Ob nicht nur in Deutschland ein Anspruch auf Kindergeld besteht, sondern möglicherweise auch in einem anderen EU-Mitgliedstaat ein Anspruch auf Familienleistungen, ist laut Bundesfinanzhof vorrangig durch ein Auskunftsersuchen bei der ausländischen Behörde zu klären (Urteil vom 01.06.2022, III R 21/16). Die Entscheidung erging zum „Child Benefit“ im Vereinigten Königreich, das damals noch Mitglied in der EU war. Ab einem bestimmten Nettoeinkommen fällt dort eine Abgabe an, wenn die Familienleistung in Anspruch genommen wird. Dabei ist der rechtlichen Bewertung der zuständigen ausländischen Stelle zum Verhältnis zwischen dem Anspruch auf „Child Benefit“ und einer möglicherweise gegenläufigen Regelung zu folgen.
Sachverhalt
Antragsveranlagung in Deutschland
Der Kläger lebte mit seiner Familie im Streitzeitraum April 2013 bis September 2014 im Vereinigten Königreich. In Deutschland hatte er zwar keinen Wohnsitz, erzielte aber unter anderem Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung. Der Kläger wurde auf Antrag als unbeschränkt Steuerpflichtiger behandelt und zur Einkommensteuer veranlagt (§ 1 Abs. 3 EStG.
Kein Antrag auf Familienleistungen im Vereinigten Königreich
Im Vereinigten Königreich müssen Personen, die ein Nettoeinkommen von mehr als 60.000 britischen Pfund erzielen und Familienleistungen erhalten, eine Abgabe leisten („High Income Child Benefit Charge“). Das Ehepaar stellte dort keinen Antrag auf Familienleistungen, weil es annahm, dass diese Abgabe die Familienleistung aufzehren würde. In Deutschland dagegen beantragte es Kindergeld.
Deutsche Familienkasse gewährt nur Differenzkindergeld
Die deutsche Familienklasse setzte Differenzkindergeld fest und zog den ihres Erachtens im Vereinigten Königreich bestehenden Anspruch auf Familienleistungen dabei ab. Die gegenläufige Abgabe berücksichtigte sie nicht. Die Eheleute legten Einspruch ein – ohne Erfolg.
Finanzgericht: Anspruch auf volles Kindergeld
Das Finanzgericht ist davon ausgegangen, dass das Ehepaar im Vereinigten Königreich wegen der gegenläufigen Abgabe faktisch keinen Anspruch auf Familienleistungen hatte. Daher hob es die Einspruchsentscheidung auf und verpflichtete die Familienkasse, dem Kläger das volle Kindergeld zu gewähren, woraufhin diese Revision einlegte.
BFH
Auskunftsersuchen vorrangig
Der BFH hat zunächst seine bisherige Rechtsprechung bestätigt: Nach europäischem Recht ist regelmäßig bei der zuständigen Behörde des anderen Mitgliedstaates anzufragen, ob und in welchem Umfang der betreffenden Person dort ein Anspruch auf Familienleistungen zusteht (Auskunftsersuchen). Eine Ausnahme gilt im Wesentlichen nur in den Fällen, in denen das (Nicht-)Bestehen des Anspruchs im Ausland unbestritten und zweifelsfrei ist.
Diese Voraussetzung war im Streitfall nicht erfüllt. Die genaue Prüfung eines möglichen konkurrierenden Anspruchs auf Familienleistungen ist vom Finanzgericht daher nachzuholen.
Rechtliche Bewertung der ausländischen Behörde ist bindend
Außerdem weist der BFH darauf hin, dass die rechtliche Bewertung der ausländischen Behörde zum ausländischen Recht maßgeblich ist. Sollte die ausländische Behörde zum Verhältnis zwischen dem Anspruch auf die Familienleistung und dem „High Income Benefit Charge“ Stellung nehmen, sei dieser Einschätzung zu folgen. Der Senat erinnert an einen anderen von ihm entschiedenen Fall, in dem die Behörde mitgeteilt hatte, dass die Abgabe die Familienleistung nicht aufhebe (BFH, Urteil vom 22.02.2018, III 10/17, Rz. 25).
Höhe des Anspruchs auf Kindergeld
Sollte laut Information der ausländischen Behörde im Vereinigten Königreich dort kein Anspruch auf Familienleistungen bestehen, kann der Kläger grundsätzlich verlangen, dass ihm das volle Kindergeld gewährt wird. Ergibt sich dagegen, dass der Kläger oder seine Frau auch in einem anderen EU-Mitgliedstaat Anspruch auf Familienleistungen haben, ist die mehrfache Begünstigung nach Art. 68 der Verordnung (EG) 883/2004 aufzulösen.