Vom Küken zur Muddi
Mit einem letzten A4-Zettel in der Hand stand ich vor dem vollgeräumten Schreibtisch meiner Chefin. Es war Sommer, der Schweiß stand mir auf der Stirn und ich verfluchte das überheizte Bürogebäude in der Praterstraße. Doch tief in mir drin spürte ich in diesem Moment eine Erleichterung – denn voller Stolz legte ich den Zettel aus dem Ablagekörbchen meiner Chefin im Klientenordner ab. Mein erster Ferialjob in der Steuerabteilung von EY war hiermit erfolgreich beendet.
Durch mein großes Engagement und meinen jugendlichen Ehrgeiz, die mich damals prägten, durfte ich während meines Studiums das Steuerberatungsteam dann auch als Praktikantin mit Excel-Auswertungen und bei IT-technischen Fragestellungen tatkräftig unterstützen. Da ich die Jüngste im Team war, wurde ich von meinen Kolleg:innen liebevoll „unser Küken“ genannt.
Nach dem Abschluss meines Studiums lud ich mich auf Anraten meiner damaligen Chefin selbst beim Consulting-Leiter, unserem heutigen Country Managing Partner, zum Bewerbungsgespräch ein, und das verlief folgendermaßen: „Kennst du COBIT?“, fragte Gunther. „Nein“, war meine schüchterne Antwort. Er legte nach: „Kennst du ITIL?“ „Nein.“ Meine Verunsicherung wurde noch größer. Umso überraschter war ich, als ich ein paar Tage später einen Anruf von Gunther erhielt, in dem er mir eine Zusage für das IT-Prüfungsteam erteilte und mich direkt nach dem Telefonat gemeinsam mit meiner Kollegin Adriana zum Kunden schickte. Damit begann die Phase des Erwachsenwerdens – meine Lehrjahre bei EY. Jeden Tag durfte ich neue Kund:innen kennenlernen, neue Bekanntschaften schließen, neue Themenstellungen bearbeiten, an unterschiedlichen Orten arbeiten – kurz, jeder Tag war anders.
Apropos unterschiedliche Orte. Es war Sommer 2010, mein Kollege Toni und ich reisten nach Peking, um gemeinsam mit unseren chinesischen EY-Kolleg:innen ein Beratungsprojekt abzuwickeln. Untertags trafen wir auf sehr zurückhaltende, schüchterne Menschen, die unseren Anweisungen strikt folgten. Abends, als es dunkel wurde, warfen sie sämtliche Zurückhaltung über Bord und ließen in einer Karaokebar gemeinsam mit uns „die Sau raus“, tanzten unbeschwert einstudierte Choreografien zu chinesischen Schlagern, die für unsere europäischen Ohren definitiv nicht geeignet waren. Auch Toni und ich waren erpicht darauf, ihnen österreichische Traditionen zu vermitteln, was dazu führte, dass uns beim Abendessen plötzlich sechs Chines:innen gegenübersaßen, ihr Glas erhoben, „Prost“ sagten und es mit den Worten „Satellit, Satellit“ über ihren Köpfen kreisen ließen.
Im selben Jahr fand ich mich mit meiner Kollegin Christa während einer Klientenbesprechung in Atlanta „Looking for Freedom“ singend wieder. Warum? Unser EY-Kollege aus New York glich David Hasselhoff wie ein Ei dem anderen, was mich sofort angeregt hatte, das Lied laut anzustimmen.
Auch andere Metropolen machte ich in meinen Lehrjahren unsicher. Zwei Wochen Einstiegsseminar (auch Brainwashing genannt) in Eindhoven, Vortragstätigkeit in Wolfsburg, fünf Wochen SAP-Schulung in Heidelberg, wo wir unser Leihauto vom Abschleppplatz holen und die brennende Tasche unserer Kollegin nach einer Sambuca-Session löschen mussten.
Ich, das „Küken“, wuchs mit den Erfahrungen, die ich sammeln durfte, wurde erwachsen und brachte 2014 und 2017 zwei Mädchen auf die Welt.
Da stand ich nun mit einem kleinen Baby im Maxi Cosi und einem dreijährigen aufgeweckten Kind in der Garage des IZD-Towers und wartete auf den Lift. Die Unsicherheit war groß. Würde ich die Balance zwischen Familie und Beruf erfolgreich hinbekommen, im Job weiterhin viel leisten können und trotzdem eine gute Mutter sein? Würde ich weiter in derselben Position arbeiten können wie vor dem zweiten Kind? Würde ich bei EY überhaupt noch gebraucht werden? Viele Fragen kreisten in meinem Kopf herum, doch die Antwort darauf war gleichzeitig meine große Chance.
Ich fühlte mich sehr geehrt, als mich unser Consulting Lead Axel fragte, ob ich ein neues Team aufbauen wolle, das Services rund um Data & Analytics für unsere Kund:innen erbringe. Das klang spannend und ich fand es toll, dass mir dieser Teamaufbau zugetraut wurde. Nach einigen Nächten mit wenig Schlaf, aufgrund einer Kombination von zahnenden Kindern und rotierenden Gedanken rund um meine berufliche Veränderung, entschloss ich mich, die Herausforderung anzunehmen und das Gelernte aus meinen „Lehrjahren“ umzusetzen. Nicht ahnend, dass hiermit die nächsten Lehrjahre begannen.
Ich hatte großen Gestaltungsfreiraum, konnte mich mit sehr innovativen, coolen Themen beschäftigen, doch die Aufbauarbeit war mühsam und „zach“ – im wahrsten Sinne des Wortes. Ich fühlte mich wie in einem Start-up innerhalb eines Großkonzerns und unseren Kund:innen fehlte zu Beginn das Interesse an Berater:innen für Data & Analytics.
Doch irgendwann kamen die ersten Projekte zu Automatisierung, Künstlicher Intelligenz und Data Governance. Es bewarben sich interessante Menschen, bereicherten unser Team und ich wurde zur „Muddi“ eines sehr erfolgreichen, kreativen und unkonventionellen EY Data & Analytics Teams. Der Durchbruch war geschafft.
„The Kagran Dream – From Intern to Partner.“ So lautete der Titel der Einladung zu meiner Equity Partner Feier beim Heurigen. Mit einem A4-Zettel in der Hand stand ich vor einem 40-köpfigen Data & Analytics Team und erzählte stolz, welche Erfolge wir gemeinsam in den letzten Jahren erreicht hatten. Es begann zu regnen, doch ich blickte ungetrübt und fröhlich zurück auf die 22 Jahre EY, die vielen Freundschaften, die sich in der Zeit entwickelt hatten, die vielen spannenden Projekte, die Gespräche mit unheimlich vielen Menschen und den Blödsinn, den wir getrieben hatten.