EU-Bürger ohne Erwerbseinkünfte und Kindergeld
Dreimonatige Sperrfrist unionrechtswidrig
Staatsangehörige eines anderen EU- oder EFTA-Mitgliedstaates, die einen Wohnsitz (oder gewöhnlichen Aufenthalt) in Deutschland begründet haben, erhalten in den ersten drei Monaten kein Kindergeld. Dies gilt grundsätzlich nicht für Personen, die im Inland erwerbstätig sind, § 62 Abs. 1a EStG. Der Europäische Gerichtshof hat nun entschieden, dass die Versagung von Kindergeld in den ersten drei Monaten gegen Unionsrecht verstößt (Urteil vom 01.08.2022, C-411/20, Pressemitteilung Nr. 134/22). Darüber hinaus ist laut Bundesverfassungsgericht eine frühere Regelung für Ausländer aus Drittstaaten verfassungswidrig.
Familienkasse lehnt Antrag auf Kindergeld ab
Die Klägerin und ihr Ehemann sind Eltern von drei Kindern. Alle Familienmitglieder sind bulgarische Staatsangehörige. Im August 2019 begründeten die Klägerin und ihre drei Kinder (wieder) einen Wohnsitz im Inland. Der Ehemann der Klägerin arbeitete ab dem 05.11.2019 in Deutschland. Die Klägerin fand ab dem 17.01.2020 Arbeit.
Die Familienkasse lehnte für die ersten drei Monate nach Wohnsitzbegründung den Antrag auf Kindergeld ab. Die Klägerin habe während dieses Zeitraums in Deutschland keine inländischen Einkünfte bezogen. Daher erfülle sie nicht die Voraussetzungen für den Bezug von Kindergeld für diesen Zeitraum.
Finanzgericht Bremen rief EuGH an
Das Finanzgericht Bremen hegte Zweifel, ob die dreimonatige Sperrfrist unionrechtskonform ist. Das FG hatte daher diese Frage dem EuGH vorgelegt. Erwerbstätig im Sinne dieser Vorschrift sind Personen, die Einkünfte aus Land- und Forstwirtschaft, aus Gewerbebetrieb, aus selbständiger oder aus nichtselbständiger Arbeit erzielen.
EuGH: Kindergeld ist keine Sozialhilfeleistung
Jeder Unionsbürger hat das Recht, sich für bis zu drei Monate in einem anderen Mitgliedstaat aufzuhalten, erläutert der EuGH in seiner Urteilsbegründung. Ein gültiger Personalausweis oder Reisepass genügt. EU-Mitgliedstaaten müssen EU-Bürger aus anderen Staaten während dieser Zeit genauso behandeln wie die eigenen Staatsbürger.
Der aufnehmende Staat ist jedoch insbesondere nicht verpflichtet, während der ersten drei Monate einen Anspruch auf Sozialhilfe zu gewähren. Beim Kindergeld handle es sich allerdings nicht um Sozialhilfeleistungen, sondern um eine Familienleistung, denn sie diene dem Ausgleich von Familienlasten.
Recht auf Gleichbehandlung verletzt
Eine Ungleichbehandlung von EU-Bürgern aufgrund der Staatsbürgerschaft ist grundsätzlich untersagt, und für Familienleistungen gibt es keine Ausnahme von diesem Verbot (Art. 4 der Verordnung 883/2004). Daher steht laut EuGH der Gleichbehandlungsgrundsatz der Versagung von Kindergeld in den ersten drei Monaten entgegen. Die im deutschen Recht geregelte dreimonatige Sperrfrist verstößt demnach gegen Unionsrecht.
Vorübergehender Aufenthalt genügt nicht
Unionsbürger können sich nur auf den Gleichbehandlungsgrundsatz berufen, wenn sie in den betreffenden drei Monaten tatsächlich ihren gewöhnlichen Aufenthalt im aufnehmenden Mitgliedstaat begründet haben. Ein vorübergehender Aufenthalt genügt insoweit nicht, führt der EuGH ergänzend aus.
BVerfG: Frühere Regelung für Ausländer aus Drittstaaten verfassungswidrig
Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat kürzlich eine weitere Regelung zum Kindergeld verworfen (Pressemitteilung Nr. 67/2022 vom 03.08.2022). Nicht freizügigkeitsberechtigte ausländische Staatsangehörige, denen der Aufenthalt aus völkerrechtlichen, humanitären oder politischen Gründen erlaubt war, hatten regelmäßig keinen Anspruch auf Kindergeld, § 62 Abs. 2 EStG 2006. Eine Ausnahme galt, wenn sie sich seit mindestens drei Jahren rechtmäßig in Deutschland aufhielten und zusätzlich eines von mehreren Merkmalen der Arbeitsmarktintegration erfüllten.
Die Regelung war bereits mit Wirkung zum 01.03.2020 geändert worden, nachdem das Finanzgericht dem BVerfG die Frage zur Prüfung vorgelegt hatte, ob die Vorschrift verfassungswidrig ist. Mit Beschluss vom 28.06.2022 erklärte das BVerfG die Vorschrift tatsächlich für nichtig, da sie gegen das Grundgesetz verstieß.
Eine Integration in den deutschen Arbeitsmarkt verlangt die neue Vorschrift nicht mehr (§ 62 Abs. 2 Nr. 4 EStG). Es genügt, wenn die betreffende Person eine Aufenthaltserlaubnis nach § 23 Abs. 1 (Krieg im Heimtatland), § 23a oder § 23 Abs. 3 bis 5 Aufenthaltsgesetz besitzt und sich seit 15 Monaten erlaubt, gestattet oder geduldet in Deutschland aufhält.