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EU: Beschäftigte einer Fluggesellschaft – anzuwendendes Sozialversicherungsrecht


Das nicht von E101-Bescheinigungen erfasste fliegende Personal von Ryanair, das täglich 45 Minuten in einem für die Besatzung bestimmten Raum auf dem Flughafen von Bergamo arbeitet und sich für den Rest der Arbeitszeit an Bord von Flugzeugen dieser Fluggesellschaft befindet, unterliegt den italienischen Rechtsvorschriften der sozialen Sicherheit (Europäischer Gerichtshof, Urteil vom 19.05,2022, C-33/21, Pressemitteilung Nr. 88/22).

Tätigkeit des Personals am Flughafen

Dem Urteil liegt folgender Sachverhalt zugrunde: Ryanair verfügte auf dem Flughafen Orio al Serio über einen mit Computern, Telefonen etc. ausgestatteten Raum für die Besatzung. Das gesamte dem Flughafen zugewiesene Personal von Ryanair nutzte diesen Raum zur Vor- und Nachbereitung jeder Schicht und die Kommunikation mit dem Personal am Unternehmenssitz in Dublin. Der Umfang dieser Tätigkeit belief sich auf 45 Minuten pro Tag. Nach einer Inspektion vertraten die italienischen Behörden die Auffassung, dass die Mitarbeiter vom 25.01.2008 bis zum 25.01.2013 in der italienischen Sozialversicherung zu versichern waren.

Beschäftigte ohne E101-Bescheinigungen

Die zuständige irische Stelle hatte zwar E101-Bescheinigungen ausgestellt, wonach auf die darin genannten Beschäftigten die irischen Rechtsvorschriften der sozialen Sicherheit anwendbar waren; diese Bescheinigungen erfassten allerdings nicht alle 219 Beschäftigten. Daraus hatte das italienische Berufungsgericht geschlossen, dass für das übrige Personal die anzuwenden Rechtsvorschriften der sozialen Sicherheit bestimmt werden müssten.

Berufung und Beschwerdeverfahren

Das Berufungsgericht hielt die italienischen Rechtsvorschriften für nicht anwendbar, woraufhin die italienischen Behörden Beschwerde einlegten. Der mit der Beschwerde befasste Kassationsgerichtshof (Italien) hat wiederum den Europäischen Gerichtshof (EuGH) hinzugezogen. Er hat dem EuGH die Frage vorgelegt, welche Rechtsvorschriften der sozialen Sicherheit in dem strittigen Sachverhalt anzuwenden sind.

Raum ist ständige Zweigstelle bzw. ständige Vertretung

Laut EuGH handelt es sich bei dem Raum auf dem Flughafen Orio al Serio um eine Zweigstelle oder ständige Vertretung im Sinn der Verordnung Nr. 1408/71. Im Geltungszeitraum dieser Verordnung unterlagen daher die Arbeitnehmer den italienischen Rechtsvorschriften der sozialen Sicherheit. Die Verordnung Nr. 1408/71 wurde am 01.05.2010 durch die Verordnung Nr. 883/2004 abgelöst.

Das Unternehmen hatte es versäumt, für das gesamte Flugpersonal E101-Bescheinigungen einzuholen. Für die Beschäftigten ohne Bescheinigung war festzustellen, ob sie in Italien sozialversicherungspflichtig waren.

Rechtsstand ab dem 01.05.2010

Nach der Verordnung Nr. 883/2004 unterliegen Personen, die gewöhnlich in zwei oder mehr Mitgliedstaaten eine Beschäftigung ausüben, den Rechtsvorschriften des Wohnmitgliedstaates, wenn sie dort einen wesentlichen Teil ihrer Tätigkeit ausüben. Als wesentlich gilt ein Anteil von mindestens 25 Prozent. Ob die Beschäftigten ohne E101-Bescheinigung jeweils einen Anteil von 25 Prozent erreichen, hat das vorlegende Gericht zu prüfen.

Raum ist Heimatbasis

Der EuGH weist darauf hin, dass seit 2012 eine neue Kollisionsnorm gilt. Danach gilt die Tätigkeit eines Flug- oder Kabinenbesatzungsmitglieds, bei der Leistungen mit Bezug zu Fluggästen erbracht werden, als in dem Mitgliedstaat ausgeübt, in dem sich die Heimatbasis befindet. Heimatbasis ist der der Ort, an dem das Besatzungsmitglied normalerweise eine Dienstzeit (oder eine Abfolge von Dienstzeiten) beginnt und beendet und wo das Luftfahrtunternehmen nicht für die Unterbringung dieses Besatzungsmitglieds verantwortlich ist.

Das Gericht merkt weiter an, dass der Raum auf dem Flughafen Orio al Serie eine solche Heimatbasis ist. Die ihm zugewiesenen Beschäftigten, für die keine E101-Bescheinigung vorliegt, unterliegen daher den italienischen Rechtsvorschriften der sozialen Sicherheit (Verordnung Nr. 883/2004).

Handlungsempfehlung

Zwar hat inzwischen die Bescheinigung A1 die E101-Bescheinigung abgelöst. Doch das Urteil ist dennoch auch für heutige Sachverhalte relevant.

Bei grenzüberschreitenden Entsendungen sollten jedenfalls nicht nur Fluggesellschaften, deren Beschäftigte Tätigkeiten mit Bezug zu anderen EU-Mitgliedstaaten ausüben, idealerweise bereits vor Beginn der Tätigkeit abklären, welches Sozialversicherungsrecht insgesamt Anwendung findet. Arbeitgeber können so sicherstellen, dass sie die erforderlichen Bescheinigungen für alle betroffenen Mitarbeitenden rechtzeitig einholen und ggf. vorlegen können.

Kontaktpersonen: Thorsten Koch, Nancy Adam