In einem ganz aktuell vom Bundesarbeitsgericht (BAG) entschiedenen Fall drehte sich die Kontroverse zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer um den Anspruch auf Entgeltfortzahlung (Urteil vom 13.12.2023, 5 AZR 137/22). Eine personalvermittelnde Firma hatte ihrem Angestellten gekündigt, nachdem er sich krankgemeldet hatte, und sich danach geweigert, Entgeltfortzahlung zu leisten. Nach Auffassung des Gerichts kann die Krankmeldung unter bestimmten Umständen den Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (AU) aufgrund zeitlicher Koinzidenz erschüttern.
Sachverhalt
Kündigung und Krankmeldung
Die Parteien streiten um einen Anspruch des Arbeitnehmers auf Entgeltfortzahlung. Der klagende Arbeitnehmer war seit März 2021 bei der beklagten Arbeitgeberin, einer Zeitarbeitsfirma, beschäftigt. Seit April 2022 setzte die Beklagte den Kläger nicht mehr für ihre Zwecke ein. Am 02.05.2022 meldete sich der Kläger krank und legte eine entsprechende AU für den Zeitraum vom 02.05.2022 bis zum 06.05.2022 vor. Mit Schreiben vom selben Tag, dem 02.05.2022, kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis ordentlich zum 31.05.2022. Die Kündigung ging dem Arbeitnehmer am 03.05.2022 zu. In der Folge legte der Kläger zwei weitere ärztliche Folgebescheinigungen vor, die insgesamt exakt den Zeitraum bis zum Beendigungszeitpunkt des Arbeitsverhältnisses am 31.05.2022 abdeckten.
Arbeitgeber verweigert Entgeltfortzahlung
Jene zeitliche Koinzidenz zwischen AU bzw. Folgebescheinigungen und Beendigungszeitpunkt nahm die Beklagte zum Anlass, ernsthafte Zweifel an der Erkrankung des Klägers zu begründen, und verweigerte eine Entgeltfortzahlung.
Hiergegen wehrte sich der Kläger mit dem Argument, die arbeitgeberseitige Kündigung sei ihm erst nach seiner Krankmeldung zugegangen und eine zeitliche Koinzidenz, die den Beweiswert der AU erschüttern könnte, somit gerade nicht gegeben.
Das Arbeitsgericht Hildesheim in erster Instanz sowie das LAG Niedersachsen gaben dem Kläger recht.
Entscheidung des BAG
Beweiswert der AU bei zeitlichem Zusammenhang mit Kündigung
Das BAG hingegen teilt die Auffassung der Vorinstanzen nur mit Blick auf die erste AU, folgt im Übrigen jedoch seiner bisherigen Rechtsprechung. Danach könne der Beweiswert einer AU im Fall eines engen zeitlichen Zusammenhangs („zeitliche Koinzidenz“) zwischen Krankschreibung und Kündigung erschüttert werden, insbesondere wenn wie hier die AU passgenau den Zeitraum bis zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses abdecke.
Darlegungs- und Beweislast
Grundsätzlich gilt: Ist ein Arbeitnehmer krankheitsbedingt arbeitsunfähig und möchte er in diesem Zuge Entgeltfortzahlung nach § 3 Abs. 1 Satz 1 EFZG erhalten, so obliegt ihm diesbezüglich die Darlegungs- und Beweislast. Jener Verpflichtung kommen Arbeitnehmer in der Regel durch Vorlage einer entsprechenden AU nach. Will der Arbeitgeber nun seinerseits den Beweiswert der AU erschüttern, so sind hieran grundsätzlich hohe Anforderungen zu stellen: Der Arbeitgeber muss Tatsachen darlegen, die ernsthafte Zweifel an der Erkrankung des Arbeitnehmers begründen. In diesem Zusammenhang hat das BAG bereits in einer anderen Entscheidung aus dem Jahr 2021 (BAG, Urteil vom 08.09.2021, 5 AZR 149/21) insbesondere eine zeitliche Koinzidenz zwischen Krankmeldung und Kündigung als ausreichend für die Erschütterung des AU-Beweiswerts gelten lassen. In diesem Fall hatte die klagende Arbeitnehmerin zeitgleich mit ihrer Eigenkündigung eine einzige als Erstbescheinigung gekennzeichnete AU vorgelegt, die passgenau die Dauer der Kündigungsfrist bis zum Beendigungszeitpunkt des Arbeitsverhältnisses umfasste.
Erste AU
Im vorliegenden Fall sei eine solche zeitliche Koinzidenz, wie seitens des LAG Niedersachsen zutreffend ausgeführt, zwischen der ersten AU des Arbeitnehmers und der darauf folgenden Kündigung der Arbeitgeberin nicht gegeben. Aufgrund der zeitlichen Abfolge – zunächst Krankmeldung und erst anschließend Kündigung – könne der Kläger nicht erst durch die Kündigung zu einer Krankmeldung motiviert worden sein. Hier fehle es insoweit an dem notwendigen Kausalzusammenhang, um den Beweiswert der AU zu erschüttern. Das BAG stimmte dem LAG Niedersachen auch dahin gehend zu, dass grundsätzlich nicht entscheidend sei, ob es sich wie vorliegend um eine arbeitgeberseitige oder wie in den meisten bislang zu entscheidenden Fällen um eine arbeitnehmerseitige Kündigung handele.
Folgebescheinigungen
Hinsichtlich der Folgebescheinigungen vertritt das BAG jedoch eine andere Auffassung. Wichtig sei insbesondere eine einzelfallbezogene Würdigung der Gesamtumstände. Eine solche habe das LAG Niedersachsen nicht ausreichend vorgenommen. Insbesondere habe es nicht berücksichtigt, dass die Folgebescheinigungen nach Ausspruch der Kündigung ausgestellt worden seien, den gesamten Zeitraum bis zum Ende des Arbeitsverhältnisses abgedeckt haben und der Kläger zudem unmittelbar am Folgetag nach Ende des Arbeitsverhältnisses wieder genesen und anderweitig beschäftigt gewesen sei. Jene Umstände, so das BAG, seien ausreichend, den Beweiswert einer AU zu erschüttern. Im Ergebnis müsse damit der Kläger das tatsächliche Bestehen einer krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit näher darlegen, um für den durch die Folgebescheinigungen abgedeckten Zeitraum Entgeltfortzahlung beanspruchen zu können.
Das BAG hat die Sache entsprechend an das LAG Niedersachen zurückverwiesen.
Handlungsempfehlung
Die Möglichkeit des Arbeitgebers, den Beweiswert einer seitens des Arbeitnehmers vorgelegten AU zu erschüttern, ist in der Praxis immer wieder ein relevantes Thema, insbesondere da dies regelmäßig mit Differenzen um etwaige Entgeltfortzahlungsansprüche des Arbeitnehmers einhergeht. Mangels gesetzlicher Regelungen ist dabei insbesondere ein Blick auf die aktuelle Rechtsprechung wichtig. Das BAG folgt mit seiner Entscheidung seiner 2021 eingeschlagenen Linie. Eine entscheidende Tatsache, die ernsthafte Zweifel an einer krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers begründen kann, ist insbesondere der enge zeitliche Zusammenhang zwischen Kündigung und Krankmeldung (Stichwort „zeitliche Koinzidenz“). Hier ist jedoch in jedem Fall eine konkrete Abwägung des Einzelfalls zu treffen. Insbesondere muss tatsächlich die Möglichkeit bestehen, dass die Kündigung Motivation für eine arbeitnehmerseitige Krankmeldung gewesen ist.
Kontaktpersonen: Bärbel Kuhlmann, Mira Ney