Ich lege das Sakko zur Seite, das Hemd weicht einem Kapuzenpullover, schwarz mit gelbem Logo, die Hose einer Trainingshose. Keine zwei Minuten später sitzen mein Team und ich zusammen – alle im gleichen Teamoutfit. Beim gemeinsamen Abendessen, einer gelieferten Pizza, besprechen wir die Taktik für den heutigen Abend. Unser Teamkapitän teilt die Aufgaben zu und schwört uns noch einmal auf die kommende Aufgabe ein. In Kürze beginnt die nächste „Cyber-Challenge“, ein internationaler Wettbewerb, bei dem wir als eines von vielen Teams unterschiedlichste technische Rätsel lösen müssen. Für jedes gelöste Rätsel erhält man Punkte, sammelt man viele, schneidet man am Ende in der Gesamtwertung gut ab. Die heutige Cyber-Challenge wird für 24 Stunden laufen und umfasst 25 verschiedene Rätsel auf den Gebieten Cyber-sicherheit, IT-Forensik, Kryptografie und Programmierung.
Die letzten Sonnenstrahlen des Tages fallen durch die Fenster auf unsere Bildschirme, die Stimmung wird angespannter. Der Geruch von Kaffee und Club Mate liegt in der Luft. Als Motivation läuft House-Musik über einen Lautsprecher. Laptops, Tastaturen und Mäuse liegen bereit – wir sind startklar!
Um Punkt 19:00 Uhr geht es schließlich los. Aus meinen Kolleg:innen und mir wird das Team „4n’Sicks“ – unser Alias, mit dem wir regelmäßig an solchen Challenges teilnehmen. Der Startschuss ist wenig spektakulär. Die Rätsel werden freigegeben, dabei wird es mucksmäuschenstill im Raum. Jede:r überfliegt die Rätsel und hofft, schon erste Ideen für deren Lösung zu finden. Doch es dauert.
Nach einer kleinen Ewigkeit bricht eine Kollegin das Schweigen: „Hat irgendjemand eine Idee?“ Ein Kollege nippt am Kaffee, ein anderer liest zum dritten Mal die Beschreibung der ersten Aufgabe. Die Minuten vergehen, der 30. Stock ist erfüllt von Tastaturanschlägen und Mausgeklapper.
„Ich hab was!“, höre ich hinter mir jemanden rufen, schon springen alle auf. Und als wäre ein Schalter umgelegt worden, beginnen wilde Diskussionen. In kleineren Gruppen besprechen wir einzelne Aufgaben, denken über mögliche Ansätze nach und kommen so, Brotkrume für Brotkrume, den Lösungen allmählich näher.
Erst gegen 02:00 Uhr in der Früh wird es wieder ruhiger im Labor. Im Hintergrund läuft noch Musik – je nachdem, wer gerade DJ sein darf, Deutschrap, House oder Schlager. Der Schlager-Kollege verspielt mit seiner Wahl endgültig seine DJ-Berechtigung. Ein anderer Kollege, Vater einer kleinen Tochter, ist beim Brainstormen im Sitzsack eingeschlafen. Ich mache ein Foto von ihm, man weiß ja nie, wofür man das später noch brauchen kann.
Die nächste gemeinsame Kaffeepause hilft uns, das Tief zu überwinden. Die ersten Sonnenstrahlen des Samstags erreichen den 30. Stock – Aufbruchstimmung erfasst das ganze Team. Wir nutzen den frischen Schub an Motivation, um zu prüfen, wie wir uns bisher geschlagen haben. Anhand einer Echtzeit-Rangliste können wir zu jeder Zeit sehen, wo wir im Vergleich zu den anderen knapp 2.500 Teams liegen. Und siehe da! Platz 57 um 04:30 Uhr. Auf den Plätzen vor uns finden wir außerdem die Teams zweier österreichischer Universitäten, das motiviert uns noch einmal zusätzlich.
Um 08:30 Uhr, die Hälfte der Challenge ist geschafft, bekommen wir unerwarteten Besuch. Eine Kollegin steht in der Tür, bepackt mit zwei Einkaufstaschen voller Croissants, Bagels und belegter Brote. Ihr Gesichtsausdruck zeigt uns, dass eine Nacht mit Kaffee, Club Mate und Kapuzenpullover in einem geschlossenen Raum Spuren hinterlässt, doch schon bald duftet es wie in einer Bäckerei.
Die Pause tut uns gut, die geöffneten Fenster dem Labor. Wir machen weiter. Platz 36 – und nur noch ein anderes österreichisches Team vor uns. Da packt auch unsere Frühstückslieferantin die Neugier und ehe wir uns versehen sitzt auch sie an einem Laptop. Mit ihrem ausgeruhten Blick finden wir schnell weitere Hinweise und kommen gut voran.
Nach 18 Stunden Challenge und gefühlt ähnlich vielen Tassen Kaffee hat mein Körper nun auch endlich akzeptiert, dass er an diesem Wochenende nicht den gewohnten Erholungsschlaf erhalten wird. Trotzdem gilt es, weiter durchzuhalten. „Gemma Leute!“, hallt es regelmäßig durch den Raum. Und je später der Nachmittag, desto beliebter werden die Sitzsäcke. Ein Powernap wirkt Wunder, besonders, wenn der Effekt des letzten Kaffees nachlässt.
Und dann brechen die letzten Minuten an. Draußen wird es schon wieder dunkel. Das ganze Team hat sich um einen Bildschirm versammelt. Wild diskutierend suchen wir nach dem Schlüssel für die letzten noch ungelösten Rätsel. Ein Kollege kommentiert unsere Vorschläge nur noch vom Sitzsack aus. Und den Schlager-DJ können wir gerade noch davon abhalten, Ballermann-Hits aufzudrehen, im Eifer des Gefechts übersehen wir dabei fast die Uhrzeit.
Um Punkt 19:00 Uhr, nach exakt 24 Stunden, ist die Challenge vorbei. Anspannung, Motivation und Ehrgeiz fallen von einem Moment auf den anderen von mir ab und schaffen Platz für eine Müdigkeit, die mich wohl für mehrere Tage begleiten wird. Ein Blick in die kleinen Augen meiner Teammitglieder offenbart mir, dass auch sie völlig ausgelaugt sind. Ich überlege ernsthaft, ob ich Montag und Dienstag vielleicht sogar Urlaub brauchen werde.
Dann ist es endlich soweit und die finale Rangliste wird veröffentlicht. Was für eine Überraschung! Von den knapp 2.500 Teams haben wir den hervorragenden 8. Platz erreicht. Die anderen österreichischen Teams haben wir hinter uns gelassen. Der Schlager-DJ schafft es unbemerkt zur Playlist und dreht „We are the Champions“ auf.
Recht hat er!