Eigentlich war der Head of Tax (HoT) bei der Tüftelfleißig AG mit dem Erlass zufrieden, den das Bundesfinanzministerium Mitte dieses Jahres veröffentlichte. Endlich gibt es ein BMF-Schreiben, das die verstreuten Vorschriften zu den Verrechnungspreisen bündelt und einen zentralen Überblick gewährt. Das erleichtert die Arbeit seiner Steuerabteilung, die sich mit all den Verästelungen eines internationalen Unternehmens im Bereich Maschinenbau und Dienstleistungen beschäftigen muss. Die Tüftelfleißig AG ist, weil wir aus Gründen des Daten- und Vertrauensschutzes kein reales Unternehmen präsentieren können, ein Synonym, das EY für das Tax & Law Magazine erschaffen hat. Gleichwohl befasst sich dieses fiktive Unternehmen mit all den steuerrelevanten Fragen, die jeden CFO, jeden HoT und jede Steuerabteilung beschäftigen.
Wenige Wochen nach Veröffentlichung des BMF-Schreibens erlebt die Tüftelfleißig AG eine erste böse Überraschung bei der Betriebsprüfung. Was ist passiert? Der Mutterkonzern hat ihrer deutschen Tochtergesellschaft K GmbH für den Ausbau einer Konstruktionssparte ein Darlehen in Höhe von 10 Millionen Euro zum Zinssatz von 3 Prozent gewährt. Dabei handelt es sich um einen marktüblichen Zins, wie der HoT von seiner Steuerabteilung in der gebotenen Sorgfalt prüfen ließ. Im Betriebsprüfungsmeeting kritisieren die Beamten jedoch den Zinssatz. Nach den neuen Verwaltungsgrundsätzen sei der Fremdvergleichsgrundsatz anders zu interpretieren. Der gedachte Dritte würde mangels direkter Refinanzierungskosten einen anderen Zinssatz verlangen, erläutern sie dem HoT.
Folglich wird der Mutterkonzern zur Beurteilung der Fremdüblichkeit nicht mehr einfach durch einen fremden Dritten, also ein unverbundenes Unternehmen, ersetzt. Dies hätte unstrittig zu einem angemessenen Zinssatz von 3 Prozent geführt, räumen die Prüfer ein. Doch nach den neuen Vorschriften wird ein gedachter Dritter hypothetisch in die Position und die vorgefundenen Umstände der Tüftelfleißig AG hineinversetzt. Aus dieser Perspektive müssten die Finanzbeamten von nun an den Fremdvergleich beurteilen. „Und was bedeutet das konkret?“, fragt der HoT. „Auf jeden Fall eine Zinskorrektur“, geben die Prüfer zu verstehen, „und zwar nicht zugunsten des Unternehmens.“
Lauter Überraschungen
Es ist nicht die einzige Überraschung, die das Jahr 2021 der Verrechnungspreiswelt beschert hat. Sowohl die Finanzverwaltung als auch der Gesetzgeber und der Bundesfinanzhof haben sich umfassend bemüht, die internen Beziehungen zwischen Mutter-, Tochter- und Schwestergesellschaften zu evaluieren und teilweise neu zu bewerten. Heraus kamen insbesondere eine Novellierung des Fremdvergleichsgrundsatzes und eine detaillierte Berücksichtigung der DEMPE-Funktionen sowie eine modifizierte Beurteilung von Fremdkapital und Zinsen.
Gesetz, Gesetz, Erlass
Nach den Änderungen in § 1 AStG durch das Abzugsteuerentlastungsmodernisierungsgesetz und das ATAD-Umsetzungsgesetz bilden die Verwaltungsgrundsätze Verrechnungspreise (VWG VP) vom 14. Juli 2021 den Höhepunkt bei der Neubewertung grenzüberschreitender konzerninterner Leistungen. Darin legt die Finanzverwaltung auf 44 Seiten ihre konsolidierte und zum Teil neue Sicht zu sämtlichen Themen im Verrechnungspreisbereich dar. Die VWG VP fassen die bislang über viele BMF-Schreiben verteilten Verrechnungspreisgrundsätze zusammen und enthalten genaue Verweise. Das ist im Sinne der Klarheit zu begrüßen. Im Sinne der Vermeidung einer Doppelbesteuerung ebenfalls zu begrüßen ist die grundsätzliche Orientierung an den OECD-Leitlinien, die nunmehr integraler Bestandteil der VWG VP sind.
Endlich den internationalen Gepflogenheiten verbunden
Die Leitlinien der in Paris ansässigen Organisation wurden in ihrer ersten Fassung vom Ausschuss für Steuerfragen und vom Rat der OECD im Jahr 1995 veröffentlicht. Sie stellten aber bereits eine Überarbeitung des OECD-Berichts Verrechnungspreise und Multinationale Unternehmen dar, der 1979 veröffentlicht wurde – also vor mehr als vier Jahrzehnten. Im Laufe der Zeit wurden die Leitlinien 1996, 1997, 1999, 2009, 2010, 2013, 2015 und schließlich insbesondere aufgrund der Ergebnisse des BEPS-Projekts 2015 das vorerst letzte Mal im Jahr 2017 überarbeitet. Als internationale Verrechnungspreisgrundsätze sind sie für die Staaten und deren Verrechnungspreispraxis nicht mehr wegzudenken.