5 Minuten Lesezeit 8 Oktober 2020
Frau schreibt auf einem Tablet

Wie digital sind Österreichs Versicherer – und wie digital müssen sie werden?

Autoren
Ali Aram

Leiter Technology Consulting and Insurance Consulting, Partner Unternehmensberatung | Österreich

Unterstützt als hersteller- und implementierungsunabhängiger Berater seine Klienten bei der erfolgreichen Dienstleistersteuerung und beim Aufbau neuer eigener Strukturen.

Gabriela Toader

Manager, Business Consulting, Ernst & Young Management Consulting GmbH | Österreich

Begleitet österreichische Versicherungen und Unternehmen bei ihrer digitalen Transformation.

5 Minuten Lesezeit 8 Oktober 2020

Wir haben mit elf der 15 größten Versicherungsunternehmen in Österreich zum Status-Quo und der zukünftigen Ausrichtung in punkto Digitalisierung gesprochen. Hier sind die Ergebnisse.

Digitalisierung ist seit einigen Jahren ein wichtiges Thema auf der Agenda sämtlicher Versicherungsunternehmen. Wo aber stehen die Versicherer heute und wohin geht die Reise? Diesen Fragen ist EY Österreich im Rahmen einer österreichweiten Umfrage nachgegangen. Spitzenführungskräfte österreichischer Versicherungen wurden zum Status quo und zum Ausblick in Bezug auf Digitalisierung befragt. 

  • Zur Studie

    An der Studie haben 11 der Top 15 der österreichischen Versicherungen teilgenommen, dies entspricht einem Marktanteil von rund 77 Prozent. Die Befragungen wurden im Zeitraum von März bis Juni 2020 im Rahmen von persönlichen Interviews durchgeführt. Im Rahmen der Studie wurden die Teilnehmer gebeten, zu zwei Aspekten der Digitalisierung Stellung zu beziehen: einerseits zur Automatisierung bestehender Prozesse im Unternehmen und andererseits zur Schaffung neuer digitaler Produkte und Geschäftsmodelle für den Kunden.

Reifegrad der Digitalisierung

Die Versicherungsunternehmen in Österreich legen weiterhin einen starken Fokus auf Automatisierung und Simplifizierung. Sie haben bereits Teilprozesse automatisiert und streben eine weitestgehende End-to-End-(E2E-)Digitalisierung der bestehenden Geschäftsprozesse an. Einige wenige haben darüber hinaus bereits digitale und innovative Geschäftsmodelle erprobt und etabliert. Während dieser Trend weiter anhalten wird, denken nur wenige in den nächsten drei Jahren daran, ihr Geschäftsmodell signifikant zu ändern und sich stärker auf rein digitale Geschäftsmodelle zu fokussieren (siehe nachfolgende Grafik).

Digitalisierung in der Versicherungsbranche

Digitale Versicherungsprodukte

Nahezu alle befragten Versicherer bieten in unterschiedlichen Produktgruppen digitale Produkte an. Laut Umfrageergebnis machen online abschlussfähige Produkte derzeit einen äußerst geringen Anteil am Prämienvolumen (< 5 Prozent) aus und werden für die Mehrheit der befragten Versicherer in den nächsten drei Jahren voraussichtlich 5 Prozent des gesamten Prämienvolumens nicht überschreiten. Gründe dafür könnten die beratungsintensiven Produkte, die begrenzte Anzahl der online angebotenen Versicherungsprodukte, teilweise nicht transparente Produktinformationen oder nicht bedarfsgerechte Online-Produkte sein. Zusätzlich ist derzeit die Bereitschaft der Kunden sehr gering, Versicherungsprodukte online zu kaufen. Acht von zehn Kunden schließen direkt beim Versicherungsberater ab, wie die Ergebnisse einer EY-Endkundenstudie aus dem Jahr 2020 zeigen. Die Endkundenstudie wurde kurz vor Beginn der COVID-19-Pandemie durchgeführt. Durch COVID-19 könnte sich das Abschlussverhalten in Richtung verstärkter digitaler Beratung und nachfolgend digitaler Abschlüsse ändern.

Trotzdem denken 73 Prozent der befragten Versicherungen, dass sie den derzeitigen Marktanteil in den kommenden drei bis fünf Jahren ohne umfassende Digitalisierungsmaßnahmen nicht halten können.

Wettbewerb

Mit 82 Prozent ist die Mehrheit der befragten Versicherer der Meinung, dass sich das klassische Versicherungsgeschäft durch datenaffine Digitalunternehmen wie Vergleichsportale, Amazon, Google etc. in den nächsten drei bis fünf Jahren nicht radikal verändern wird. Die stärksten Wettbewerbsbedrohungen verorten die Versicherer mit 55 Prozent bei den Mitbewerbern

der eigenen Branche sowie mit 45 Prozent bei den großen Tech-Unternehmen wie Amazon und Google. Allerdings haben laut Ansicht der Befragten auch Start-ups zum Teil eine nicht zu vernachlässigende Position. Sie könnten in den Markt eindringen und risikoloses, profitables Nischengeschäft wegnehmen. Hier zeigt sich die Tendenz, dass Start-ups generell eher als Nischenanbieter oder Kooperationspartner für Versicherungen agieren und nicht als ganzheitliche Bedrohung wahrgenommen werden. 

Umkämpftes Geschäft

45%

der befragten Versicherer sehen sich durch die großen Tech-Unternehmen bedroht.

Digitalisierungsagenda

Hohe Priorität auf der Digitalisierungsagenda der österreichischen Versicherungsunternehmen haben sowohl Digitalisierungsmaßnahmen nach außen — z. B. die Entwicklung digitaler Produkte/Services oder die Optimierung im Bereich Kunde/Vertrieb — als auch die Simplifizierung der internen Abläufe, z. B. durch Prozessautomatisierung und IT-Modernisierung. Jedoch liegen das größte Potenzial und somit der Investitionsfokus für mehr als die Hälfte der befragten Versicherungen weiterhin in der Digitalisierung/Automatisierung der Geschäftsprozesse, gefolgt von Initiativen im Bereich Kunde/Vertrieb (siehe nachfolgende Darstellung). Dabei zeigt sich, dass die Unternehmen, die frühzeitig ihre alten IT-Landschaften modernisiert haben, bereits in der Lage sind, innovative und kundenorientierte Projekte umzusetzen, und sich hierdurch einen zusätzlichen Vorsprung erarbeiten werden.

Digitalisierung in der Versicherungsbranche

Top-2-Digitalisierungsthemen:

  1. Digitalisierung der Geschäftsprozesse:

    Für die digitalen Produkte und die dahinterliegenden Prozesse (vom Abschluss bis zur Auszahlung im Schadenfall) ist der Digitalisierungsgrad hoch. Knapp 80 Prozent der befragten Unternehmen haben angegeben, dass die Prozesse für die digitalen Produkte überwiegend bzw. vollständig digitalisiert sind. Betrachtet man hingegen alle Produkte bzw. Sparten, weisen die Prozesse im Mittel einen geringeren Automatisierungsgrad auf. In diesem Zusammenhang haben 73 Prozent der befragten Versicherungen das Ziel, in den nächsten drei Jahren die Potenziale der Automatisierung auszuschöpfen. Der höchste Automatisierungsbedarf besteht laut unserer Befragung in der Optimierung der Kundenberatung, Vertragsänderung, Schadenbearbeitung und Schadenauszahlung.
  2. Digitalisierung im Bereich Kunde/Vertrieb:

    Durch die geplanten Digitalisierungsprojekte im Bereich Kunde/Vertrieb haben die heimischen Versicherungsunternehmen u. a. vor, ihre Kundenportale zu erweitern, um die Nutzerfrequenz zu erhöhen, die Customer Journey zu vereinfachen, die Kundeninteraktionskanäle im Schadenbereich zu optimieren und das Wachstum in der Bancassurance zu stärken (siehe nachfolgende Grafik).
Digitalisierung in der Versicherungsbranche

Wie könnten die Versicherer ihre Digitalisierungsziele erreichen?

Neue Technologien stellen einen zentralen Baustein der Digitalisierung dar und können Versicherungen helfen, die Automatisierung weiter voranzutreiben und die  Digitalisierungsmaßnahmen ihrer Kunden-/Vertriebsthemen umzusetzen. Die Top 3 der digitalen Technologien im Innovationsbereich der befragten Versicherer sind Data Analytics, Artificial Intelligence (AI) und Robotic Process Automation (RPA).

Den österreichischen Versicherern ist klar, dass sie mit alten Legacy-Kernsystemen ihre Ziele hinsichtlich digitaler Transformation nicht erreichen können. Somit planen rund 55 Prozent der befragten Versicherungsunternehmen eine Ablöse der Altsysteme bzw. setzen sie bereits um. Weiters sieht nahezu jede Versicherung Handlungsbedarf bei ihren bestehenden Kundeninteraktionssystemen (POS, CRM, Portal etc.), um etwa die Nutzerfrequenz des Kundenportals zu erhöhen, Distance Selling anzubieten, Customer Journeys zu optimieren, neue Leads zu generieren, Advanced Analytics zu nutzen, Omni-Channel-Management zu betreiben u. v. m.

Fazit

Der allgegenwärtige Digitalisierungsdruck hat seinen Höhepunkt am österreichischen Markt noch nicht erreicht. Trotzdem haben viele österreichische Versicherungsunternehmen bereits digitale Geschäftsmodelle am Markt getestet und teilweise ausgerollt. Des Weiteren beschäftigen sie sich mit digitalen Technologien, setzen fortlaufend Digitalisierungsmaßnahmen um und bereiten sich für die digitale Zukunft vor. In erster Linie werden die Geschäftsprozesse weiter automatisiert und die Digitalisierung im Bereich Kunde/Vertrieb umgesetzt. Parallel dazu wird die IT grundsätzlich modernisiert und das Produkt- und Serviceportfolio für Online-Abschlüsse erweitert. Allerdings dauern die IT-/Digitalisierungsprojekte in der Regel länger als geplant.
Die Studienergebnisse zeigen, dass sich die Versicherungen bereits mit sehr vielen Digitalisierungsmaßnahmen beschäftigen. Trotz aller Digitalisierungsinitiativen erwarten wir in den kommenden drei bis fünf Jahren keine disruptiven Veränderungen in der Branche.

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