden, nie das Licht der Welt erblicken, sondern als Abschreibung enden werden. Die Konzentration auf die Katastrophe wirft die Frage auf: An welchen Punkten entsteht hierdurch eine Unterfinanzierung?

Wenn ein Blockbuster-Medikament mit einem Mindestumsatz von einer Milliarde Dollar ein Jahr später auf den Markt kommt, kommt auch die Milliarde erst ein Jahr später.

Einige Trials, die in der Vergangenheit begonnen wurden, sind jetzt auf der Zeitschiene nach hinten gerutscht. Das hängt auch mit Umständen wie erschwertem Patienten-Recruiting oder veränderten Bedingungen zusammen, bei denen Patienten beispielsweise nicht mehr zur Verabreichung von Biopharmazeutika ins Krankenhaus kommen konnten.

Hier entstehen Verzögerungen, die Mehrkosten nach sich ziehen werden. Die größte Auswirkung werden wir bei Launches sehen, die Corona-bedingt verschoben werden mussten: Wenn ein Blockbuster-Medikament mit einem Mindestumsatz von einer Milliarde Dollar ein Jahr später auf den Markt kommt, kommt auch die Milliarde erst ein Jahr später. Das nimmt direkten Einfluss auf die Gewinn-Verlust-Rechnung.

Für manche Studien, die aufgrund der akuten Situation ihren klinischen Endpunkt nicht erreichen können, bedeutet das gegebenenfalls danach: „Zurück auf LOS!“. Eine solche Entwicklung wäre nicht nur extrem teuer. Sie kann im Zweifelsfall auch bedeuten, dass das Unternehmen von einem Wettbewerber überholt wird und nicht mehr das erste am Markt mit dem neuen Medikament ist. 

Durch die Corona-Krise und Störungen der Lieferketten ist es zu Stockouts gekommen, also leeren Regalen, und das in nicht unerheblichem Maße und auch in Bezug auf Krebsmedikamente.

Durch die Corona-Krise und Störungen der Lieferketten ist es zu Stockouts gekommen, also leeren Regalen, und das in nicht unerheblichem Maße. Sofern es Generika sind, kann man auf andere Produkte ausweichen, aber der Patient bekommt dann eben nicht das, was er gewohnt ist und womöglich besser vertragen hat.

Der Ausnahmezustand in den Krankenhäusern hat dazu geführt, dass teilweise notwendige Therapien nicht gestartet oder verschoben und nötige Diagnosen nicht erstellt wurden. Es ist zu befürchten, dass beispielsweise Krebspatienten nach den Lockerungen Diagnosen erhalten, bei denen nicht mehr viel Hilfe geleistet werden kann, weil die Krankheit zu weit fortgeschritten ist. Das ist ebenfalls eine Nebenwirkung des Shutdowns.

Nach bestem Wissen und Gewissen

Die Corona-Krise hat in den Life Sciences möglich gemacht hat, was bisher kaum möglich war. Die COVID-19-Forschung birgt erheblichen finanziellen Impact für die Pharmabranche und potenziell auch eine ebensolche Verschiebung im Markt. Insgesamt wird dies nur eine Episode im Life-Sciences-Sektor sein, denn andere Themen wie Krebs oder Herz-Kreislauferkrankungen bleiben relevant. COVID-19 erzeugt lediglich ein temporäres Bild.

Immanent wichtig ist, dass die Beschleunigung in der Forschung und Entwicklung nicht zu Lasten der regulatorischen Sorgfalt geht. Wenn wir am Ende Therapeutika und/oder einen Impfstoff zur Verfügung haben, sollten diese Produkte nach bestem Wissen und Gewissen anwendbar sein – sicher und wirksam.

Fazit

So viele Hebel hat der Life-Sciences-Sektor mutmaßlich noch nie gleichzeitig in Bewegung gesetzt: Die Erforschung und Bekämpfung von COVID-19 hat in diesen Zeiten höchste Priorität. Doch hinter den Zahlen aus Forschung und Entwicklung (F&E) steckt in Teilen auch wenig zielführender Aktionismus. Dabei kommt es am Ende darauf an, einwandfreie Produkte auf den Markt zu bringen, die sicher und wirksam zugleich sind. 

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