Die Grenzgängerregelung des DBA-Schweiz, die dem Wohnsitzstaat das Besteuerungsrecht zuweist, setzt voraus, dass die betreffende Person nicht mehr als 60 „Nichtrückkehrtage“ im Veranlagungszeitraum hatte. Ein Nichtrückkehrtag ist insbesondere dann gegeben, wenn die Rückkehr an den Wohnort nicht möglich oder nicht zumutbar ist. Dabei sind verschiedene Faktoren zu berücksichtigen. Daher kann nicht allein die Entfernung oder das gewählte Verkehrsmittel ausschlaggebend sein. So das Finanzgericht Baden-Württemberg (Urteil vom 23.11.2022, Aktenzeichen 12 K 623/22).
Ansässigkeit in Deutschland und Tätigkeit in der Schweiz
Das Urteil erging zu dem folgenden Sachverhalt: Im Streitjahr (2019) war der Kläger im Sinne des DBA-Schweiz in Deutschland ansässig und bei einer AG im Kanton Thurgau in der Schweiz beschäftigt. In der Schweiz hatte er eine Einzimmerwohnung angemietet. In den Jahren 2017 und 2018 war die Vergütung für diese Tätigkeit in Deutschland als steuerfrei behandelt worden.
Für das Jahr 2019 bezog das deutsche Finanzamt jedoch die in der Schweiz erzielten Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit in die steuerliche Bemessungsgrundlage ein. Nach der neuen Verordnung zur Umsetzung von Konsultationsvereinbarungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Schweizerischen Eidgenossenschaft (KonsVerCHEV) vom 12.10.2018 sei eine tägliche Rückkehr zumutbar. Bei Nutzung eines Kfz sei die kürzeste Wegstrecke von 88 Kilometern maßgeblich.
Laut FG fällt Kläger nicht unter die Grenzgängerregelung
Das Finanzgericht Baden-Württemberg (FG) ist dem entgegengetreten. Der Kläger sei kein Grenzgänger im Sinne des Art. 15a DBA-Schweiz. In seiner Urteilsbegründung thematisiert das FG unter anderem den Begriff der Regelmäßigkeit.
Regelmäßige Rückkehr
„Regelmäßig“ im Sinne der Grenzgängerregelung des Art. 15 Abs. 2 DBA-Schweiz beziehe sich nur auf das Verb „zurückkehrt“. Bei Anwendung von Art. 15a Abs. 2 Satz 2 DBA-Schweiz sei ausschließlich entscheidend, dass der Steuerpflichtige nicht die Grenze von 60 schädlichen Nichtrückkehrtagen überschreite, wenn er nicht jeweils nach Arbeitsende an den Wohnort zurückkehrt (Anschluss an das BFH-Urteil vom 01.06.2022, I R 32/19; insofern Ablehnung des BMF-Schreibens vom 03.05.2018). Eine Regelmäßigkeit könne auch vorliegen, wenn Arbeitnehmer nur einmal die Woche nach Deutschland zurückkehren.
Rückkehr nicht zumutbar
Ein Nichtrückkehrtag im Sinne des Art. 15a Abs. 2 Satz 2 DBA-Schweiz liegt laut FG insbesondere dann vor, wenn die Rückkehr nach Deutschland aus beruflichen Gründen nicht möglich oder nicht zumutbar ist. Dabei komme es auf die Art der Tätigkeit, den Arbeitsbeginn, das Arbeitsende, die Entfernung und die Zeitdauer für eine Fahrt zwischen inländischer Wohnung und Beschäftigungsort an und nicht ausschließlich auf die Entfernung zwischen Wohn- und Beschäftigungsort.
Neue Konsultationsvereinbarung
Entscheidend für die Zuteilung eines Besteuerungsrechts nach Art. 15a Abs. 2 DBA-Schweiz sei die Rückkehr nach Arbeitsende bzw. die Nichtrückkehr „aufgrund der Berufsausübung“ nach Arbeitsende. Somit könne die Zuteilung des Besteuerungsrechts nicht von der individuellen Entscheidung über das genutzte Verkehrsmittel abhängig sein (entgegen der seit 2019 geltenden KonsVerCHEV).
Einzelfallentscheidung
Die neue KonsVerCHEV verwende die Begriffe „namentlich“ und „insbesondere“. Dies bedeutet nach Auffassung des FG, dass die Typisierung im Einzelfall widerlegbar ist. Daher sei auch bei einer möglichen Route von weniger als 100 Kilometern zwischen Wohn- und Tätigkeitsort eine Einzelfallentscheidung erforderlich, ob ein Nichtrückkehrtag vorliege. Bei dieser Auslegung sei die KonsVerCHEV mit dem DBA-Schweiz vereinbar.
Ermittlung der Nichtrückkehrtage
Das FG hat bei seiner Ermittlung der Nichtrückkehrtage die Tage berücksichtigt, an denen der Kläger fast zehn Stunden oder mehr gearbeitet hat. An den betreffenden Tagen sei im Hinblick auf den Arbeitsbeginn um 6 Uhr und die durchschnittliche Fahrtzeit zum Wohnort in Deutschland eine Rückkehr aus beruflichen Gründen nicht zumutbar gewesen. Auf dieser Grundlage ergeben sich mindestens 65 Nichtrückkehrtage im Streitjahr.
Das FG weist darauf hin, dass die Ermittlung der Nichtrückkehrtage nach der 2019 gültigen Konsultationsvereinbarung zum gleichen Ergebnis führe – vorausgesetzt sie werde wie oben erläutert ausgelegt.
Somit seien die Voraussetzungen für die Anwendung der Grenzgängerregelung und damit diejenigen für ein deutsches Besteuerungsrecht nicht erfüllt. Der Kläger war daher kein Grenzgänger und die Einkünfte sind in Deutschland von der Besteuerung freizustellen.
Nichtzulassungsbeschwerde
Das Gericht hat die Revision nicht zugelassen, da nach seiner Auffassung die entscheidungserheblichen Fragen keine grundsätzliche Bedeutung haben. Die Finanzbehörde sieht dies allerdings anders und hat Nichtzulassungsbeschwerde eingelegt (I B 3/23).