Eine neue Generation fragt massiv nach dem ‚Warum?‘ und dem ‚Wozu?‘. Wenn ein Unternehmen Mitarbeiter für sich gewinnen will, muss es heute auch Sinn bieten.
Ankenbrand: Man muss sich heute als Unternehmen erklären und für potenzielle Arbeitnehmer sinnvolle Anschlüsse schaffen. Bisher lautete das Credo: „Wer Leistung fordert, muss Geld und Karriere bieten.“ Aber das reicht heute nicht mehr. Eine neue Generation fragt massiv nach dem „Warum?“ und dem „Wozu?“. Sie wählen ihren Job nicht mehr ausschließlich, um Geld zu verdienen.
Es kommt noch etwas hinzu, das außerhalb von Geld und Karriere liegt. Für Unternehmen gilt daher: Nur wer Sinn stiftet, kann auch Wert schöpfen.
Teigland: Deshalb suchen viele Unternehmen nach einem neuen genetischen Code, der es ihnen ermöglicht zu überleben, sich weiterzuentwickeln und die talentiertesten Mitarbeiter zu gewinnen. In Zukunft wird es daher immer wichtiger, über den Sinn der eigenen Aktivitäten Rechenschaft abzulegen und aufzuzeigen, wofür man steht.
Wir arbeiten bei EY viel mit Start-ups zusammen. Für diese Unternehmen ist es viel selbstverständlicher, sich diese Fragen zu stellen und darauf schlüssige Antworten zu geben.
Ankenbrand: Wenn ein Unternehmen Mitarbeiter für sich gewinnen will, muss es heute auch Sinn bieten. Gerade Start-ups aus dem Digitalbereich haben das längst erkannt. Und für sie ist es auch viel leichter, mit dem Thema umzugehen. Sie können praktisch auf der grünen Wiese anfangen. Es gibt keine Unternehmenshistorie, keine alten Maßstäbe, die diskutiert und mühsam verändert werden müssen.
Eine große Mehrheit befragter Führungskräfte ist der Meinung, dass ein starker Purpose die Mitarbeiterzufriedenheit und Kundenloyalität signifikant steigert.
Teigland: Die „Purpose Economy“ ist noch ein relativ neuer Begriff im wissenschaftlichen Diskurs. Was macht denn aus Ihrer Sicht Sinn aus? Gibt es dafür eine Art Formel?
Ankenbrand: Es gibt zumindest Zutaten, die gemeinsam Sinn entstehen lassen. Etwas ist dann sinnvoll für mich, wenn ich weiß, wozu ich es tue. Außerdem muss ich meine eigene Wirkung erkennen können. Und schließlich geht es um Zugehörigkeit: Sinn entsteht im Zusammenspiel und in Wechselwirkung mit anderen.
Teigland: Das deckt sich mit einer Befragung, die das EY Beacon Institute durchgeführt hat: Demnach ist eine große Mehrheit der befragten Führungskräfte der Meinung, dass ein starker Purpose die Mitarbeiterzufriedenheit und Kundenloyalität signifikant steigert.
Gerade in Zeiten großer Transformationen erweist sich die Suche nach Sinn als besonders dringlich. Das erleben wir auch im Kontakt mit unseren Mandanten. Manche von ihnen kommen zu uns und fragen nach unserem Rat: Frau Teigland, wir sind auf dieser Reise in Richtung Transformation. Wie gelingt das?
Ankenbrand: Wie sind Ihre Erfahrungen: Wo stehen Unternehmen auf diesem Weg?
Teigland: Wenn wir das Thema bei unseren Kunden ansprechen, gibt es ganz unterschiedliche Reaktionen: Es gibt die, die es skeptisch sehen und lediglich einen Marketingtrend wittern. Die zweite Gruppe ist interessiert und aufgeschlossen. Sie möchte wissen, wie sie das Thema selbst angehen und gestalten kann. Und schließlich gibt es die, die den Mehrwert eines klaren Purpose sehen und verstehen.
Unsere Aufgabe liegt dann vor allem darin, das jeweilige Unternehmen bei dem zu unterstützen, was wir Purpose Lead Transformation nennen. Grundlage dafür ist unsere Arbeit am EY Beacon Institute. Beacon heißt übersetzt "Leuchtfeuer, Signal". Es soll helfen, in einer komplexen Welt die richtigen Entscheidungen zu treffen.
Solange Purpose nur ein Marketingthema bleibt, wird der Wandel nicht gelingen. Er muss untermauert werden mit harten Fakten.
Ankenbrand: Dieses Vorgehen deckt sich interessanterweise mit der ursprünglichen Bedeutung des Wortes Sinn. Es geht dabei nämlich um einen Gang, einen Weg, eine Reise. Wer Sinn sucht, muss sich auf den Weg machen, eine Entwicklung und auch eine gewisse Offenheit zulassen.
Teigland: Entscheidend ist dabei, möglichst alle Mitarbeiter mitzunehmen und glaubwürdig zu sein. Solange Purpose nur ein Marketingthema bleibt, wird der Wandel nicht gelingen. Er muss untermauert werden mit harten Fakten. Andernfalls ist der Wandel auch nicht in der Kultur des Unternehmens eingebettet und bleibt lediglich eine Verkaufsveranstaltung.
Wir bei EY haben uns gefragt: Wie können wir das, was wir tagtäglich tun, als sinnhaftes Leitbild formulieren? So kamen wir zu Building a better working world.
Warum? Weil wir als Wirtschaftsprüfer dazu beitragen, das Vertrauen in die Kapitalmärkte zu stärken. Weil wir ein weltweit tätiges Unternehmen sind und uns für die globale Zusammenarbeit und Integration stark machen. Weil wir ein People Business sind und unsere Mitarbeiter fördern und entwickeln. Und weil wir auch für Innovation und Nachhaltigkeit stehen.
Die Zeiten, in denen das Leadership allein den Takt bestimmte, sind vorbei.
Ankenbrand: Wie wirkt sich die Forderung nach Sinn auf die Organisationsstruktur von Unternehmen aus? Verträgt sich das noch mit starren Hierarchien?
Teigland: Der kulturelle Wandel, den wir jetzt erleben, erzwingt einen Druck zur Veränderung. Wir beobachten, dass er Firmen beweglicher und diskursiver macht. Organisationen beginnen, mehr denn je konsensgetrieben zu arbeiten.
Was EY betrifft, bewegen wir uns von einem sehr strukturierten, leistungsorientierten Ansatz hin zu mehr Mitbestimmung und Verantwortung jedes Einzelnen. Wir nennen das Empowerment. Die Zeiten, in denen das Leadership allein den Takt bestimmte, sind vorbei.
Ankenbrand: Welche Rolle spielt Führung in einem solchen konsensgetriebenen Konzept?
Teigland: Wir müssen uns fragen, was Führung bedeutet, wenn man in einer pluralistischen Gesellschafts- oder Organisationsform unterwegs ist. Es kommt auf die richtige Balance zwischen Eigenverantwortung und Führung an. Die muss man von Fall zu Fall austarieren.
Ankenbrand: Das Spannende ist, dass Führung immer komplexer und vielschichtiger wird. Heute gibt es eine Vielzahl an Modellen. Und die Kunst – deswegen reden wir auch über Sinn – besteht vor allem darin, zu erkennen, welches Modell in welchem Kontext sinnvoll ist.
Teigland: Die Orientierung an einem Leitbild ist dabei sehr hilfreich. Dennoch kann es manchmal auch eine Herausforderung sein, einen Purpose zu finden, der jeden im Unternehmen abholt und der sich auch mit der vorherrschenden Profiterwartung verträgt.
Ursprünglich bedeutet Profit ‚Gewinn für die Seele‘. Unternehmen können sehr viel dazu beitragen, für ein positives, nicht ausschließlich monetäres Wachstum zu sorgen.
Ankenbrand: Sie haben das Stichwort "Profit" genannt. Das scheint mir ein wichtiger Punkt. Wenn Unternehmen heute stärker über Sinn sprechen und nach entsprechenden Zielen für sich und ihre Mitarbeiter suchen, heißt das ja nicht, dass sie keinen Gewinn mehr machen wollen. Auch hier geht es um die Maßstäbe: Profit ja. Aber es müssen eben nicht 25 Prozent Rendite sein.
Teigland: Ohne Profit gibt es keinen Purpose. Sonst reden wir über Charity. Unternehmen müssen wachsen, um Spielräume für Innovationen und Veränderungen zu haben. Und auch wir bei EY müssen weiter in Richtung Wachstum und Profitabilität gehen – nicht zuletzt, weil wir unsere Mitarbeiter fordern und fördern wollen.
Dieses „Mehr“ ist Bestandteil unserer Unternehmenskultur und deshalb auch Teil des Leitbildes. Gleichwohl stimme ich Ihnen zu, dass wir dafür den richtigen Maßstab finden müssen. Denn beides bedingt einander.
Ankenbrand: Profit muss keine rein wirtschaftliche Kategorie sein. Ursprünglich bedeutet Profit "Gewinn für die Seele". Erst später wurde daraus eine wirtschaftliche Kategorie.
Wachstum ist ein menschliches Bedürfnis, aber es muss nicht immer nur finanzielles Wachstum sein. Es ist auch auf anderen Ebenen notwendig, zum Beispiel hinsichtlich der Lebensqualität.
Diese Anforderung wird auch immer mehr an Unternehmen und Organisationen herangetragen: Bereiche mit zu übernehmen, die früher öffentlich waren. Unternehmen können sehr viel dazu beitragen, für ein positives, nicht ausschließlich monetäres Wachstum zu sorgen.
Teigland: Als Betriebswirtin habe ich gelernt, dass es ohne Wachstum und Profit nicht geht. Man wächst oder schrumpft. Es ist wie auf einer Waage: Man kann sich nur eine Millisekunde stabil in der Mitte halten.
Unternehmen müssen deshalb nach oben streben, wenn sie mehr für ihre Mitarbeiter, ihre Kunden und die Gesellschaft erreichen möchten. Dieses Streben mit etwas Höherem zu verbinden, dafür steht der Purpose.
Wir wachsen nicht aus purem Selbstzweck, sondern für einen höheren Zweck. Das ist ein Mehrwert, im weitesten Sinne des Wortes.
Fazit
Der Sinnökonom Prof. Dr. Bernd Ankenbrand und Julie Linn Teigland, EMEIA Area Managing Partner bei EY, sprechen über Ziel und Zweck einer Sinnorientierung in Unternehmen und die Notwendigkeit, ein Leitbild zur Richtschnur des eigenen Handelns zu machen.