7 Minuten Lesezeit 27 Juli 2017
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Chancen und Herausforderungen einer alternden Bevölkerung

Von Pamela Spence

EY Global Health Sciences and Wellness Industry Leader and Life Sciences Industry Leader

Ambassador for outcomes-based performance and healthy aging. Advocate for women.

7 Minuten Lesezeit 27 Juli 2017

Die Menschen werden älter, aber nicht gesünder. Das stellt die Industriestaaten vor eine große Herausforderung.

Die meisten Industriestaaten der Welt sitzen im selben Boot: Während die Lebenserwartung rasant steigt, sinken die Geburtsraten. Die Gründe dafür sind unter anderem wachsender Wohlstand und zunehmend effektivere Arzneimittel. Dadurch erhöht sich der Anteil älterer Menschen in der Gesellschaft. In vielen Fällen geht der Altersanstieg jedoch mit einer Zunahme von komplexen und nicht selten chronischen Krankheiten einher. Demenz, Krebs, Diabetes, Herz-Kreislauf-Probleme, Erkrankungen der Atemwegsorgane und zerebrale Durchblutungsstörungen zählen zu den vielen Krankheiten, die im hohen Alter häufiger werden.

Chronische Erkrankungen können sehr teuer werden. In der Regel, weil sie entweder kostspielige Behandlungsmethoden erfordern oder langfristige Therapien mit sich bringen.

Heute stehen Gesundheitssysteme weltweit bereits unter enormem finanziellen Druck. Die öffentliche Hand kürzt vielerorts Ausgaben für Krankenhäuser, niedergelassene Ärzte und Arzneimittel, um Kosten zu sparen.

Für die Pharmaindustrie ergeben sich daraus sowohl Herausforderungen als auch Chancen. Einerseits ist es nicht einfach, mit Gesundheitssystemen zu arbeiten, die auf Kostenreduktion fokussiert sind. Andererseits entsteht ein Markt mit neuen Dienstleistungen, die den Gesundheitssystemen helfen können, aus ihrer finanziellen Bredouille herauszukommen.

Die Pharmaindustrie hat die Chance, sich durch die Entwicklung entsprechender Dienstleistungsangebote neue Absatzmöglichkeiten zu erschließen. Nicht nur im traditionellen Bereich der Wirkstoffe, sondern auch im Angebot von Gesundheits- und Behandlungsdienstleistungen für Ältere und Kranke.

Unternehmen sollten daher versuchen, die ausgetretenen Pfade der üblichen Therapien und Strategien zu verlassen und neue Wege einzuschlagen. Die Branche braucht eine neue Vision und neue Geschäftsmodelle, die das Bestehende ergänzen.

Solche Geschäftsmodelle müssen sich auf das Angebot neuer Methoden für frühzeitige Krankheitserkennung und -vorbeugung konzentrieren. Besonders bei den altersbedingten Krankheiten ist die Prävention gegenüber den oft unangenehmen und teuren Behandlungen zu bevorzugen.

Die Pharmaindustrie sollte bei der Suche nach Wachstumsmöglichkeiten auch auf zukunftsweisende Technologien zur Datenerhebung, -analyse und -auswertung setzen. Der Zugang zu Daten ist ein Schlüsselfaktor für Unternehmen der Branche. Daten sind für Unternehmen sowohl Effizienzindikator für ihre Produkte als auch Werkzeug für die strategische Entscheidungsfindung. Die neuen mathematischen Modelle der Datenerhebung liefern dabei nützliche Ansätze für eine präzisere Feststellung von Krankheitstrends sowie für die Messung der Wirksamkeit von Behandlungen.

Wie dringend all diese Aufgaben sind, zeigen die aktuellen Entwicklungen der Lebenserwartung. Statistisch gesehen, hatten Menschen, die 1970 in Deutschland geboren wurden, eine durchschnittliche Lebenserwartung von 67,2 Jahren (Männer) bzw. 73,4 Jahren (Frauen). Zehn Jahre später lagen die Erwartungen bereits bei 69,6 bzw. 76,3 Jahren. Und im Jahr 2015 geborene Jungen werden voraussichtlich 78,4 Jahre alt werden, die Mädchen 83,4 Jahre.

Ein Leben in der Schweiz scheint noch gesünder zu sein. 1981 geborene Männer konnten ein Alter von 72,4 Jahren erwarten; bei Frauen waren es 79,2 Jahre. 1991 lag die Lebenserwartung für Männer bereits bei 74,1 Jahren und für Frauen bei 81,2 Jahren. Bis zum Jahr 2015 hatte sich die Prognose erneut auf 80,7 Jahre (Männer) bzw. 84,9 Jahren (Frauen) verbessert. Die Lebenserwartungskurven verlaufen somit recht dynamisch.

[Eine alternde Bevölkerung] bringt eine vorrangige Aufgabe mit sich: die Anzahl der Jahre zu reduzieren, in denen Menschen gezwungen sind, mit einer oder mehreren Krankheiten zu leben.
Gerd Stürz
Marktsegmentleiter, Life Sciences, GSA

Für die öffentliche Hand, die Krankenversicherungen, die Forschungseinrichtungen und die Pharmaindustrie bringt diese Situation eine vorrangige Aufgabe mit sich: die Anzahl der Jahre zu reduzieren, in denen Menschen gezwungen sind, mit einer oder mehreren Krankheiten zu leben. Dazu gibt es spezifische Erkenntnisse aus Japan, wo das Altern intensiv erforscht wird. Im Durchschnitt leiden japanische Männer in ihren letzten neun Lebensjahren an mindestens einer ernsthaften Erkrankung. Bei Frauen ist es mindestens eine ernste Erkrankung in den letzten zwölf Lebensjahren.

Sogar eine scheinbar kleine Verkürzung dieser Phase um sechs bis zehn Monate würde die Gesundheits- und Sozialhaushalte spürbar entlasten. Die japanische Regierung konzentriert ihre Bemühungen auf die kostspieligsten Bereiche der Geriatrie: auf chronische Erkrankungen wie Demenz, Krebs, Diabetes und Osteoporose.

Chronisch kranke Menschen benötigen häufig Rezepte und regelmäßigen Kontakt zu Ärzten sowie Krankenhausaufenthalte, Operationen und Pflegedienstleistungen bis hin zur Palliativpflege. Die Pharmaindustrie kann auf vielfältige Art und Weise dabei helfen, diese Herausforderungen anzugehen. Die Basis dieser Industrie wird weiterhin die Forschung nach neuen Arzneimitteln für die erwähnten und für andere altersbedingte Erkrankungen wie Hör- und Sehverlust bilden. Doch auch jenseits der traditionellen Arzneimittelforschung gibt es in verwandten Disziplinen wie der Biomedizin sehr vielversprechende und innovative Ansätze für die Geriatrie – zum Beispiel im Bereich der präventiven oder regenerativen Medizin.

Das Ziel der regenerativen Medizin ist es, Krankheiten durch die Wiederherstellung funktionsgestörter Zellen, Gewebe und Organe zu heilen. Das kann durch einen biologischen Ersatz aus Gewebekulturen erreicht werden, durch die Anregung des körpereigenen Regenerations- und Reparaturprozesses oder durch Gentherapie.

Ein anderer potentieller biomedizinischer Fortschritt ist die Entwicklung von senolytischen Medikamenten, die alternde Zellen gezielt eliminieren. Zellen, die sich nicht mehr teilen, häufen sich mit der Zeit an und beschleunigen den Alterungsprozess. Sie zu eliminieren könnte die Gesundheit alternder Menschen erheblich verbessern.

Und auch über den gewöhnlichen molekularen Ansatz hinaus ist die Pharmaindustrie dabei, neue Möglichkeiten zu schaffen, besonders im Dienstleistungsbereich für altersbedingte Erkrankungen. Viele dieser Dienstleistungen werden mit der Digitalisierung zu tun haben – in erster Linie mit der Verarbeitung von Patientendaten und der Bereitstellung von Feedback. Für das Messen von Behandlungserfolgen und die Beurteilung der Personalkosten werden diese Dienstleistungen in den kommenden Jahren immer bedeutender werden.

Von solchen Dienstleistungsformen profitieren sowohl die Pharmaindustrie selbst als auch die einzelnen Patienten. Es gibt bereits Anbieter, die kontinuierlich individuelle Gesundheitsdaten von Kunden erheben, um ihnen Handlungs- und Entscheidungsvorschläge anzubieten und gleichzeitig allgemeine wissenschaftliche Daten zu erheben. Andere innovative, digitale Ansätze sind unter anderem die Gamifizierung (die Nutzung von spieltypischen Elementen in nicht spieltypischem Zusammenhang), die Bioelektronik und die künstliche Intelligenz.

Zu einem späteren Zeitpunkt könnte die Branche – in Zusammenarbeit mit diversen Partnern – vollständig in das Dienstleistungsgeschäft einsteigen. Innovative medizinische Geräte, neue Formen von In-vitro-Diagnostika sowie die Telemedizin könnten der häuslichen Pflege vollkommen neue Möglichkeiten eröffnen. Die japanische Regierung schreibt diesem Arbeitsbereich eine besondere Bedeutung zu. Gemäß ihren Forschungserkenntnisse benötigen viele alte Menschen nur minimale Unterstützung, um weiterhin unabhängig leben zu können.

Gemeinsam zeigen IBM, Apple und der japanische Post-, Bank- und Versicherungsdienstleister Japan Post, was bereits mit geringen Ausgaben erreicht werden kann: Sie bieten zusammen Tablets mit altersgerechten Apps an, die mit Cloud-Diensten verlinkt sind und die Lebensqualität älterer Menschen verbessern sollen.

Der Abonnementservice erinnert die Nutzer zum Beispiel an ihre Arzttermine oder die Einnahmezeiten ihrer Medikamente. Er spornt sie an, Sport zu treiben, aktualisiert Diät- und Ernährungsbedürfnisse und weist auf lokale Aktivitäten hin. Bis 2020 soll das Projekt ungefähr 5 Millionen Haushalte abdecken. Das japanische Pharmaunternehmen Eisai plant eine ähnliche Kampagne mit seinem Partner NTT, einem japanischen Telekommunikationsunternehmen.

Diese Beispiele zeigen zwei Dinge: Erstens gibt es viele kreative Ansätze, um die Probleme einer alternden Bevölkerung zu lösen. Zweitens beziehen diese Initiativen extrem unterschiedliche Akteure ein, von denen viele zuvor keine Verbindung zur Pharmaindustrie hatten.

Wenn Pharmaunternehmen an dieser Geschäftsexpansion teilnehmen und Pflegedienstleistungen für Senioren anbieten wollen, brauchen sie neue Geschäftsmodelle, die Partnerschaften beinhalten. So können sie Kompetenzen nutzen, die aktuell nicht in der Branche vertreten sind. Und sie werden Innovationen einbeziehen müssen, die über die traditionelle Pharmaforschung hinausgehen.

Fazit

Wenn Pharmaunternehmen am wachsenden Geschäft von Pflegedienstleistungen für Senioren teilhaben wollen, benötigen sie Geschäftsmodelle, die Partnerschaften integrieren, um branchenferne Kompetenzen voll ausnutzen zu können.

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Von Pamela Spence

EY Global Health Sciences and Wellness Industry Leader and Life Sciences Industry Leader

Ambassador for outcomes-based performance and healthy aging. Advocate for women.