In den vergangenen Jahren setzten verschiedene Krisen die globalen Lieferketten unter Druck. Zu Beginn der Coronapandemie führten Produktionsstopps in Asien sowie die globalen Mobilitätseinschränkungen zu Lieferengpässen und legten die Schwächen der weltweit verzweigten Arbeitsprozesse offen. Die Invasion auf die Ukraine hat die Lage weiter verschärft. Die «Eiserne Seidenstrasse», welche Asien und Europa per Bahn verbindet, ist unterbrochen. Bisher zugänglicher Luftraum muss umflogen werden. Sinnbildlich für die Herausforderungen steht das Frachtschiff «Ever Given»: 2021 blockierte das Frachtschiff tagelang den Suez-Kanal. Der Welthandel wurde durch diese Blockade noch wochenlang in Mitleidenschaft gezogen.
Ausserhalb von Krisenzeiten tritt die Versorgungssicherheit politisch in den Hintergrund und wird primär eine betriebswirtschaftliche Frage. Ob und mit wie vielen Partnern ein Unternehmen seine Lieferketten organisiert, wird dabei von Aspekten wie Skalenerträgen, Kostenvorteilen, Risikoabsicherung und Marktzugang bestimmt. Erst in Krisenzeiten tritt die volkswirtschaftliche Dimension der Versorgungssicherheit zutage, beispielsweise dann, wenn Lieferländer mit bewussten Entscheidungen die Verfügbarkeit von Rohstoffen wie Öl, Gas oder seltenen Erdmetallen einschränken. Die sicherheitspolitische Dimension der Versorgungssicherheit – und damit auch ihre Bedeutung für die öffentliche Ordnung – spielt seit der COVID-19-Pandemie in der öffentlichen Diskussion wieder eine starke Rolle.
Die Nichtverfügbarkeit versorgungskritischer Güter in der Krise führte weltweit zu verstärkten Rufen nach mehr nationaler Eigenversorgung und robusten Lieferketten, wobei Letzteres in den meisten Fällen gleichgesetzt wird mit der Rückführung von Produktionsanteilen aus Schwellenländern in Industrieländer. Das jüngste Beispiel einer problematischen Abhängigkeit stellt die europäische Abhängigkeit von russischem Gas und Öl dar, welche diesen Winter zu Energieversorgungsengpässen führen könnte. Bei versorgungskritischen Gütern wie Energie kommt der Regierung und Verwaltung eine essenzielle Rolle in der Versorgung zu.
Der Ruf danach, Lieferketten neu zu organisieren, um Abhängigkeiten zu reduzieren, setzt wie selbstverständlich voraus, dass Lieferketten transparent sind und jeder Partner entlang eines mehrstufigen Wertschöpfungsprozesses bekannt ist wie auch sein spezifischer Beitrag zum Endprodukt. Das ist – und genau hierin liegt die eigentliche Herausforderung – weitgehend nicht der Fall.
Sechs Dimensionen anpassungsfähiger Lieferketten
Die Komplexität unternehmerischer Lieferketten erschwert die Entwicklung eines robusten, transparenten, aber auch anpassungsfähigen Versorgungssystem für die Schweiz und andere Länder. Resiliente Lieferketten müssen anhand sechs wichtiger Dimensionen betrachtet werden:
Die räumliche Dimension: Jede Lieferkette verläuft durch Räume, die mehr oder weniger stabil sind und hängt von Transportwegen und -mitteln ab, bei deren Bau Staaten und Unternehmen unterschiedliche Interessen verfolgen. Der (Nicht-)Zugang zu diesen Räumen ist ein politwirtschaftliches Machtinstrument. Dies zeigen Beispiele wie Chinas Belt and Road Initiative, die europäische Konnektivitätsstrategie mit Asien oder die Überlegungen der US-amerikanischen Administration, ein Netzwerk der Prosperität mit gleichgesinnten Partnern aufzubauen.
Die technische Dimension: Die Technologieentwicklung, ein wesentlicher Treiber für global verzweigte unternehmerische Lieferketten, büsst ihre bisher kooperative Natur teilweise ein. Digitaltechnologien, die vernetzten und hoch automatisierten Produktionsabläufen nach dem Modell der Industrie 4.0 zugrunde liegen, werden seltener veröffentlicht. Durch die Exklusivität erhoffen sich Staaten signifikante Wettbewerbsvorteile.
Die finanzielle Dimension: Finanzielle Steuerung von Lieferketten wird von der Politik oftmals ausgeblendet. Resiliente Lieferketten bedingen Liquidität und finanzielle Sicherheit für alle Parteien. Liquidität wird über Finanzsysteme und -netzwerke gesteuert. Dies ist wiederum Digitaltechnologie und damit ist die finanzielle Dimension eng mit der technischen verknüpft. China und Russland zum Beispiel verfolgen Ziele, die mit der Teilnahme an westlichen Finanzsystemen nur bedingt kompatibel sind. Sie setzen verstärkt darauf, dem von westlichen Industrieländern dominierten Finanz- und Zahlungssystem eigene Lösungen entgegenzustellen. Mit separaten Zahlungssystemen entsteht jedoch für die Lieferkettenliquidität eine neue Bruchstelle.
Die zeitliche Dimension: Veränderungen in komplexen Systemen wie Lieferketten wirken auch in ruhigen Zeiten zeitlich verzögert. Das gilt sowohl für Unternehmensentscheidungen als auch für Regierungsentscheidungen, die sich auf den unternehmerischen Handlungsspielraum auswirken. In Krisenzeiten entsteht Druck, Verzögerungen zu reduzieren und zum Beispiel weniger Zeit in Konsultationen neuer Regulierungen zu investieren. Die Abschwächung vom Dialog zwischen Staat und Wirtschaft über Wirkungszusammenhänge dieser komplexen Systeme birgt jedoch die Gefahr asynchronen Verhaltens der Akteure.
Die Dimension der Nachhaltigkeit: Unternehmen stehen zunehmend in der Pflicht, innerhalb ihrer Lieferketten umwelttechnische und soziale Standards einzuhalten. Dies eröffnet Unternehmen die Chance, Wettbewerbsvorteile über nachhaltige Produkte abzuschöpfen. Gleichzeitig stehen Unternehmen nicht genug erprobte Instrumente zur Verfügung, um die Transparenz bezüglich der Nachhaltigkeit sicherzustellen. Gerade bei komplexeren, globalen Lieferketten stehen transparenzschaffende Massnahmen Widerständen oder Ineffizienzen der Quellenländer gegenüber, denen Unternehmen nicht genug Durchsetzungskraft entgegensetzen können.
Die politische Dimension: Das Weltbild der politischen Akteure definiert weitgehend, welchen Anforderungen Lieferketten – und damit die Unternehmen, die sie betreiben – genügen müssen. Wer als Politikerin bzw. Politiker Krisenfestigkeit als Nullsummenspiel versteht, wird mit seinem politischen Handeln Rahmenbedingungen schaffen wollen, die primär den Handlungsspielraum der nationalen Unternehmen stärkt, und möglicherweise die Ein- oder Rückführung von Produktionsanteilen in den eigenen Einflussbereich bevorzugen. Zu dieser isolationistischen Herangehensweise gibt es Alternativen: Lieferketten können auch durch vermehrte Kooperation zwischen Akteuren krisenfest ausgestaltet werden, oder durch Redundanzen.