Vorheriges Dialog- und Vermittlungsverfahren nicht erforderlich
Wenn ein Sozialversicherungsträger feststellt, dass eine von ihm ausgestellte A1-Bescheinigung unrichtig ist, kann er sie widerrufen, ohne vorher ein Dialog- und Vermittlungsverfahren mit den Trägern der betroffenen Mitgliedstaaten einzuleiten. Allerdings hat er sowohl die zuständigen Träger als auch die betroffene Person so schnell wie möglich über den Widerruf informieren. Zudem hat er ihnen alle Informationen zur Verfügung zu stellen, die nötig sind, um die Rechte dieser Person zu begründen bzw. festzustellen (EuGH-Urteil vom 16.11.2023, C-422/22).
Erteilung einer A1-Bescheinigung
Grundsätzlich gelten für erwerbstätige Personen die sozialversicherungsrechtlichen Regelungen des Staates, in dem sie erwerbstätig sind. Sind sie jedoch nur vorübergehend grenzüberschreitend innerhalb der EU, in Island, Liechtenstein, Norwegen, der Schweiz oder dem Vereinigten Königreich tätig, ist ausnahmsweise das Recht des Entsendestaates anzuwenden. In diesem Fall ist eine A1-Bescheinigung zu beantragen. Sie dokumentiert, dass die im Ausland tätige Person weiter dem Sozialversicherungsrecht des Entsendestaates unterliegt.
Doch was geschieht, wenn diese Bescheinigung irrtümlich ausgestellt wurde? Die Initiative zur Überprüfung einer A1-Bescheinigung kann entweder vom Sozialversicherungsträger ausgehen, der sie ausgestellt hat, oder von dem Träger, der sie erhält, aber auch von der entsendeten Person.
Empfänger der Bescheinigung beantragt Überprüfung oder Widerruf
Der Träger, der die A1-Bescheinigung des Trägers eines anderen EU-Mitgliedstaates erhält, kann verlangen, dass der ausstellende Träger prüft, ob die Angaben der entsendeten Person bzw. der zugrunde liegende Sachverhalt richtig sind und ob die Bescheinigung gültig ist. Wenn die beiden zuständigen Träger keine Einigkeit erzielen, können sie die Verwaltungskommission anrufen, damit sie zwischen ihnen vermittelt. Damit die betreffende erwerbstätige Person in der Zwischenzeit abgesichert ist, unterliegt sie vorläufig dem Sozialversicherungsrecht der Wohnstaates bzw. des Staates, in dem der Antrag zuerst gestellt wurde.
In dem vom EuGH entschiedenen Fall hat jedoch der polnische Träger, der die Bescheinigung ausgestellt hatte, den Sachverhalt ohne Antrag des anderen Trägers überprüft und die Bescheinigung widerrufen.
Sachverhalt
Ein polnischer, selbständig tätiger Unternehmer sollte im Rahmen eines Projekts in Frankreich ab dem 22.08.2016 bestimmte Dienstleistungen erbringen. Der polnische Sozialversicherungsträger (ZUS) stellte eine A1-Bescheinigung aus, wonach der Unternehmer vom 22.08.2016 bis 21.08.2017 den polnischen Rechtsvorschriften der sozialen Sicherheit unterlag. Der ZUS prüfte den Vorgang von Amts wegen und widerrief diese A1-Bescheinigung, ohne vorher ein Verfahren zur Koordinierung mit dem zuständigen französischen Träger durchzuführen. Der polnische Unternehmer legte gegen den Widerruf Rechtsbehelf ein.
Der Fall ging bis zum obersten Gericht in Polen, das dem EuGH die Frage vorlegte, ob der Träger, der eine A1-Bescheingung ausgestellt hat und feststellt, dass diese Angaben unrichtig sind, die Bescheinigung widerrufen kann, ohne zuvor das Dialog- und Vermittlungsverfahren mit den zuständigen Trägern der betreffenden Mitgliedstaaten einzuleiten.
EuGH-Urteil
Der EuGH stellte zunächst fest, dass der ausstellende Träger eine A1-Bescheinigung von Amts wegen widerrufen kann, also ohne einen Antrag des zuständigen Trägers eines anderen Mitgliedstaates auf Überprüfung und Widerruf. Außerdem sei ein Dialog- und Vermittlungsverfahren zwischen den betreffenden Trägern in diesem Fall – anders als bei einem Antrag des zuständigen Trägers eines anderen Mitgliedstaates – nicht erforderlich.
Insbesondere beeinträchtige diese Auslegung auch nicht die Rechte der Erwerbstätigen oder das mit der EU-Verordnung verfolgte Ziel. Die A1-Bescheinigung begründe keine Rechte, sodass ein Widerruf auch nicht zum Verlust von Rechten führen könne. Außerdem sei sichergestellt, dass der Schutz des betreffenden Erwerbstätigen jederzeit gewährleistet sei. Schließlich müsse der ausstellende Träger (hier der ZUS) sowohl die zuständigen Träger als auch die betreffende Person schnellstmöglich über den Widerruf informieren und ihnen alle Daten und Informationen übermitteln, die erforderlich seien, um die Rechte dieser Person zu begründen und festzustellen.