Der EuGH hat in zwei Urteilen vom 30.03.2023 (C-612/21 „Gmina O.“ und C-616/21 „Gmina L.“) seine Rechtsprechung in Bezug auf die umsatzsteuerliche Unternehmereigenschaft fortgeführt. Als Grundsatzurteil gilt hierbei die Rechtssache „Borsele“ (EuGH-Urteil vom 12.05.2016; C-520/14), in welchem der EuGH der Gebietskörperschaft in Ermangelung einer wirtschaftlichen Tätigkeit die Unternehmereigenschaft entzog. Bislang konnten jPdöR bei defizitären Tätigkeiten mit entsprechender Ausgestaltung dennoch von Vorsteuerüberhängen profitieren. Ist diese Praxis nun vorbei?
Hintergrund
Ob eine juristische Person des öffentlichen Rechts bei defizitären Tätigkeiten als "Steuerpflichtiger" gilt, ist einerseits für die Umsatzsteuerpflicht und andererseits für den Vorsteuerabzug von maßgeblicher Bedeutung. Voraussetzung hierfür ist, dass die jPdöR als Unternehmer im Sinne des § 2 UStG gilt und damit eine gewerbliche Tätigkeit mit einer nachhaltigen Einnahmeerzielungsabsicht ausübt.
Gerade bei defizitärem Handeln ist die Ausgestaltung des gesamten Sachverhalts von besonderer Bedeutung, um weiterhin als umsatzsteuerlicher Unternehmer zu qualifizieren. Defizitäres Handeln liegt immer dann vor, wenn (echte) Zuschüsse gewährt werden oder Entgelte unter Marktpreisen liegen. Hiervon sind regelmäßig die jPdöR betroffen, die Zuschüsse erhalten und bspw. aus sozialpolitischen Gründen keine kostendeckenden Entgelte erheben.
Der EuGH hatte nun Gelegenheit, in zwei polnischen Fällen seine frühere Rechtsprechung (vgl. Rs. „Borsele“ a.a.o.) zur fehlenden Unternehmereigenschaft bei nicht wirtschaftlichem Handeln zu bestätigen und weiter zu konkretisieren. Es gilt: Ohne wirtschaftliche Tätigkeit liegt keine Unternehmereigenschaft vor und damit zwar auch kein umsatzsteuerbarer Ausgangsumsatz, aber – als Kehrseite der Medaille – eben auch kein Vorsteuerabzug.
Nachfolgend sollen die Urteile kurz zusammengefasst und die potenziellen Auswirkungen auf die deutsche Praxis skizziert werden.
EuGH-Entscheidungen
Rs. Gmina O. (Urt. V. 30.03.2023, C-612/21)
In dem Streitfall ging es darum, ob eine polnische Gemeinde als Unternehmer angesehen werden sollte, sodass ihre Umsätze der Besteuerung unterliegen. Die Gemeinde hatte Photovoltaik-Anlagen an Grundstückseigentümer überlassen und nur 25% der förderfähigen Kosten verlangt, da sie 75% der Kosten teils durch einen Zuschuss von Dritten erhalten hatte, teils selbst trug.
Auch wenn der EuGH den Leistungsaustausch dem Grunde nach bejahte, kommt er nach einer umfassenden Bewertung der Umstände in diesem Fall zu dem Schluss, dass die Gemeinde nicht nachhaltig und somit nicht als Unternehmer agiert hat. Es handelte sich lediglich um eine einmalige Leistung an Grundstückseigentümer (Überlassung von PV-Anlagen). Darüber hinaus verkaufte die Gemeinde ihre Leistungen weit unter dem Marktpreis (nur 25% der förderfähigen Selbstkosten). Im Rahmen eines Fremdvergleichs gelangt der EuGH schließlich zu der Einschätzung, dass ein privater Dritter in einer solchen Situation anders gehandelt hätte. Im Ergebnis verneinte der EuGH daher mangels Nachhaltigkeit der Tätigkeit die Unternehmereigenschaft.
Rs. Gmina L. (Urt. V. 30.03.2023, C-616/21)
In einem ähnlichen Fall ging es darum, dass einer polnischen Gemeinde die Aufgabe übertragen wurde, asbesthaltige Produkte und Abfälle aus Wohn- und Gewerbegebäuden zu entfernen. Hierfür verlangte sie von betroffenen Personen keinen Kostenausgleich. Vielmehr spekulierte sie darauf, dass sie von einem öffentlichen Umweltfonds Zuschüsse in Höhe von 40 % - 100 % der geleisteten Ausgaben erhalten sollte.
Basierend auf der Bewertung der gesamten Umstände gelangte der EuGH auch in diesem Fall zu dem Schluss, dass die Gemeinde nicht nachhaltig agierte. Maßgeblich für den EuGH war im vorliegenden Fall der Umstand, dass die Gemeinde nicht nach Kunden suchte und auch kein Personal für die Asbestbeseitigung einstellte. Dass sie in diesem Kontext zudem auch nicht versuchte, ihre Kosten zu decken oder eine Gewinnmarge zu erzielen, ließ den EuGH zum Schluss kommen, dass die Gemeinde keine wirtschaftliche Tätigkeit durchführte. Hieran ändere auch die Aussicht auf spätere Zuschüsse in Höhe von bis zu 100% der angefallenen Kosten nichts. Ein fremder Dritter hätte so nicht agiert.
Auswirkungen auf die Praxis
Zunächst ist festzuhalten, dass die beiden obigen EuGH-Urteile Vorlagefragen der polnischen Finanzgerichte beantworten. Aufgrund der europäischen Harmonisierung des Mehrwertsteuerrechts haben diese Urteile jedoch auch eine Ausstrahlwirkung auf die deutsche Praxis. Denn bis heute hat der BFH bei defizitärem Handeln die wirtschaftliche Tätigkeit in der Vergangenheit bejaht (vgl. BFH, Urt. v. 28.06.2017, XI R 12/15: dauerdefizitäre Sporthallenüberlassung). Vorsicht gilt nur bei einer Asymmetrie zwischen den Betriebskosten und den Einnahmen (vgl. BFH, Urt. v. 15.12.2016 – V R 44/15) oder bei symbolischen Entgelten (vgl. BFH, Urt. v. 22.06.2022, XI R 35/19).
Fraglich ist, wie der BFH bei zukünftigen Verfahren vor dem Hintergrund der neusten EuGH-Urteilen entscheiden wird. Hervorzuheben ist, dass der EuGH die Entscheidungen auf Basis der vorlegten Sachverhalte und unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände traf (Gesamtbild der Verhältnisse im konkreten Einzelfall) und bei beiden vorliegenden Sachverhalten unstrittig eine Nachhaltigkeit verneint werden konnte.
Auf die deutsche Praxis übertragen gilt es zukünftig noch mehr, auf den vorliegenden Sachverhalt zu achten und die Umstände herauszuarbeiten, die eine nachhaltige unternehmerische Tätigkeit begründen. Es empfiehlt sich, frühzeitig für Rechtssicherheit durch Einholung von verbindlichen Auskünften zu sorgen. Aktuell in Bearbeitung befindliche verbindliche Auskünfte sollten die Urteile bei vergleichbaren Sachverhalten zwingend thematisieren und bei Bedarf nachgebessert werden. Abschließend bleibt festzuhalten, dass Vorsteuerüberhänge bei defizitären Tätigkeiten wohl grundsätzlich auch noch in Zukunft möglich sein werden – jedoch sollte der Bogen nicht überspannt werden. Es bleibt abzuwarten, ob und wie die Finanzverwaltung auf die beiden Urteile reagieren wird.
Autoren: RA StB Dr. Erik Ohde, StB Sebastian Heuser