Wesentliche Änderungen eines öffentlichen Auftrags während der Vertragslaufzeit erfordern grundsätzlich nach § 132 Abs. 1 S. 1 GWB ein neues Vergabeverfahren. Die Ausnahmen nach § 132 Abs. 2 und Abs. 3 GWB setzen Art. 72 Richtlinie 2014/24/EU um. Der EuGH hat in seinem Urteil vom 03. Februar 2022 - Rs. C-461/20 eine Auslegung des Art. 72 Abs. 1 lit. d Ziff. ii Richtlinie 2014/24/EU vorgenommen, die für die Anwendung des § 132 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 lit. b GWB maßgeblich ist
Sachverhalt
Das schwedische Zentralamt hatte im wettbewerblichen Verfahren Rahmenverträge an zwei Unternehmen vergeben. Eines wurde insolvent und übertrug in diesem Zusammenhang seine Rahmenverträge auf einen früheren Bewerber im Vergabeverfahren, der zwar die Eignungskriterien erfüllte, aber keinen Zuschlag erhalten hatte. Der zweite erfolgreiche Bewerber erhob Klage gegen die Übertragung. Die bloße Übernahme der Rechte und Pflichten aus der Rahmenvereinbarung ohne Übertragung jeglicher Geschäftsbereiche genüge nicht Art. 72 Abs. 1 d Ziff. ii Richtlinie 2014/24/EU bzw. dem schwedischen Umsetzungsgesetz, so dass ein neues Vergabeverfahren erforderlich würde. Im Rechtsmittelverfahren legte der Oberste Verwaltungsgerichtshof dem EuGH diese Auslegungsfrage zu Art. 72 Abs. 1 d Ziff. ii Richtlinie 2014/24/EU zur Vorabentscheidung vor.
Entscheidungsgründe
Der EuGH entschied, dass „Art. 72 Abs. 1 Buchst. d Ziff. ii der Richtlinie 2014/24 so auszulegen ist, dass bei einem Wirtschaftsteilnehmer, der – nachdem über das Vermögen des ursprünglichen Auftragnehmers das zu dessen Abwicklung führende Konkursverfahren eröffnet wurde – lediglich diejenigen Rechte und Pflichten des ursprünglichen Auftragnehmers übernommen hat, die sich aus einer mit einem öffentlichen Auftraggeber geschlossenen Rahmenvereinbarung ergeben, davon auszugehen ist, dass er im Sinne dieser Bestimmung im Zuge einer Unternehmensumstrukturierung teilweise an die Stelle des genannten ursprünglichen Auftragnehmers getreten ist“. Im Grundsatz sei der Auftragnehmerwechsel eine wesentliche Änderung des Auftrags, so dass im Sinne der Grundsätze der Transparenz und der Gleichbehandlung ein neues Vergabeverfahren durchzuführen sei.
Nach Art. 72 Abs. 1 Buchst. d Ziff. ii der Richtlinie 2014/24/EU können Rahmenvereinbarungen ohne neues Vergabeverfahren geändert werden, wenn ein neuer Auftragnehmer, der die ursprünglich festgelegten qualitativen Eignungskriterien erfüllt, im Zuge einer Unternehmensumstrukturierung einschließlich Insolvenz ganz oder teilweise an die Stelle des ursprünglichen Auftragnehmers tritt, sofern dies keine weiteren wesentlichen Änderungen des Auftrags zur Folge hat und nicht dazu dient, die Anwendung der Richtlinie zu umgehen.
Der EuGH stellte primär auf den Wortlaut und den Sinn und Zweck der Norm ab. Der Begriff der „Insolvenz“ sei in seinem üblichen Sinn zu verstehen, der u. a. die Zahlungsunfähigkeit einschließlich des zur Abwicklung führenden Konkurses umfasst. Der Wortlaut und der 110. Erwägungsgrund erforderten keine (zumindest teilweise) Fortführung oder Übernahme des Betriebs oder von Geschäftsbereichen des ursprünglichen Auftragnehmers. Zwar sei der Begriff „Insolvenz“ i. S. der Ausnahmeregelung eng auszulegen, die Interpretation solle der Ausnahme aber nicht ihre praktische Wirksamkeit nehmen. Dies wäre der Fall, wenn der Begriff auf Situationen mit zumindest teilweiser Übernahme der Geschäftsbereiche beschränkt würde.
Auch der Wortlaut des vollständigen oder teilweisen Eintritts des neuen Auftragnehmers im Zuge der Umstrukturierung des früheren Auftragnehmers durch Insolvenz erlaube auch die teilweise Übernahme der Vermögenswerte, mithin auch nur einzelner Rahmenvereinbarungen. Für eine vergaberechtsfreie Umstrukturierung genüge somit der Eintritt eines Unternehmens in die Rechte und Pflichten aus einer an das abzuwickelnde Unternehmen vergebenen Rahmenvereinbarung.
Fazit
Zwar bleibt der Wechsel des Auftragnehmers eine wesentliche Änderung während der Vertragslaufzeit. Er ist jedoch nach § 132 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 lit. b GWB ohne neues Vergabeverfahren zulässig, wenn der neue Auftragnehmer im Wege einer Unternehmensumstrukturierung durch Insolvenz an die Stelle des ursprünglichen Auftragnehmers tritt. Hierbei genügt der Eintritt in die Rechte und Pflichten aus einer an das abzuwickelnde Unternehmen vergebenen Rahmenvereinbarung – auch ohne Übernahme von Geschäftsbereichen.
Co-Autorin: RA Nele Tofaute