Um herauszufinden, wo man ansetzen muss, um den «grünen Wandel» im Gesundheitswesen voranzutreiben, ist ein ganzheitlicher Blick auf die Akteure erforderlich, also Pharma- und andere Gesundheitsunternehmen, Spitäler und Arztpraxen, Krankenversicherungen und zuständige Behörden.
Da der Gesundheitssektor traditionell zu den systemrelevanten Industrien zählt, wurde von ihm bisher nur in geringem Masse verlangt, sich als Vorreiter bei der Einführung umweltfreundlicher Strategien zu etablieren.
In einem ihrer jüngsten Berichte fordert die WHO nun jedoch dringend eine Verbesserung der medizinischen Abfallwirtschaft, insbesondere in Anbetracht der Pandemie. So wurden von März 2020 bis November 2021 weltweit mehr als 140 Millionen Testkits verschifft, die potenziell 2‘600 Tonnen nicht-infektiösen Abfall (hauptsächlich Plastik) und 731‘000 Liter chemische Abfälle (entspricht einem Drittel der Füllmenge eines Olympiaschwimmbeckens) produzieren – eine Bedrohung für Mensch und Umwelt. Und das sind nur die Zahlen für die von der UN beschafften Tests – ein Bruchteil eines erheblich grösseren globalen Beschaffungspools. Allein in Europa wurden im selben Zeitraum 1,7 Milliarden Tests durchgeführt. Die WHO verlangt einen «deutlichen Wandel auf allen Ebenen, von der globalen Ebene bis hin zum Spital».
Angesichts der zunehmenden Dringlichkeit des Themas Klimawandel und klimafreundlicher Gesundheitsmassnahmen müssen die Akteure im Gesundheitswesen ihren Teil zum Schutz unseres Planeten und menschlichen Lebens beitragen. Um herauszufinden, wo man ansetzen muss, um den «grünen Wandel» im Gesundheitswesen voranzutreiben, ist ein ganzheitlicher Blick auf die Akteure erforderlich, also Pharma- und andere Gesundheitsunternehmen, Spitäler und Arztpraxen, Krankenversicherungen und zuständige Behörden. In dieser Analyse betrachten wir die umweltbezogenen Nachhaltigkeitsaspekte über die gesamte Versorgungskette des Gesundheitssektors hinweg und stellen Ansätze für umweltfreundlichere Gesundheitsmassnahmen vor.
Kapitel 1
Unsere gemeinsame Aufgabe
Die Einführung «nachhaltiger Verfahren» im Schweizer Gesundheitswesen
In der Schweiz werden die vom Gesundheitssystem verursachte Umweltbelastung sowie dessen Beitrag zum Klimawandel in der breiteren Diskussion über Nachhaltigkeit immer noch vernachlässigt. Allerdings übernehmen Schweizer Gesundheitsorganisationen eine Vorreiterrolle und haben begonnen, das Thema selbst anzugehen. Durch die Messung ihres eigenen Fussabdrucks schaffen sie eine Kultur der Transparenz, übernehmen Verantwortung und nutzen Gelegenheiten, von schnellen Erfolgen zu profitieren.
Schädliche Auswirkung auf das Klima
Eine 7-stündigeNarkose mit Desfluran erzeugt so viele Emissionen wie eine Autofahrt von Zürich nach Peking– und zurück.
Das Ersetzen des üblichen Anästhesiegases durch klimafreundlichere Alternativen in Schweizer Spitälern ist ein Beispiel. Das häufig verwendete Desfluran ist etwa 20-mal klimaschädlicher als die Alternative Sevofluran, das immer noch ein potentes Treibhausgas (THG) ist. Die bei einer siebenstündigen Narkose mit Desfluran freigesetzten Emissionen (2 l/min) entsprechen einer Autofahrt von 15‘700 km – ungefähr einmal von Zürich nach Peking – und zurück.
Die Gesundheitsbranche hat rasche Nachhaltigkeitsgewinne identifiziert, und viele Unternehmen haben bereits Massnahmen zur Anpassung ihres Energie-, Wasserverbrauch- und Abfallmanagements ergriffen. Um das volle Potenzial des ökologischen Wandels zu realisieren, muss das gesamte Gesundheitswesen alle Schichten des Nachhaltigkeitsspektrums ermitteln und quantifizieren: von der Energiebeschaffung und dem Streben nach Betriebseffizienzen bis zum Einkauf von nachhaltigerem medizinischem Bedarf.
Schweizer Gesundheitsanbieter haben erste einzelne Aktionen gestartet, die begrenzt CO2-Emissionen ausgleichen können. Bei genauerer Betrachtung der gegenwärtigen Nachhaltigkeitsinitiativen der Akteure innerhalb des Schweizer Gesundheitswesens sehen wir jedoch einen Flickenteppich aus grünen Ansätzen. Eine gründliche wirtschaftliche Analyse kann zeigen, welchen finanziellen Wert weitere umweltfreundliche Verfahren sowohl kurz- als auch langfristig bringen könnten, und das Augenmerk auf die wesentlichen Bedingungen für systematische und nachhaltige Veränderungen wie die Einbeziehung und Zusammenarbeit aller Beteiligten richten.
Kapitel 2
Bestandsaufnahme derzeitiger Beiträge
Bewertung aktueller grüner Verfahren im Schweizer Gesundheitswesen und nicht realisiertes Potenzial
In diesem Kapitel betrachten wir die wichtigen Klimahebel ausgewählter Akteure im Schweizer Gesundheitssektor: Pharmakonzerne, Spitäler, die Kostenträger und die Regulierer.
1. Mit ihren langfristigen Netto-Null-Ambitionen treiben Pharmakonzerne die Nachhaltigkeitsbemühungen an
Angesichts der Tatsache, dass über 70% der Emissionen im Gesundheitssektor in erster Linie aus den Lieferketten stammen, gelten Pharmaunternehmen als einer der grössten Verursacher der Klimabilanz des Gesundheitswesens. Dies trifft insbesondere in Kombination mit anderen Emissionen im Zusammenhang mit Lieferketten wie der Beschaffung nicht-medizinischer Ausrüstung zu.
Neben nachhaltigen Beschaffungsmassnahmen und einem Wechsel zu erneuerbaren Energieträgern können Pharmaunternehmen ihre Aktivitäten ökologischer gestalten, indem sie klimabelastende Verfahren mit hohem Energie- und Wasserverbrauch für Heizung, Wärmeschutz und Kühlung optimieren und die Ineffizienzen bei Logistik und Transport verringern. Die Suche nach innovativen Kreislaufansätzen könnte dazu beitragen, den Verpackungs- und Recyclingabfall in den Griff zu bekommen und die Verunreinigung durch Medikamentenentsorgungen und den Wasserverbrauch zu mindern.
Eine Betrachtung des Pharma-Fussabdrucks in der Schweiz spielt nicht nur eine entscheidende Rolle bei der Einschätzung der nationalen Klimabilanz des Gesundheitswesens, sondern auch für die internationalen Auswirkungen der Branche. Die Schweiz ist das Heimatland von Novartis und Roche, zwei der weltweit führenden Pharmakonzerne, und eine wichtige Drehscheibe für viele andere Akteure.
Wie zahlreiche andere Pharmaunternehmen haben sowohl Novartis als auch Roche sich zu einem langfristigen Übergang zu Netto-Null-CO2-Emissionen bis 2040 beziehungsweise 2050 verpflichtet. Sie sind sich ihrer indirekten, aber erheblichen ökologischen Auswirkung entlang der Wertschöpfungskette bewusst.
2. Spitäler profitieren von ersten «schnellen Erfolgen»
Ein typisches Spital verbraucht fast dreimal mehr Energie als ein kommerzielles Gebäude ähnlicher Grösse. Verschiedene Studien signalisieren, dass Spitäler für etwa ein Drittel des gesamten CO2-Abdrucks des Gesundheitssektors verantwortlich sind.
Die Studie «Green Hospital» analysierte die Klimawirkung von 33 Schweizer Spitälern, um die bedeutendsten ökologischen Stellhebel von Spitälern zu beurteilen. Auch ging sie der Frage nach, wie die Umwelteffizienz ohne Einbussen bei der Qualität der Gesundheitsleistungen gesteigert werden kann. Sie kam zu dem Schluss, dass im Jahr 2021 etwa die Hälfte der Spitäler ihre Umwelteffizienz ohne eine Senkung ihrer Leistungen hätte verdoppeln könnte.
Die grössten Ineffizienzen wurden in den Bereichen Heizen/Kühlen sowie dem Medizinbedarf (z.B. die Nutzung von günstigen und sterilen Einmal-Kunststoffartikeln) festgestellt. Die Spitäler bergen bisher kaum realisiertes Potenzial hinsichtlich der Energienutzung wie beispielsweise die Möglichkeit, Abwärme oder erneuerbare Energien einzusetzen. Es besteht auch ein dringender Handlungsbedarf für nachhaltige Gebäudeinfrastrukturen und Verpflegung.
Viele Spitäler, sowohl staatliche als auch privatwirtschaftliche, haben mit der Einführung ökologischer Massnahmen begonnen. Hier stellen wir einige Beispiele vor:
- Um einige der grössten Ineffizienzen zu beseitigen und rasche Erfolge zu erreichen, setzt das Universitätsspital Basel komplett auf Strom aus erneuerbaren Energiequellen, verringert den Lebensmittelabfall und ersetzt Einweggeschirr durch eine wiederverwendbare, umweltverträgliche Alternative. Auch werden Kreislaufprinzipien und Energiesparmassnahmen im Kerngeschäft des Spitals umgesetzt. Die Radiologieabteilung hat beispielsweise den Energieverbrauch ihrer Magnetresonanztomographie- und Computertomographie-Apparate wissenschaftlich geprüft. Das 3D-Drucklabor des Spitals sammelt und vernichtet Kunststoffe alter Anatomiemodelle und verwendet diese für die Herstellung neuer Modelle wieder.
- Hirslanden, die grösste Privatklinikgruppe der Schweiz mit 17 Spitälern, hat erklärt, bis 2030 klimaneutral werden zu wollen. Ein weiteres Ziel ist, ab 2030 keine Deponieabfälle mehr zu erzeugen. Im Rahmen ihrer Strategie will sie beim Catering übrig gebliebene Lebensmittel wiederverwenden, die Portionsgrössen anpassen und nicht-wiederverwendbare Speisereste bei Biogasanlagen oder Biowäschern entsorgen, die wiederum Energie erzeugen. Wichtige Initiativen in Bezug auf Energiebeschaffung konzentrieren sich auf den Austausch älterer Kühlanlagen und Gasheizanlagen durch geothermische Wärmepumpen, die erheblich weniger CO2 ausstossen.
- Vor dem Hintergrund der neuen Nachhaltigkeitsanforderungen modernisieren verschiedene Spitäler wie das Bürgerspital Solothurn oder das Inselspital in Bern derzeit ihre Gebäude oder bauen neu. Angesichts der langen Nutzungsdauer der Gebäude dürften sich die Investitionen trotz erheblicher Anfangskosten als profitabel erweisen.
Die bisher ergriffenen ökologischen Praktiken der Spitäler waren vor allem von Bottom-Up-Initiativen angetrieben. In diesem Zusammenhang betont Claudia Hollenstein-Humer, Leiterin Nachhaltigkeit & Gesundheit bei der Hirslanden AG: «Nachhaltigkeit ist ein Thema, das uns alle angeht. Unsere Mitarbeitenden treiben den Wandel sehr aktiv voran, aber ich glaube, dass die Patienten:innen bei der Auswahl eines Spitals ebenfalls zunehmend die Nachhaltigkeit berücksichtigen.» Neben der Motivation einzelner Akteure fördern vor allem von den Behörden festgelegte und gegebenenfalls wirtschaftlich bedingte Ziele die bestehenden grünen Initiativen. Jedoch sind letztere aufgrund von Kostendruck, mangelnder Anreize und rechtlicher Anforderungen auch der grösste Bremsklotz bei der Realisierung des vollständigen ökologischen Verbesserungspotenzials der Spitäler.
3. Die Kostenträger können Einfluss auf die Gesundheitsakteure ausüben
Auch Krankenversicherer können einen wichtigen Beitrag im Kampf gegen den Klimawandel leisten. Ihre Auswirkung steht weniger im Zusammenhang mit der Verringerung ihres eigenen CO2-Fussabdrucks, vielmehr übernehmen sie eine Schlüsselrolle über Anreize für den Pharmasektor, die Leistungserbringen und Patienten:innen, umweltfreundlichere Gesundheitsverfahren anzuwenden. Allerdings können Schweizer Krankenversicherer nur im Rahmen der vom Bundesamt für Gesundheit definierten aufsichtsrechtlichen Anforderungen agieren.
Bisher konnte nur eine begrenzte Nachhaltigkeitsorientierung bei den Krankenversicherungen beobachtet werden. Eine Ausnahme stellen die Bemühungen Schweizer Krankenversicherer wie CSS, EGK und Sanitas dar, die für Klimaprojekte spenden und ihre eigenen Treibhausgasemissionen durch den Wechel zu grünem Strom und Gebäuden senken. So ergriff die CSS beispielsweise Massnahmen zur Verbesserung der Nachhaltigkeit ihrer Liegenschaften und verringerte die CO2-Emissionen um fast ein Viertel pro Jahr. Andere erste Schritte sind bei Versicherungsmaklern zu verzeichnen: Sie nutzen den begrenzten Nachhaltigkeitsfokus der Krankenversicherer und bewerben «nachhaltige Dienstleistung», z.B. investieren sie einen Teil ihrer Provision in Umweltschutzprojekte wie die Pflanzung von Bäumen.
Die grösste Hebelwirkung ist jedoch durch den Einfluss der Kostenträger auf Dritte zu erreichen, beispielsweise durch eine stärkere Konzentration auf Prävention bei den Versicherten und durch das Setzen von Anreizen für gesunde Lebensführung. Insbesondere bei Krankenzusatzversicherungen verfügen Versicherer über mehr Flexibilität, innovative nachhaltige Versicherungsprodukte anzubieten. Zudem könnten die Krankenversicherer zusammen Druck auf Pharmaunternehmen und Spitäler ausüben und damit die Nachhaltigkeitsaktivitäten im vorgeschalteten Teil der Wertschöpfungskette beeinflussen. In Deutschland hat die AOK erste Schritte in Richtung eines strengeren Umweltschutzes unternommen. Die Krankenkasse führte eine Sonderausschreibung für Antibiotikawirkstoffe durch, bei der nicht nur der Preis im Mittelpunkt stand, sondern auch der Nachhaltigkeitsansatz des Herstellers in Form von Obergrenzen für Pharmarückstände in Produktionsabwässern.
In der staatlich geförderten Gesundheitsversorgung Grossbritanniens hat sich der NHS sich verpflichtet, bis 2045 klimaneutral in allen Emissionsbereichen zu werden, und verfolgt konkrete Meilensteine und Aktivitäten zur Erreichung dieses Zieles. Die Aktivitäten des NHS konnten globale Pharma- und Technologieunternehmen wie J&J, AstraZeneca, Microsoft und Apple dazu bringen, eine Dekarbonisierung der NHS-Lieferkette zu versprechen. In einem offenen Schreiben an 80‘000 globale Anbieter hat der NHS diese gedrängt, zu handeln und ihre Betriebsabläufe zu dekarbonisieren.
Seit vielen Jahren berücksichtigen grosse Schweizer Versicherungskonzerne wie der Rückversicherer Swiss Re oder die Zurich Insurance Group Nachhaltigkeitskriterien in ihren Geschäftsprozessen, z.B. durch Richtlinien für nachhaltiges Underwriting oder nachhaltige Anlagestrategien. Der Schweizer Krankenversicherungsmarkt hinkt jedoch hinterher. Tobias Caluori, Leiter Produktentwicklung bei Sanitas, verweist auf Folgendes: «Spezielle Nachhaltigkeits-Aspekte wie Gesundheitsvorsorgeleistungen für ihre Kunden gehören zum Leistungsversprechen der Krankenversicherer. In jüngster Zeit haben verschiedene Marktakteure ihren strategischen Schwerpunkt von einem reinen «Finanzrisikoversicherer» zu einer Positionierung als «Gesundheitspartner» der Patienten:innen verlagert und diese Dienstleistungen noch stärker ausgeweitet.»
Die Patienten:innen selbst stellen einen weiteren wichtigen Einflussfaktor zur Beschleunigung nachhaltiger Massnahmen dar, insbesondere bei der Auswahl der Kostenträger und Anbieter. Die Nachfrage hielt sich jedoch bisher in Grenzen. Caluori sagt, dass «im Gegensatz zu anderen Branchen Nachhaltigkeit bisher kein wichtiges Entscheidungskriterium bei der Wahl des Krankenversicherers ist. Patienten:innen wollen in erster Linie eine erfolgreiche Genesung und finanzielle Sicherheit. Mit dem zunehmenden gesellschaftlichen Bewusstsein für ökologische und soziale Aspekte könnten allerdings auf Nachhaltigkeit konzentrierte Kundenbereiche in Zukunft eine Nachfrage für nachhaltige Versicherungsprodukte und -leistungen schaffen.»
4. Langsame Fortschritte der Schweizer Gesundheitsbehörde im europäischen Vergleich
Ohne die Verantwortung und das Potenzials einzelner Akteure innerhalb des Gesundheitssektors herunterzuspielen, ist es insbesondere der Staat, der über die grösste Hebelwirkung verfügt. Er setzt die Vorschriften für ein klimafreundliches Gesundheitswesen fest. Grossbritannien wird wohl als erstes Land weltweit Klimaneutralität im staatlichen Gesundheitsdienst erreichen, die anderen europäischen Länder dürften diesem Beispiel folgen.
Auf der Klimakonferenz COP26 kündigten sieben europäische Staaten – Belgien, Deutschland, Irland, die Niederlande, Norwegen, Spanien und Grossbritannien – umfangreiche Verpflichtungen im Gesundheitssektor an. Neben Grossbritannien erklärten auch Spanien und Belgien, noch vor 2050 ein Netto-Null Gesundheitssystem erreichen zu wollen. Zusammen mit der globalen NGO-Initiative «Healthcare without Harm in Europe» riefen Gesundheitsbehörden aus den Niederlanden, Italien und Portugal, die «Operation Zero» ins Leben. Sie soll den jeweiligen Klimaabdruck ihrer Gesundheitssysteme analysieren und Wege in Richtung Netto-Null-CO2-Emissionen skizzieren.
Die Beispiele aus Europa signalisieren einen starken Trend und unterstreichen, wie wichtig es für die zuständigen Schweizer Behörden ist, die Bestrebungen in Richtung eines nachhaltigen Gesundheitssystems in der Schweiz anzukurbeln. Der richtige regulatorische Rahmen würde über neue Nachhaltigkeitsvorschriften und Anreizsysteme auf nationaler Ebene alle Beteiligten motivieren und befähigen, ihren angemessenen Anteil an nachhaltigen Aktivitäten umzusetzen. Die wahrscheinlich bedeutendste und heiss diskutierte Option ist spezifische CO2-Ziele festzulegen und z.B. eine CO2-Steuer auf Basis des Abschneidens der Gesundheitsbranche zu verhängen.
Kapitel 3
Nachfrage und Angebot in Einklang bringen: eine Fallstudie
EY und FHNW School of Life Sciences analysieren die potenziellen CO2-Einsparungen durch das Ausgleichen von Angebot und Nachfrage für ein gefragtes Medikament und eine gängige Operation
Schweizer Statistiken zeigen erstaunliche Unterschiede bei der Anzahl medizinischer Behandlungen in den verschiedenen Regionen und Kantonen, was für ein unausgewogenes Verhältnis von Angebot und Nachfrage spricht. Bisher beschränkten sich Auswertungen grösstenteils auf reine Kauf-/Behandlungszahlen und (manchmal) auf die damit verbundenen Kosten. Die Ergebnisse derartiger Analysen haben die Diskussion über falsche Anreize für volumenorientierte Erstattungssysteme angeheizt, was zu Konzepten wie «Choosing Wisely» (Vermeidung von überflüssigen Behandlungen), «Value-Based Healthcare» (wertebasierter Gesundheitsversorgung) und «Kopfpauschale» führte.
Den Konzepten fehlt jedoch häufig ein ganzheitlicher Blick auf die Akteure. Ein unzureichendes Gleichgewicht von Angebot und Nachfrage stellt einen wichtigen, aber übersehenen Aspekt bei der Quantifizierung potenzieller negativer Umweltauswirkungen dar.
EY und die FHNW School of Life Sciences wollen zeigen, dass eine bessere Koordination von Angebot und Nachfrage medizinischer Behandlungen in der Schweiz nicht nur Kosteneinsparungen, sondern auch erhebliche ökologische Vorteile bewirken kann. Zwar gibt es bisher nur begrenzt Daten zu den Umweltauswirkungen medizinischer Eingriffe, wir haben jedoch zwei Beispiele ausgewählt, für die Daten zur Varianz der Anwendung pro Kanton und des entsprechenden CO2-Abdruck verfügbar sind: Ibuprofen, eines der am häufigsten verschriebenen nicht-steriodalen, anti-entzündlichen Schmerzmedikamente in der Schweiz, und ein künstliches Kniegelenk, eine gängige und standardmässige elektiv-chirurgische Behandlung.
Unsere Fallstudie basiert auf zwei schweiz-spezifischen Varianten:
- Ibuprofen: Käufe von Arzneimitteln, die dem grössten Schweizer Krankenversicherer in Rechnung gestellt wurden, variierten von unter -25% bis über +25% des Schweizer Durchschnitts im Jahr 2019. Für unsere Fallstudie gehen wir davon aus, dass sich die zuvor erläuterte Varianz aller Medikamenteneinkäufe bei Ibuprofenkäufen in gleicher Weise darstellt, da bisher keine Daten zu ibuprofenspezifischen Varianzen zur Verfügung stehen. 2,4% aller Schweizer Arzneimittelkäufe entfielen im Jahr 2019 auf Ibuprofen.
- Knieprothesen: Die Anzahl von Kniegelenkersatzoperationen bewegte sich zwischen 1,84 und 4,33 Fällen pro 1‘000 Einwohnern, was einer Variationsbreite von -27% bis +71% des Schweizer Durchschnitts im Jahr 2015 entspricht.
Die Wissenschaft hat noch einen gewissen Aufholbedarf hinsichtlich einer genauen Quantifizierung des Nachhaltigkeitspotenzials im Gesundheitswesen. Das gilt insbesondere für die Einschätzung der Umweltwirkung spezieller Behandlungspläne oder -verfahren. Ökobilanzen schätzen die Intensität von Treibhausgasen ein, ausgedrückt in CO2e oder allgemeiner als die gesamte Umweltauswirkung eines Produkts oder einer Dienstleistung, sowie die CO2-Einsparungen eines speziellen Produktes. Allerdings wurden sie bisher nur für wenige Arzneimittel oder chirurgische Eingriffe erstellt.
Wir haben zwei Beispiele ausgewählt, für die es umfangreiche Ökobilanzdaten gibt:
- Auf eine Standardpackung Ibuprofen (10 x 400mg) entfällt 0.145 kg CO2e.
- Der Anästhesiefussabdruck für das Einsetzen eines künstlichen Kniegelenks liegt bei 11.7 kg CO2e (Medianwert in der EU), abhängig vom eingesetzten Verfahren und von den verwendeten Gasen.
Umweltvorteile durch Ausgleich von Angebot und Nachfrage im Gesundheitswesen
Die Schätzung des maximalen CO2-Einsparpotenzials beruht auf der Annahme, dass in jedem Fall nur so viele medizinische Behandlungen stattfinden wie in der Region mit den niedrigsten operativen Eingriffen (pro Kopf). Die Analyse basiert auf den regionalen Unterschieden der Behandlungsfrequenz und dem entsprechenden Treibhauspotenzial (GWP) für (1) Ibuprofen und (2) Anästhesiemittel während einer Knieprothesenoperation.
Liesse sich das Volumen der Ibuprofenkäufe auf das Niveau des Kantons mit dem niedrigsten Verbrauch senken, so könnte die Schweiz 105 t CO2e pro Jahr einsparen.
Könnte die Anzahl der Operationen für künstliche Kniegelenke auf das Niveau des Kantons mit dem niedrigsten Satz an Eingriffen pro Einwohner reduziert werden, so könnten 55 t CO2e eingespart werden. Und diese Einsparung bezieht sich nur auf den (recht kleinen) anästhesiebezogenen Umwelteffekt. Dennoch kommt dies den Pro-Passagier-Emissionen für 55 Flüge Hin- und Rückflüge von Zürich auf die Kanaren gleich.
Dabei ist zu beachten, dass die strikte Konzentration auf den CO2-Wert in dieser Fallstudie andere Umweltbelastungen wie Mikroschadstoffe aus Medikamentenrückständen im Abwasser oder Ressourcenabbau durch Einmal-Medizinprodukte vernachlässigt. Die Vielzahl der oben erwähnten ökologischen Auswirkungen sollte auch bei eingehenden Analysen der Umweltauswirkungen berücksichtigt werden.
Die Auswirkungen auf die Umwelt müssen in umfassendere Erwägungen des Gesundheitssektors miteinfliessen.
Zwar geben diese Beispiele einen ersten Einblick in die ökologischen Vorteile eines Gleichgewichts zwischen Angebot und Nachfrage, allerdings unterstreichen die Erkenntnisse, wie wichtig es ist, die Umweltauswirkung in umfassenderen Betrachtungen für den Gesundheitssektor zu berücksichtigen. Zur Ausschöpfung des vollen Potenzials müssen diese Konsequenzen in die Finanzierungs- und Erstattungssysteme einfliessen und Anreize für Prävention, Wert und Ergebnisse geschaffen werden statt für mengenmässige oder auf Einzelleistungsvergütung bezogene Transaktionen.
Es sind weitere Studien nötig, um die Wissenslücken zu schliessen. Diese sollten unter anderem Folgendes umfassen:
- Eine Bewertung der Ökobilanz für ganze Arzneimittelkörbe und die häufigsten und wichtigsten medizinischen Verfahren
- Eine Einschätzung der zusätzlichen Vorteile von Prävention und Lebensstilmassnahmen auf die Umwelt
- Eine Untersuchung, wie die regionalen Unterschiede in der Nutzung des Gesundheitswesens entstehen
Kapitel 4
Anreize für ein grünes Gesundheitswesen
Sechs Stellhebel unterstützen die Fortschritte in Richtung Klimaneutralität im Gesundheitssektor
Für die Schweiz gibt es auf dem Weg zu einem Netto-Null-Gesundheitssystem noch einiges an Potenzial zu erschliessen. Zur Verstärkung bestehender Initiativen können sechs Hebel eingesetzt werden. Ihre Auswirkung und Reichweite basieren auf dem gemeinsamen Engagement, der gegenseitigen Unterstützung und den gebündelten Bestrebungen der verschiedenen Beteiligten und weniger auf den Massnahmen einzelner Akteure.
Zwar beginnen die Akteure im Schweizer Gesundheitswesen nachhaltige Verfahren zu etablieren, aber die diskutierten Hebel werden eingesetzt werden müssen, um den Sektor zügig und effektiv in Richtung der gemeinsamen Nachhaltigkeitsziele zu bewegen. Jeder Akteur trägt eine spezielle Verantwortung, diesen Wandel zu unterstützen. Nur wenn alle an einem Strang ziehen, werden dauerhafte Veränderungen herbeigeführt, von denen sowohl der Mensch als auch die Natur profitiert. Drei Schritte markieren dabei typischerweise den Auftakt:
- «Emissions-Hotspots» quantifizieren, eine wirtschaftliche Bewertung der wichtigsten Hebel durchführen und eine Emissions-Roadmap entwerfen
- Die Prozesse und Lösungen innerhalb der Organisation sowie die Beschaffung innovativer gestalten
- Partnerschaften eingehen, um das Potenzial für eine kollektive Umstellung auf nachhaltige Geschäftsprozesse zu realisieren, gemeinsam für ökologische Systemveränderungen eintreten und gemeinschaftliche Massnahmen vorantreiben
Fazit
Der Klimawandel war im Gesundheitswesen lange kein dringliches Thema. Doch nun lautet die Frage nicht mehr ob, sondern wie schnell und in welchem Umfang sich der Gesundheitssektor anpassen und sich zu einer nachhaltigen, globalen Branche wandeln kann. Die verschiedenen Massnahmen sind am erfolgreichsten, wenn alle Akteure ihre Kräfte bündeln und gemeinsam handeln.