Lange Zeit galt die Neutralität als Eckpfeiler der Schweizer Aussenpolitik und der nationalen Identität. Vor dem Hintergrund einer neuen, polarisierten Weltordnung ist sie jedoch zunehmend zu einem Streitpunkt in der Öffentlichkeit geworden. Die ETH Zürich berichtet in ihrer Analyse der Schweizer Aussen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik 2025, dass sich immer mehr Schweizerinnen und Schweizer die Frage stellen, ob die bewaffnete Neutralität mit militärischen Mitteln glaubwürdig aufrechterhalten werden kann. Eine wachsende Bevölkerungsgruppe befürwortet demnach eine klarere Haltung in militärischen Konflikten.
Der Krieg in der Ukraine hat das Spannungsfeld zwischen politischer Neutralität und wirtschaftlicher Realität verdeutlicht. Ein Rekordwert von 40% der Wählerinnen und Wähler glauben, dass durch die politische und wirtschaftliche Interaktion mit anderen Ländern die Neutralität nicht mehr aufrechterhalten werden kann. Diese Spannungen wurden deutlich, als Schweizer Waffenexporte nach Deutschland nicht an die Ukraine weitergegeben werden konnten. Dies führte zu diplomatischem Druck aus Berlin und Brüssel. Für die Schweizer Rüstungsindustrie hatte dies Reputationsschäden, Exportblockaden und Geschäftsausfälle zur Folge.
Diese starre Regelung soll nun gelockert werden. Künftig dürfen rund 85 Prozent der Militärexporte nicht mehr der direkten schweizerischen Kontrolle unterstehen, sofern sie in Länder mit funktionierenden Endverwendungskontrollen wie Deutschland gehen. Diese Verschiebung spiegelt die Ausrichtung der Schweiz auf den internationalen Druck gegenüber Russland wider. Im Mai 2025 bekräftigte das Land, die EU-Sanktionen gegen Russland mitzutragen. 64% der Bevölkerung waren der Meinung, diese Haltung sei mit der Neutralität der Schweiz vereinbar (ETH Zürich 2025). Für die Verteidigungsindustrie ist dies ein befreiender Schritt und gleichzeitig ein Neuanfang.
Eine zu starke Fokussierung der Schweiz auf massgeschneiderte Systeme und kleine Beschaffungsmengen erschwert jedoch die Teilnahme an multinationalen Programmen. Demgegenüber hat die EU EUR 800 Mrd. bereitgestellt, was dem Sechsfachen des Umsatzes ihrer Verteidigungsunternehmen entspricht, um sicherzugehen, dass 60% des künftigen Bedarfs in Europa und 40% durch Kooperationen gedeckt werden (Europäische Rüstungsindustriestrategie 2025).
Transformation der Sicherheit – vom politischen Diskurs zur wirtschaftlichen Realität
Der Krieg in der Ukraine hatte auch Einfluss auf die öffentliche Einstellung zum Thema Sicherheit. Während einst die Skepsis gegenüber dem Militär den öffentlichen Diskurs dominierte, spricht sich heute ein Grossteil der Bevölkerung für eine Erhöhung der Verteidigungsausgaben aus. Derweil haben der Bundesrat und das Eidgenössische Verteidigungsdepartement mit der Modernisierung der gesamten Verteidigungsfähigkeit begonnen. Gleichzeitig nehmen Vorschläge für einen Sicherheitsfonds oder öffentlich-private Partnerschaften zur Finanzierung des Beschaffungswesens Fahrt auf. Im Jahr 2025 investiert die Schweiz rund 7 Milliarden Schweizer Franken in ihre Armee, was zwischen 0,8 und 0,9% des BIP entspricht. Dieses Budget soll bis ins Jahr 2030 auf 1% anwachsen. Auch wenn der Anstieg im internationalen Vergleich noch bescheiden ist, signalisiert er einen klaren Kurswechsel.
Höhere Ausgaben allein werden jedoch nicht reichen, um die wachsende Zeitlücke zu schliessen. Bis ins Jahr 2027/2028 werden nur wenige zusätzliche Systeme in Betrieb sein, da grosse Programme wie das F-35 oder die bodengestützte Luftverteidigung Jahre brauchen. Dies unterstreicht die Notwendigkeit einer stabilen Planung über einen langfristigen Zeithorizont von fünf bis acht Jahren. Nur so ist es dem Parlament möglich, grössere Beschaffungsprogramme und längerfristige Verpflichtungskredite zu genehmigen. Ohne entsprechende nachhaltige jährliche Budgeterhöhungen sind keine grösseren Beschaffungen realisierbar.
Zudem schwindet das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Schweizer Armee, was Teil eines umfassenderen Vertrauensschwundes in Institutionen ist. Für Unternehmen erhöht sich dadurch das Risiko im Bereich ESG (Environment, Social, Governance). Verteidigungsaufträge können genauer geprüft werden, doch die Bewältigung dieses Reputationsrisikos ist von entscheidender Bedeutung.
Chancen für die Industrie, aber ohne Erfolgsgarantie
Die europäische Aufrüstung wirkt in der Tat als wirtschaftlicher Anreiz für Technologien mit doppeltem Verwendungszweck, also für Produkte, die sowohl zivil als auch militärisch genutzt werden können. Schweizer Unternehmen wie RUAG sowie die lokalen Tochtergesellschaften von Rheinmetall und Elbit sind bereits an multinationalen Programmen beteiligt. Auch viele KMU in der MEM-Industrie (Maschinen-, Elektro-, Metallindustrie) verzeichnen eine erhöhte Nachfrage – teils direkt aus dem Verteidigungsbereich, teils durch Spillover-Effekte militärischer F&E, die gleichzeitig die nichtmilitärische Innovation fördern.
Die Chancen der Verteidigungsindustrie beinhalten jedoch auch die Bewältigung der Risiken, die dem Verteidigungssektor innewohnen: Verteidigungsprojekte sind komplex, dauern lange und bergen politische Risiken. Es gibt zahlreiche Beispiele für problematische Beschaffungsprojekte. Betrachten Sie hierzu die Untersuchungen zur Beschaffung des F-35-Kampfjets, die als Reaktion auf Kostenüberschreitungen, Kapazitätslücken und Zweifel an der Fairness des Vergabeverfahrens im Jahr 2021 durchgeführt wurden. Um Geldverschwendung zu vermeiden, muss der Ausgabenanstieg durch klare Governance, transparente Prozesse und strategische Prioritätensetzung unterstützt werden.
Hinzu kommt, dass die Schweizer Verteidigungsindustrie schrumpft. Im Jahr 2019 erwirtschaftete sie eine inländische Wertschöpfung von 1,7 Milliarden Franken, sicherte 9900 Arbeitsplätze und zahlte 949 Millionen Schweizer Franken an Löhnen aus. In der Zwischenzeit verlagern jedoch immer mehr Unternehmen, darunter GDELS-Mowag, ihre Produktion ins Ausland, um Schweizer Exportbeschränkungen zu umgehen (BAK Economics 2023). Um diesem Trend entgegenzuwirken, zielt die rüstungspolitische Strategie des Bundesrates vom 20. Juni 2025 explizit darauf ab, die inländische Industriekapazität zu stärken, die Versorgungsresilienz wieder aufzubauen und Schweizer Unternehmen eine stärkere Teilnahme an den europäischen Beschaffungsrahmen zu ermöglichen (Bundesrat 2025).
Die Schweiz kann sich nicht auf eine baldige Abkühlung der globalen Rüstungsmärkte verlassen. Da sich die Auftragsbücher der grossen Zulieferer bereits über mehrere Jahre erstrecken, werden die Auslieferungen auch in absehbarer Zeit schleppend bleiben. Allein Rheinmetall hat laut Geschäftsbericht 2025 einen Auftragsbestand von 55 Milliarden Euro, was einer Produktionszeit von fünf Jahren entspricht. Die Schweiz muss ihre Vorgaben vereinfachen, parlamentarische Bewilligungen beschleunigen und inländische Kapazitäten wieder aufbauen, sonst riskiert sie eine dauerhafte Benachteiligung.
Kritische Abhängigkeitsfragen müssen sorgfältig abgewogen werden
Die kritische Abhängigkeit von ausländischen Lieferanten stellt für die Schweiz nach wie vor eine zentrale Herausforderung dar. Viele Schlüsseltechnologien, wie z. B. für Radar, Drohnen und Avionik, sind von Importen abhängig, in vielen Fällen aus den USA und Israel. In Zeiten geopolitischer Unsicherheit – man denke an den Trumpismus oder die Unterbrechung von Lieferketten – ist das eine Achillesferse. Eine engere Zusammenarbeit mit der europäischen Verteidigungsindustrie würde dazu beitragen, diese Abhängigkeiten näher an das Heimatland zu verlagern.
Darüber hinaus werden die heute unterzeichneten Verträge in der Regel nicht vor 2027/2028 erfüllt werden, sodass Projekte weiterhin von kommerziellen Standardprodukten abhängig sind. In einem von US-Zulieferern dominierten Weltmarkt (55% der europäischen Importe) ist das Verteidigungsbudget der Schweiz mit 5,9 Mrd. Schweizer Franken im Jahr 2024 (nur 10% mehr als 2020) bescheiden. Im Vergleich zu Ländern mit weitaus grösserer Marktmacht wie Deutschland, wo das Verteidigungsbudget im gleichen Zeitraum um 75% auf 82 Mrd. Euro anstieg, ist das Budget der Schweiz relativ unattraktiv.
Mit Blick in die Zukunft expandieren Zulieferer aus Südkorea, Indien und der Türkei aggressiv und bieten Drohnen, herrenlose Munition, Raketenartillerie und Satellitenkommunikationssysteme an (SIPRI 2025; Defence News 2025). Solche Marktchancen könnten die Vorlaufzeiten verkürzen, bergen aber auch erhebliche strategische und politische Risiken. Die Herausforderung für die Schweiz besteht darin, selektive Beschaffungen ausserhalb Europas zu verfolgen, wo dies politisch vertretbar ist, und gleichzeitig vertrauensvolle Partnerschaften zu pflegen, die langfristige Sicherheit gewährleisten.
Anleger entdecken Sicherheit, scheuen sich aber vor moralischen Implikationen
Der Wendepunkt in der Sicherheitspolitik zeigt sich auch an den Finanzmärkten. Ein wachsendes Interesse am Verteidigungsmarkt und an sicherheitsrelevanten Anlagen – von der Satelliteninfrastruktur über die Cybersicherheit bis hin zu ausgewählten Verteidigungsaktien – ist bei Pensionskassen, Family Offices und institutionellen Anlegern zu beobachten. Besonders attraktiv sind Unternehmen mit Dual-Use-Portfolios und hoher Innovationskraft.
Doch das Thema ist heikel: Wie bereits erwähnt, sind Verteidigung und ESG keine ideale Kombination. Wer in die Waffenproduktion investiert, muss auf kritische Fragen von Kunden, Aktivisten und der breiten Öffentlichkeit vorbereitet sein. Schweizer Anleger stehen daher vor der Herausforderung, sicherheitsrelevante Anlagen mit ihrer Verantwortung für Nachhaltigkeit und Ethik in Einklang zu bringen.
Resilienz als neuer Geschäftszwang
Cyberattacken, hybride Bedrohungen, gestörte Lieferketten: Sicherheit wird nicht mehr rein militärisch gedacht, sondern umfassend als Resilienz gegenüber Störungen aller Art – sei es klima-, technologie- oder energiebezogen. Dies ist auch eine Chance für Schweizer Unternehmen unterschiedlichster Branchen – von IT-Sicherheit und Mobiltechnologie bis hin zu kritischen Infrastrukturen, Zivilschutz und Notfalltechnologien. Wer früh investiert, sichert sich eine starke First-Mover-Position in einem schnell wachsenden Markt.
Gleichzeitig müssen sich Unternehmen auch gegen Cyberangriffe, geopolitisch motivierte Sanktionen und Marktrisiken durch politische Instabilität wappnen. Hochentwickelte Risikoanalysen und strategische Diversifikation werden für exportorientierte Schweizer Unternehmen zum Muss.
Die Schweiz zwischen Prinzipienbewusstsein und Pragmatismus