11 Minuten Lesezeit 11 Juli 2019
Julie Teigland und Bernd Ankenbrand im Gespräch

„Nur wer Sinn stiftet, kann auch Wert schöpfen“

Von EY Deutschland

Building a better working world

11 Minuten Lesezeit 11 Juli 2019

Purpose Economy steht für die Formulierung eines höheren Zwecks jenseits von Zahlen und definiert ein neues Selbstverständnis von Unternehmen.

Gerade in Zeiten des Umbruchs kann die Orientierung an einem übergeordneten Zweck für Unternehmen wichtig sein, denn so können auch Wachstum und Mitarbeiterbindung gefördert werden. Julie Linn Teigland, EMEIA Area Managing Partner bei EY, und der Wirtschaftsprofessor Bernd Ankenbrand loten im Gespräch den Zusammenhang zwischen Profit und Purpose aus ­– und zeigen einen möglichen Weg zu mehr Sinnorientierung auf.

Prof. Dr. Bernd Ankenbrand: Frau Teigland, die Frage nach dem Sinn unseres Tuns beschäftigt heute immer mehr Menschen. Wenn ich mit meinen Studenten darüber diskutiere, was sie später von ihrem Arbeitgeber erwarten, steht ein Wunsch an erster Stelle: Sie wollen einer sinnvollen Tätigkeit nachgehen. Wie zwingend ist es in diesem Zusammenhang für Unternehmen, darauf eine Antwort zu geben?

Julie Linn Teigland: Ich glaube, dass erfolgreiche Unternehmen gut beraten sind, einen Sinn, ein Leitbild für sich zu entwickeln. Organisationen sind keine statischen Gebilde. Sie sind im Laufe der Zeit zu dem geworden, was sie heute sind.

Heutzutage sind Unternehmen an einem Punkt angekommen, an dem es notwendiger ist, ein Leitbild zu formulieren, darüber zu sprechen und es zur Richtschnur des eigenen Handelns zu machen. Das gab es früher auch. Bloß war das nicht so ausgeprägt.

Ankenbrand: Mit der geschichtlichen Entwicklung sprechen Sie einen wichtigen Punkt an. Denn genauso, wie sich Organisationen im Laufe der Zeit entwickeln, entwickelt sich auch der Begriff dessen, was wir als sinnvoll erachten. Generell gilt: Ob etwas sinnvoll ist, hängt davon ab, welche Maßstäbe ich anlege.

Historisch gesehen gibt es in jeder Epoche der Menschheits- und Wirtschaftsgeschichte Maßstäbe, die definieren, was sinn- und wertvoll ist. In den frühen Stammesgesellschaften zum Beispiel zählten Macht, Ehre und Dominanz. In der Industrieökonomie waren es Produktivität und Disziplin. Heute, in der Post-Informationsökonomie, gewinnen Werte wie Nachhaltigkeit, Selbstorganisation und Vernetzung an Bedeutung.

Unser Sinnbegriff verschiebt sich gerade. Daher müssen wir jetzt mehr darüber reden, was wir unter „sinnvoll“ verstehen.

  • Prof. Dr. Bernd Ankenbrand

    Bernd Ankenbrand lehrt an der Hochschule für angewandte Wissenschaften in Würzburg-Schweinfurt und ist international als Sinnökonom, Keynote-Speaker und strategischer Berater tätig. Er studierte unter anderem an der Universität Witten/Herdecke und der Stockholm Business School Wirtschaftswissenschaften.

    Seine Lehr- und Forschungsaufträge führten ihn unter anderem an die Sino-German School of Governance im chinesischen Nanjing sowie an das Social Cognition and Social Neuroscience Lab der Princeton University in den USA.

Teigland: Antworten auf Sinn- und Zweckfragen können wir heute viel freier geben und wählen als frühere Generationen. Besonders die jungen Leute haben mehr Freiheit als jemals zuvor. Ich bin mir zum Beispiel nicht so sicher, ob meine Kinder jemals so arbeiten werden wie ich. Nicht, weil sie bequem wären, sondern weil sie ein anderes Empfinden haben.

Die Frage, die wir uns als Unternehmen daher stellen müssen, lautet: Wie und womit kann ich junge Menschen ansprechen? Wieso sollten sie bei uns arbeiten und nicht woanders? 

Eine neue Generation fragt massiv nach dem ‚Warum?‘ und dem ‚Wozu?‘. Wenn ein Unternehmen Mitarbeiter für sich gewinnen will, muss es heute auch Sinn bieten.
Prof. Dr. Bernd Ankenbrand

Ankenbrand: Man muss sich heute als Unternehmen erklären und für potenzielle Arbeitnehmer sinnvolle Anschlüsse schaffen. Bisher lautete das Credo: „Wer Leistung fordert, muss Geld und Karriere bieten.“ Aber das reicht heute nicht mehr. Eine neue Generation fragt massiv nach dem „Warum?“ und dem „Wozu?“. Sie wählen ihren Job nicht mehr ausschließlich, um Geld zu verdienen.

Es kommt noch etwas hinzu, das außerhalb von Geld und Karriere liegt. Für Unternehmen gilt daher: Nur wer Sinn stiftet, kann auch Wert schöpfen.

Teigland: Deshalb suchen viele Unternehmen nach einem neuen genetischen Code, der es ihnen ermöglicht zu überleben, sich weiterzuentwickeln und die talentiertesten Mitarbeiter zu gewinnen. In Zukunft wird es daher immer wichtiger, über den Sinn der eigenen Aktivitäten Rechenschaft abzulegen und aufzuzeigen, wofür man steht.

Wir arbeiten bei EY viel mit Start-ups zusammen. Für diese Unternehmen ist es viel selbstverständlicher, sich diese Fragen zu stellen und darauf schlüssige Antworten zu geben.

Ankenbrand: Wenn ein Unternehmen Mitarbeiter für sich gewinnen will, muss es heute auch Sinn bieten. Gerade Start-ups aus dem Digitalbereich haben das längst erkannt. Und für sie ist es auch viel leichter, mit dem Thema umzugehen. Sie können praktisch auf der grünen Wiese anfangen. Es gibt keine Unternehmenshistorie, keine alten Maßstäbe, die diskutiert und mühsam verändert werden müssen. 

Eine große Mehrheit befragter Führungskräfte ist der Meinung, dass ein starker Purpose die Mitarbeiterzufriedenheit und Kundenloyalität signifikant steigert.
Julie Linn Teigland

Teigland: Die „Purpose Economy“ ist noch ein relativ neuer Begriff im wissenschaftlichen Diskurs. Was macht denn aus Ihrer Sicht Sinn aus? Gibt es dafür eine Art Formel?

Ankenbrand: Es gibt zumindest Zutaten, die gemeinsam Sinn entstehen lassen. Etwas ist dann sinnvoll für mich, wenn ich weiß, wozu ich es tue. Außerdem muss ich meine eigene Wirkung erkennen können. Und schließlich geht es um Zugehörigkeit: Sinn entsteht im Zusammenspiel und in Wechselwirkung mit anderen.

Teigland: Das deckt sich mit einer Befragung, die das EY Beacon Institute durchgeführt hat: Demnach ist eine große Mehrheit der befragten Führungskräfte der Meinung, dass ein starker Purpose die Mitarbeiterzufriedenheit und Kundenloyalität signifikant steigert.

Gerade in Zeiten großer Transformationen erweist sich die Suche nach Sinn als besonders dringlich. Das erleben wir auch im Kontakt mit unseren Mandanten. Manche von ihnen kommen zu uns und fragen nach unserem Rat: Frau Teigland, wir sind auf dieser Reise in Richtung Transformation. Wie gelingt das? 

  • Das EY Beacon Institute: Wegweiser für den Wandel

    Ständige Umbrüche und permanenter Wandel prägen heute das Umfeld von Unternehmen auf der ganzen Welt. Unter führenden Unternehmern und Vordenkern aus Wirtschaft und Gesellschaft setzt sich immer mehr die Auffassung durch, dass Unternehmen die notwendige Transformation nur mit einer Neuausrichtung ihres inneren Kompasses gelingen wird.

    Um diesen Sinneswandel voranzutreiben, haben wir das EY Beacon Institute gegründet. Mit dieser Initiative bringen wir Führungskräfte, Entrepreneure, Wissenschaftler und Meinungsführer weltweit zusammen, um gemeinsam zu definieren, wie Unternehmen im 21. Jahrhundert erfolgreich sein können.

Ankenbrand: Wie sind Ihre Erfahrungen: Wo stehen Unternehmen auf diesem Weg?

Teigland: Wenn wir das Thema bei unseren Kunden ansprechen, gibt es ganz unterschiedliche Reaktionen: Es gibt die, die es skeptisch sehen und lediglich einen Marketingtrend wittern. Die zweite Gruppe ist interessiert und aufgeschlossen. Sie möchte wissen, wie sie das Thema selbst angehen und gestalten kann. Und schließlich gibt es die, die den Mehrwert eines klaren Purpose sehen und verstehen.

Unsere Aufgabe liegt dann vor allem darin, das jeweilige Unternehmen bei dem zu unterstützen, was wir Purpose Lead Transformation nennen. Grundlage dafür ist unsere Arbeit am EY Beacon Institute. Beacon heißt übersetzt "Leuchtfeuer, Signal". Es soll helfen, in einer komplexen Welt die richtigen Entscheidungen zu treffen.

Solange Purpose nur ein Marketingthema bleibt, wird der Wandel nicht gelingen. Er muss untermauert werden mit harten Fakten.
Julie Linn Teigland

Ankenbrand: Dieses Vorgehen deckt sich interessanterweise mit der ursprünglichen Bedeutung des Wortes Sinn. Es geht dabei nämlich um einen Gang, einen Weg, eine Reise. Wer Sinn sucht, muss sich auf den Weg machen, eine Entwicklung und auch eine gewisse Offenheit zulassen.

Teigland: Entscheidend ist dabei, möglichst alle Mitarbeiter mitzunehmen und glaubwürdig zu sein. Solange Purpose nur ein Marketingthema bleibt, wird der Wandel nicht gelingen. Er muss untermauert werden mit harten Fakten. Andernfalls ist der Wandel auch nicht in der Kultur des Unternehmens eingebettet und bleibt lediglich eine Verkaufsveranstaltung.

Wir bei EY haben uns gefragt: Wie können wir das, was wir tagtäglich tun, als sinnhaftes Leitbild formulieren? So kamen wir zu Building a better working world.

Warum? Weil wir als Wirtschaftsprüfer dazu beitragen, das Vertrauen in die Kapitalmärkte zu stärken. Weil wir ein weltweit tätiges Unternehmen sind und uns für die globale Zusammenarbeit und Integration stark machen. Weil wir ein People Business sind und unsere Mitarbeiter fördern und entwickeln. Und weil wir auch für Innovation und Nachhaltigkeit stehen. 

Die Zeiten, in denen das Leadership allein den Takt bestimmte, sind vorbei.
Julie Linn Teigland

Ankenbrand: Wie wirkt sich die Forderung nach Sinn auf die Organisationsstruktur von Unternehmen aus? Verträgt sich das noch mit starren Hierarchien?

Teigland: Der kulturelle Wandel, den wir jetzt erleben, erzwingt einen Druck zur Veränderung. Wir beobachten, dass er Firmen beweglicher und diskursiver macht. Organisationen beginnen, mehr denn je konsensgetrieben zu arbeiten.

Was EY betrifft, bewegen wir uns von einem sehr strukturierten, leistungsorientierten Ansatz hin zu mehr Mitbestimmung und Verantwortung jedes Einzelnen. Wir nennen das Empowerment. Die Zeiten, in denen das Leadership allein den Takt bestimmte, sind vorbei.

Ankenbrand: Welche Rolle spielt Führung in einem solchen konsensgetriebenen Konzept?

Teigland: Wir müssen uns fragen, was Führung bedeutet, wenn man in einer pluralistischen Gesellschafts- oder Organisationsform unterwegs ist. Es kommt auf die richtige Balance zwischen Eigenverantwortung und Führung an. Die muss man von Fall zu Fall austarieren.

Ankenbrand: Das Spannende ist, dass Führung immer komplexer und vielschichtiger wird. Heute gibt es eine Vielzahl an Modellen. Und die Kunst – deswegen reden wir auch über Sinn – besteht vor allem darin, zu erkennen, welches Modell in welchem Kontext sinnvoll ist.

Teigland: Die Orientierung an einem Leitbild ist dabei sehr hilfreich. Dennoch kann es manchmal auch eine Herausforderung sein, einen Purpose zu finden, der jeden im Unternehmen abholt und der sich auch mit der vorherrschenden Profiterwartung verträgt. 

Ursprünglich bedeutet Profit ‚Gewinn für die Seele‘. Unternehmen können sehr viel dazu beitragen, für ein positives, nicht ausschließlich monetäres Wachstum zu sorgen.
Prof. Dr. Bernd Ankenbrand

Ankenbrand: Sie haben das Stichwort "Profit" genannt. Das scheint mir ein wichtiger Punkt. Wenn Unternehmen heute stärker über Sinn sprechen und nach entsprechenden Zielen für sich und ihre Mitarbeiter suchen, heißt das ja nicht, dass sie keinen Gewinn mehr machen wollen. Auch hier geht es um die Maßstäbe: Profit ja. Aber es müssen eben nicht 25 Prozent Rendite sein.

Teigland: Ohne Profit gibt es keinen Purpose. Sonst reden wir über Charity. Unternehmen müssen wachsen, um Spielräume für Innovationen und Veränderungen zu haben. Und auch wir bei EY müssen weiter in Richtung Wachstum und Profitabilität gehen – nicht zuletzt, weil wir unsere Mitarbeiter fordern und fördern wollen.

Dieses „Mehr“ ist Bestandteil unserer Unternehmenskultur und deshalb auch Teil des Leitbildes. Gleichwohl stimme ich Ihnen zu, dass wir dafür den richtigen Maßstab finden müssen. Denn beides bedingt einander.

Ankenbrand: Profit muss keine rein wirtschaftliche Kategorie sein. Ursprünglich bedeutet Profit "Gewinn für die Seele". Erst später wurde daraus eine wirtschaftliche Kategorie.

Wachstum ist ein menschliches Bedürfnis, aber es muss nicht immer nur finanzielles Wachstum sein. Es ist auch auf anderen Ebenen notwendig, zum Beispiel hinsichtlich der Lebensqualität.

Diese Anforderung wird auch immer mehr an Unternehmen und Organisationen herangetragen: Bereiche mit zu übernehmen, die früher öffentlich waren. Unternehmen können sehr viel dazu beitragen, für ein positives, nicht ausschließlich monetäres Wachstum zu sorgen.

Teigland: Als Betriebswirtin habe ich gelernt, dass es ohne Wachstum und Profit nicht geht. Man wächst oder schrumpft. Es ist wie auf einer Waage: Man kann sich nur eine Millisekunde stabil in der Mitte halten.

Unternehmen müssen deshalb nach oben streben, wenn sie mehr für ihre Mitarbeiter, ihre Kunden und die Gesellschaft erreichen möchten. Dieses Streben mit etwas Höherem zu verbinden, dafür steht der Purpose.

Wir wachsen nicht aus purem Selbstzweck, sondern für einen höheren Zweck. Das ist ein Mehrwert, im weitesten Sinne des Wortes. 

Fazit

Der Sinnökonom Prof. Dr. Bernd Ankenbrand und Julie Linn Teigland, EMEIA Area Managing Partner bei EY, sprechen über Ziel und Zweck einer Sinnorientierung in Unternehmen und die Notwendigkeit, ein Leitbild zur Richtschnur des eigenen Handelns zu machen.

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