Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden: 6 Prozent Zinsen p. a. sowohl für steuerliche Nachzahlungen als auch für Erstattungen sind zu viel. Für die meisten Unternehmen ist dies eine gute Nachricht, da im Zuge von Betriebsprüfungen nachträglich oft mehr Steuern festgesetzt wurden. Bei einem Zinslauf von durchaus häufigen vier Jahren kam zu den Mehrsteuern noch knapp ein weiteres Viertel als Zinslast obendrauf – ein regelmäßiges Ärgernis. Nach der Karlsruher Entscheidung ist der Fiskalzins aber nur mit Wirkung ab 1. Januar 2019 nichtig. Zwar sieht das Gericht die Regelungen schon ab 2014 als „evident realitätsfern“ und daher verfassungswidrig an, gleichwohl entschied es, dass die 6 Prozent p. a. für Verzinsungszeiträume bis Ende 2018 weiter gelten und eine Neuregelung erst bis zum 31. Juli 2022 erfolgen muss.
Erst mal nur ausgesetzt
Für Verzinsungszeiträume ab 1. Januar 2019 setzt der Fiskus die Festsetzungen von Nachzahlungs- und Erstattungszinsen vorerst aus. Eine entsprechende Anweisung findet sich in einem Schreiben des Bundesministeriums der Finanzen vom 17. September 2021. Einen neuen Zinssatz gibt es allerdings noch nicht, da das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber hierfür einen zeitlichen Aufschub bis 31. Juli 2022 gewährt. Bisher schon gezahlte Zinsen für Zeiträume ab Januar 2019 verbleiben aber vorerst beim Finanzamt und werden mit dem neu vom Gesetzgeber zu findenden Zinssatz verrechnet (u. U. ist zuvor ein Antrag auf Aufhebung der Vollziehung erfolgversprechend).
Welcher Zinssatz gilt künftig?
Die große Preisfrage ist nun, wie der neue Zinssatz ab 2019 lauten wird. Das Bundesverfassungsgericht gibt zwar Anhaltspunkte, doch entscheiden muss der Gesetzgeber. In der Sache gilt es einen Zinssatz zu finden, der den (Liquiditäts-)Vorteil einer späteren Steuerfestsetzung (und damit verbundenen späteren Steuerzahlung) abschöpft. Im Gegensatz zu einem Säumniszuschlag (für nicht geleistete Zahlungen nach Festsetzung und Fälligkeit der Steuer) sollen die Nachzahlungs- bzw. Erstattungszinsen nämlich keinen bestrafenden Charakter haben.
Denkbar wäre, dass sich in der Praxis eine Bandbreite (Zinskorridor) herausbildet, in deren Rahmen eine Schätzung des neuen verfassungskonformen Zinssatzes plausibel erscheint. Schätzungen außerhalb dieses noch zu definierenden Zinskorridors würden höhere Dokumentationsanforderungen nach sich ziehen. Dabei wird stets eine Einzelfallprüfung erforderlich und die Einschätzung des Steuerpflichtigen über die zukünftige, verfassungskonforme Zinshöhe entscheidend sein. Voraussetzung ist dabei eine vernünftige, aus den Anhaltspunkten im BVerfG-Beschluss abgeleitete Begründung. Trotz eines aktuellen Basiszinssatzes von –0,88 Prozent (1. Juli 2021) erwartet die Fachwelt tendenziell einen positiven und zudem mit vermutlich einer Nachkommastelle durch 12 teilbaren Zinssatz. Alternativ ist auch ein flexibler Zinssatz nicht auszuschließen, wie er beispielsweise in Österreich vorliegt (siehe nachfolgend).
Blick zum EuGH
Aus umsatzsteuerlicher Perspektive ist auch noch nicht entschieden, ob vielleicht auch der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) ein Wörtchen mitzureden hat. Denn für den Bereich der Umsatzsteuer ist übergeordnet die europäische Mehrwertsteuersystemrichtlinie (MwStSystRL) zu beachten, die die Mitgliedstaaten verpflichtet, ihren Inhalt in das jeweilige nationale Umsatzsteuerrecht zu transferieren. Es empfiehlt sich an dieser Stelle, auch für Verzinsungszeiträume bis Ende 2018 Zinsbescheide auf Umsatzsteuernachzahlungen offen zu halten, sodass zukünftige für die Steuerpflichtigen positive Entscheidungen u. U. noch berücksichtigt werden können. Denn nach Auffassung des EuGH sind die Mitgliedstaaten zwar befugt, bei Nichtbeachtung einer nach Unionsrecht geschaffenen Regelung Sanktionen auszusprechen, jedoch müssen sie bei Ausübung dieser Befugnis das Unionsrecht und seine allgemeinen Grundsätze, also auch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, beachten. Die Sanktionen der Mitgliedstaaten dürfen daher nicht über das hinausgehen, was erforderlich ist, um eine genaue Erhebung der Steuer sicherzustellen und Steuerhinterziehungen zu vermeiden, und sie dürfen die Neutralität der Mehrwertsteuer nicht infrage stellen.
Wie erfolgt die Zinsfestsetzung?
Die Regelung des § 233a AO räumt der Verwaltung keinerlei Ermessen bei der Zinsfestsetzung ein. Vielmehr erfolgt die Zinsfestsetzung sowohl dem Grunde als auch der Höhe nach ungeachtet der Umstände des Einzelfalls. Die verfahrensrechtliche Vollverzinsung für Umsatzsteuernachzahlungen ist damit (zumindest auch) eine Sanktionsnorm, wie die deutsche Regierung in der Rechtssache Senatex vorgetragen hat (EuGH, Urt. v. 15. September 2016, Rs. C-518/14). Damit könnte die Regelung des § 233a AO voraussichtlich gegen das dem Verhältnismäßigkeitsprinzip innewohnende Übermaßverbot wie auch gegen das Gebot der Neutralität der Mehrwertsteuer verstoßen. Auch hat der EuGH bereits geurteilt, dass es nicht mit der MwStSystRL im Einklang steht, dass automatisch Sanktionen auferlegt werden, ohne dass die Steuerbehörden die Möglichkeit haben, die Art und Weise der Festsetzung individuell zu beurteilen (EuGH, Urt. v. 15. April 2021, Rs. C‑935/1, Grupa Warzywna).
So machen es Österreicher, Spanier und Briten
Vor der Frage nach dem richtigen Fiskalzins stehen angesichts extrem niedriger Marktzinsen auch andere Länder. Eine europaweite Umfrage im Rahmen des Tax-Policy-Netzwerks von EY ergab, dass sich ein Vergleich als schwierig erweist. Oftmals scheinen ausländische Verfahrensrechte nicht zwischen Nachzahlungs-/Erstattungszinsen und dem in Deutschland als Säumniszuschlag bekannten „Strafzuschlag“ für eine verspätete Steuerzahlung zu unterscheiden. Allerdings gibt es in vielen Nachbarländern eine Kopplung des Nachzahlungszinssatzes an den Basiszins. In Österreich zum Beispiel sieht das Verfahrensrecht für die Bemessung der korrespondierenden „Anspruchszinsen“ 2 Prozentpunkte über dem Basiszinssatz vor; zurzeit sind es 1,38 Prozent p. a. In Spanien liegen die steuerlichen Zinsen um 25 Prozent über dem Basiszinssatz und derzeit bei 3,75 Prozent p. a., im Vereinten Königreich beträgt der Zinssatz für Nachzahlungen 2,6 Prozent p. a. Deutschland liegt mithin viel zu hoch und muss nun nachziehen.
Und was ist mit dem Rückstellungszins?
Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts gilt nicht für andere Fiskalzinsen wie Stundungs-, Hinterziehungs-, Aussetzungs- und Rückstellungszinsen. Folglich sieht die Bundesregierung hier keine direkten Auswirkungen, heißt es in einem Schreiben an die frühere Vorsitzende des Finanzausschusses im Bundestag, Katja Hessel. Auch aufgrund des hohen Steuerminderungseffekts scheint eine Ausweitung der Zinssenkung insbesondere auf Pensionsrückstellungen vor der Entscheidung über das dazu anhängige Verfahren beim Bundesverfassungsgericht (Az. 2 BvL 22/17) zum Diskontierungszinssatz für Pensionsrückstellungen unwahrscheinlich. Diese Entscheidung soll im nächsten Jahr erfolgen.
Co-Autorin: Vivien Mayer