Mittelpunkt der wirtschaftlichen Interessen
Für die Beurteilung, wo der Mittelpunkt der wirtschaftlichen Interessen liegt, will die Finanzverwaltung die folgenden Punkte berücksichtigen (Rn. 16):
- Einnahmequellen und deren Herkunft (bei Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit: Ort der Tätigkeitsausübung, zivilrechtliches Arbeitsverhältnis, Rückkehrabsicht)
- Dauer der befristeten Tätigkeit im anderen Staat
- Dauer der zuvor im Heimatland ausgeübten Tätigkeit
- Vermögen (Belegenheitsort und ggf. Ort der Vermögensverwaltung)
Hier soll eine befristete Entsendung mit ruhendem Vertrag im Heimatland und Rückkehrzusage (also der Standardfall) für eine Rückkehrabsicht und damit auch für wirtschaftliche Interessen im Heimatland sprechen.
Lohnsteuerabzug
Mit der Würdigung der gesamten Umstände des Einzelfalls liegt die Finanzverwaltung zwar auf einer Linie mit dem BFH, doch liegen die meisten geforderten Informationen dem Arbeitgeber allein schon aus datenschutzrechtlichen Gründen nicht vor (etwa Art und Höhe des Vermögens, Höhe privater Einkünfte, Wohnort von Freunden und Verwandten). Für zum Lohnsteuereinbehalt verpflichtete Arbeitgeber stellt sich daher die Frage, wie sie die Ansässigkeit bestimmen sollen. Doch darauf gibt das BMF-Schreiben leider (immer noch) keine Antwort. So dauern die meisten Entsendungen etwa drei Jahre und bewegen sich daher in der „Grauzone“ (Einsätze von mehr als einem und weniger als fünf Jahren).
Letztlich kann sich der Arbeitgeber nur an der geplanten Länge des Auslandseinsatzes orientieren und daran, ob Ehepartner und Kind(er) im Heimatland bleiben oder den Mitarbeiter begleiten. Als Alternative kommt lediglich die Beauftragung etwa einer Steuerberaterin bzw. eines Steuerberaters mit der Beurteilung der Ansässigkeit in Betracht.
Veranlagung
Aus den oben genannten Gründen muss die endgültige Beurteilung der Ansässigkeit in der Regel im Veranlagungsverfahren stattfinden. Bei vielen Sachverhalten kann sich je nach Interpretation und Gewichtung der einzelnen Kriterien der eine oder der andere Vertragsstaat als Ansässigkeitsstaat ergeben. Es kann daher nicht ausgeschlossen werden, dass in bestimmten Fällen die Finanzverwaltung im Rahmen der Veranlagung von der Beurteilung der Ansässigkeit beim Lohnsteuerverfahren abweichen wird. Dies gilt selbst dann, wenn ein Steuerberater die lohnsteuerliche Behandlung beurteilt hat. Ein erhöhter Verwaltungsaufwand ist die Folge.
Beispiele im BMF-Schreiben
Wenig praxisnah
Schon bisher waren die Beispiele zur Ansässigkeitsprüfung wenig praxisnah. Während tatsächlich die meisten Entsendungen auf zwei bis drei Jahre befristet sind, betrafen die Beispiele Auslandseinsätze von einem bzw. von fünf oder mehr Jahren. Auch die neuen Beispiele erläutern im Wesentlichen Fälle, die eher selten vorkommen oder relativ eindeutig sind. Wer auf pragmatische Lösungsansätze für die gängigen Sachverhalte gehofft hat, wird enttäuscht. Hilfreicher für Betroffene und Berater wäre die Diskussion häufig auftretender Grenzfälle gewesen.
So bringen drei der sechs Beispiele zur Bestimmung der Ansässigkeit (Abschnitt 1.2.1) keine neuen Erkenntnisse:
- Beispiel 1 (Rn. 17 ff.): Entsendung ohne Familienbegleitung
- Beispiel 2 (Rn. 19, bisher Beispiel 3, Rn 14): Entsendung von einem Jahr
- Beispiel 5 (Rn. 22): Entsendung für fünf oder mehr Jahre mit Familienbegleitung (bisher Beispiel 4, Rn. 15)
Verlängerung der Entsendung
Beispiel 3 (Rn. 20) betrifft eine Entsendung für zwei Jahre, die im zweiten Jahr auf sechs Jahre verlängert wird. Hier verlagert sich die Ansässigkeit, wenn objektiv feststeht, dass der Auslandsaufenthalt verlängert wird. Dies soll das Datum der schriftlichen Verlängerung sein – grundsätzlich kein überraschendes Ergebnis, da schon bisher eine Ex-ante-Betrachtung anzustellen war.
Kettenentsendung
Beispiel 4 (Rn. 21) betrifft eine Kettenentsendung von je einem Jahr in vier verschiedene Staaten. Die Dauer ist jeweils zu kurz für eine Ansässigkeitsverlagerung. Das Beispiel ist für die Praxis wenig hilfreich, da dieser Fall extrem selten sein dürfte. Interessanter wäre ein Beispiel zu einer Kettenentsendungen mit einer Dauer von jeweils zwei bis drei Jahren im jeweiligen Land. Dass weiterhin der Lebensmittelpunkt im Inland bleibt, wird mit jedem Jahr zweifelhafter. Spätestens bei der dritten Entsendung in Folge (bzw. einer Gesamtlänge von vier Jahren) dürfte normalerweise klar sein, dass sich der Lebensmittelpunkt nicht mehr eindeutig in Deutschland befinden kann. Unseres Erachtens sollte dann auf den gewöhnlichen Aufenthalt abgestellt werden.
Dreijährige Entsendung mit Familienbegleitung
Die meisten neuen Erkenntnisse liefert unseres Erachtens das neue Beispiel 6 (Rn. 23). Der Arbeitnehmer ist in Deutschland aufgewachsen. Er ist dort Eigentümer eines selbst genutzten Einfamilienhauses und vermietet eine weitere Immobilie. Sein deutscher Arbeitgeber entsendet ihn für drei Jahre ins Ausland. Rund 30 Arbeitstage im Jahr übt er seine Tätigkeit in Deutschland aus. Die Familie begleitet ihn ins Ausland. Sprache, Kultur und Gesellschaft des aufnehmenden Staates sollen ihm fremd sein. Weihnachten verbringt er in Deutschland.
Hier stellt die Finanzverwaltung bei den persönlichen Interessen unter anderem darauf ab, dass die gewichtigen Interessen im Ausland nicht auf Dauer angelegt sind (Rückkehrabsicht). Dabei wird beispielsweise nicht angesprochen, wie wesentlich die Beziehungen zu den in Deutschland verbliebenen Eltern, Geschwistern und Freunden im Vergleich zu denen zur Kernfamilie (Ehefrau und Kinder) sind.
Auch bei den wirtschaftlichen Interessen argumentiert die Finanzverwaltung damit, dass die Einnahmen im Ausland nur vorübergehender Natur sind – ein Umstand, den alle befristeten Auslandseinsätze gemeinsam haben. Außerdem führt sie an, dass die während der Entsendung erzielten ausländischen Einkünfte geringer sind als die gesamten inländischen Einkünfte (offensichtlich auch außerhalb des Entsendezeitraums, denn andernfalls wären die ausländischen Einkünfte bei inländischen Mieteinnahmen von 12.000 Euro jährlich und einem Bruttojahresgehalt von 100.000 Euro höher).
Die Finanzverwaltung scheint also dazu übergehen zu wollen, bei den wirtschaftlichen Interessen eine Gesamtbetrachtung über die gesamte (bisherige) Lebenszeit vorzunehmen. Diese Entwicklung überrascht, da sich eine solche Gesamtbetrachtung unseres Erachtens nicht aus dem Wortlaut des OECD-MA ergibt. Das BFH-Urteil vom 31.10.1990, I R 24/89, das in Rn. 16 erwähnt wird, könnte zwar für diese Sichtweise sprechen, doch auch hier lohnt sich der Blick in den Sachverhalt und die Urteilsbegründung. Schon der Leitsatz lässt erkennen, dass der BFH eine differenziertere Betrachtung angestellt hat:
„Bestehen zu einem Vertragsstaat die deutlich engeren persönlichen Beziehungen und außerdem noch ins Gewicht fallende wirtschaftliche Beziehungen und zu dem anderen Vertragsstaat nur gegenwartsbezogene wirtschaftliche Beziehungen, die sich voraussichtlich in der Zukunft abbauen werden, so liegt der Mittelpunkt der Lebensinteressen in dem erstgenannten Vertragsstaat.“ Liest man weiter, stellt sich heraus, dass der aus Großbritannien stammende Vorstandsvorsitzende einer deutschen Aktiengesellschaft in seiner Heimat über ein selbst genutztes Haus verfügte, in dem seine Familie lebte. Zudem hatte er in Deutschland lediglich ein Hotelzimmer angemietet. Im Streitjahr war er an 60 Tagen in Großbritannien und an 137 Tagen in Deutschland tätig, die restlichen Arbeitstage in Drittländern.