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Nutzung von Gesundheitsdaten: Gesetzliche Grundlagen weitergedacht

Eine Potenzialanalyse des GDNG: Dieser Artikel beleuchtet die Chancen des Gesundheitsdatennutzungsgesetzes zur Verbesserung der individuellen Gesundheitsversorgung durch personalisierte Daten und gleichzeitig werden die Herausforderungen wie Datenschutz und gesetzliche Komplexität kritisch betrachtet. 


Überblick
  • Das Gesundheitsdatennutzungsgesetz (GDNG) ermöglicht personalisierte Hinweise von Kranken- und Pflegekassen zur Verbesserung der individuellen Gesundheitsversorgung.
  • Erste Pilotprojekte zeigen vielversprechende Ergebnisse bei der Früherkennung und Prävention von Krankheiten durch individualisierte Versorgungsangebote.
  • Gesetzliche Krankenkassen müssen systematisch handeln und offen kommunizieren, um sich als proaktive Akteure im Gesundheitsmarkt zu positionieren.

Viele Daten, wenig Nutzen – Skalierung individueller Versorgungsangebote

Das Gesundheitswesen voranbringen, bessere Forschung und Versorgung, individuellere Betreuung in Vorsorge und Krankheit – gegen Widerstände und mit großen Hoffnungen wurde vor fast einem Jahr das Gesundheitsdatennutzungsgesetz (GDNG) auf den Weg gebracht. Vor allem Krankenversicherungen hofften, dass die Kombination aus technologischen Entwicklungen und gesetzlichen Möglichkeiten eine neue Interaktion mit Versicherten ermöglicht, in der frühzeitig auf Versicherte mit Unterstützungsbedarf zugegangen werden kann. Doch welche Potenziale wurden bislang genutzt? Wie kommen wir von einzelnen Pilotprojekten in eine skalierte Nutzung individueller Gesundheitsdaten? Und wie kann das Gesundheitssystem hier insgesamt besser zusammenarbeiten – einschließlich der behandelnden Ärzt:innen?

Erste Anwendungsfälle und Ausbaustufen

Laut Gesetz dürfen Kranken- und Pflegekassen auf Basis von ihnen vorliegenden Daten personalisierte Hinweise an ihre Versicherten geben, wenn dies dem individuellen Schutz derer Gesundheit dient, zum Beispiel der Arzneimitteltherapiesicherheit, der Erkennung von Krebserkrankungen und seltenen Erkrankungen oder zur Verhinderung einer Pflegebedürftigkeit. Die Aufbruchstimmung wurde schnell gedämpft. § 25b SGB V ist komplex; ein strenger Brief der Aufsicht, der auf Informationspflichten an Verwaltungsräte und mögliche Regressverfahren der Vorstände fokussierte, sowie ein mahnendes Schreiben des Datenschutzes wirkten zusätzlich. Diverse euphorische GDNG-Diskussionen und ermutigende Worte des Gesundheitsministeriums später sind die ersten Piloten im Feld und erproben individualisierte Versorgungsangebote basierend auf §§ 68b oder 25b. Beispiele sind eine proaktive Pflegeberatung, HPV- oder Pneumokokkenimpfung für bestimmte Zielgruppen, Kolonkarzinomnachsorge, die Früherkennung von Niereninsuffizienz oder eine frühzeitige Identifikation chronischer Schmerzpatient:innen. Im Detail wird indes selten über Anwendungsfälle gesprochen, schon gar nicht über die Prozesse dahinter und die ersten Erfahrungen. Zu groß sind die Bedenken, öffentlich dafür abgestraft zu werden. Das macht es schwer, aus den Erfahrungen gemeinsam zu lernen, beispielsweise in Bezug auf Versichertenreaktionen und Erfolge bei der Ansprache.

Marktvorbereitung auf Individualisierung

Trotzdem scheint sich der Markt auf mehr Individualisierung vorzubereiten. Krankenversicherungen bauen ihre Datenanalytik-Abteilungen aus und stellen Data Scientists ein, die kasseneigenen Apps werden ausgebaut, um individualisierte Inhalte ausspielen zu können. Proaktive Ansprachen können über digitale Kanäle (beispielsweise künftig auch über den verpflichtenden TI-Messenger) zunehmend niedrigschwellig und kostengünstig ausgespielt werden. Der Boden für eine weitere skalierte Ansprache der Versicherten wird damit technisch und datenseitig vorbereitet. Die Versicherten sind es auch: In der EY-Digital-Health-Umfrage 2024 reagierten 84 Prozent der Befragten positiv auf die Frage: „Wie fänden Sie es, wenn Ihre Krankenkasse Ihnen eine Leistung zur Vorbeugung von Erkrankungen anbietet, die zu Ihren Risikofaktoren passt?“

Eine systematische Ansprache der Versicherten erfordert die Entwicklung eines umfassenden CRM-Systems zur Dokumentation von Einverständniserklärungen und zur Messung von Effekten.

CRM-Systeme und Lernkurven

Für Krankenkassen bedeutet das, ein ganzes CRM-System zur systematischen Ansprache der Versicherten zu entwickeln. Einverständniserklärungen müssen dokumentiert, Versicherte, die solche Datenauswertungen ablehnen, entsprechend markiert, unterschiedliche Zyklen der Wiederholung (z. B. nach den gesetzlichen Vorsorgerhythmen) hinterlegt und idealerweise Effekte gemessen werden. Zusätzlich ist wichtig, dass eine Lernkurve über die Zeit eingeplant wird. Möglicherweise möchte jemand, der heute skeptisch gegenüber Auswertungen seiner Daten ist, nicht für immer von Gesundheitsempfehlungen ausgeschlossen werden. Umgekehrt können falsch platzierte oder unsensible Angebote auch dazu führen, dass sich Menschen stärker abgrenzen und ihr Einverständnis widerrufen.

 

Gezielte Platzierung von Angeboten und Lotsenfunktion

All diese Beispiele können durch Hinweise oder direkte Intervention der Krankenkassen durchgeführt werden. Das gilt insbesondere für Erinnerungen an Vorsorge- und Früherkennungen oder Impfungen, Terminhinweise zur Wahrnehmung von Kontrolluntersuchungen und interessenbasierte Angebote zur Prävention. In vielen Fällen gibt es dann auch noch eine direkte Überleitung zu Kooperationspartnern, etwa die Einsendung einer Stuhlprobe für die Darmkrebsfrüherkennung. Im Grunde könnten die meisten selektivvertraglichen Angebote auch von entsprechenden datenbasierten Ansprachen begleitet werden, um optimal platziert zu werden. Dies impliziert zugleich, dass diese Art der Angebote endlich ist. Vor allem in Zeiten knapper Budgets können hier immer nur einzelne Akzente gesetzt werden.

 

Zusätzlich gibt es Themen, bei denen Kranken- und Pflegekassen selbst Abhilfe schaffen können. Das gilt insbesondere bei der Früherkennung von Pflegebedarfen, wo eine Beratung der Pflegebedürftigen sowie den An- und Zugehörigen über mögliche Unterstützung zu unmittelbarer Entlastung führen kann. In der Fallsteuerung, insbesondere im Krankengeld, kann ebenfalls direkt interveniert werden. Insbesondere wenn es darum geht, die nächsten Schritte anzugehen, d. h. Termine beim Facharzt zu bekommen, Klärung durch Zweitmeinungen oder bildgebende Verfahren einzuleiten, Übergangsangebote beim Warten auf Therapien (z. B. bei psychologischen Diagnosen) oder Reha-Maßnahmen anzuschieben. Hier kann der viel beschworene Kümmerer und Lotse voll zum Einsatz kommen. „Diese Art der Ansprache ist ja an sich ja schon innovativ und daher auch als Versorgungsinnovation nach § 68b SGB V gesetzlich möglich“, sagt Florian Bontrup, Geschäftsführer von Docyet, einem Anbieter digitaler Lotsensysteme. Er sieht darin ein riesiges Potenzial, Versorgung direkt besser zu machen: „Immer wenn wir wissen, dass jemand krank ist und möglicherweise Hilfe braucht, könnte man doch schon jetzt umgehend handeln.“ Wer den viel zitierten Kümmerer als Vision für die Krankenkasse der Zukunft ernst nimmt, kommt eigentlich nicht umhin, dieser Logik zu folgen.

 

Skalierung gemeinsam mit Ärzt:innen

Bei allen darüber hinausgehenden Auswertungen ernsthafterer Erkrankungen, möglicherweise weiterer notwendiger Diagnostik und damit auch höherer Komplexität in den Folgeschritten stellt sich die Frage, welche Rollen Krankenkassen hier spielen wollen und sollen. Schon in § 25b SGB V wird betont, dass es nicht um ein Eingreifen in die ärztliche Therapiefreiheit geht und Hinweise an die Versicherten in die elektronische Patientenakte zu übergeben seien. Grundsätzlich kann man davon ausgehen, dass hier ein enger Austausch zwischen Kassen und Leistungserbringenden notwendig wird.
 

Innovationsfondsprojekte wie AdAM (digital gestützte Arzneimitteltherapie) haben gut belegt, wie Hinweise auf mögliche Wechselwirkungen Ärzt:innen zugespielt und überprüft werden können, ohne Patient:innen unnötigerweise zu beunruhigen. Das wäre gerade bei den ersten Gehversuchen von Datenauffälligkeiten sinnvoll. Ein datenbasiertes Gesundheitssystem muss zwingend lernen. Dazu gehören notwendigerweise auch falsch-positive Verdachtsdiagnosen. Platziert in den Arzt-Informations-Systemen könnten hier beispielsweise Hinweise von Krankenkassen an die Leistungserbringenden gegeben und dann bestätigt oder falsifiziert werden. Das wären die optimalen Bedingungen, um „reinforced learning“ für künstliche Intelligenz zu ermöglichen. Haus- und Facharztverträge sowie größere diagnosespezifische Selektivverträge wären dafür optimal geeignet, da hier die notwendige Vergütungslogik (in anderen Konstellationen) bereits etabliert ist.
 

Die behandelnden Ärzt:innen dürften ein legitimes Interesse daran haben, zu verstehen, auf welchen Daten eine Empfehlung jeweils basiert, bevor sie eine weiter gehende Diagnostik oder Beratung initialisieren. Hier braucht es Aufklärung und Transparenz, welche Daten ausgewertet werden und welche Annahmen hinter den Empfehlungen stecken. Das würde wiederum bedeuten, dass nicht nur Einzelkassen loslegen, sondern sich ein Dialog beispielsweise mit Ärztevertretungen entwickelt und gegebenenfalls Datenauswertungen und Empfehlungen aus medizinischer und datenbasierter Sicht miteinander abgestimmt werden. Gerade zu Beginn wäre es hilfreich, sich auf ein Standardpaket von Auswertungen und Empfehlungen zu verständigen, damit sich die behandelnden Ärzt:innen hier nicht pro Kasse und Versicherten immer weniger ein neues Bild machen müssen – wobei fraglich ist, ob in dieser Ausbaustufe einzelne Krankenversicherungen noch die sinnvolle treibende Kraft wären. Der Förderschwerpunkt „Algorithmen für die Erkennung gesundheitlicher Risiken auf der Basis von Sekundärdaten“ schlägt hier Brücken, indem verschiedene Kassen und weitere Partner zusammengebracht werden. Ziel der Förderung ist es laut G-BA, eine Übersicht zu erstellen, „zu welchen gesundheitlichen Risiken Algorithmen möglicherweise geeignet sind und welche Risiken sich nur schlecht in den verfügbaren Sekundärdaten abbilden“ (Förderbekanntmachung). Vielleicht hilft es auch, § 25b SGB V wieder etwas mehr Kraft einzuflößen.
 

Perspektivisch wäre vorstellbar, dass die gematik – als „Digitalagentur Gesundheit“ – mit Zugriff auf Daten des Forschungsdatenzentrums (FDZ) und im Dialog mit der KBV die Entwicklung solcher Algorithmen bündelt und übernimmt. Da diese Algorithmen nah am Status von Medizinprodukten sind, könnte auch das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) gleich mit einbezogen werden.
 

Bislang werden individuelle Empfehlungen allerdings als Wettbewerbsbereich der Einzelkassen interpretiert. Die Logik der Versorgungsverträge wird dabei die Vision des datenbasierten Unternehmens erweitert: Wer die besten frühzeitigen Interventionen setzt, erzielt die besten Gesundheitsergebnisse für sein Versichertenkollektiv. In einer erweiterten Ausbaustufe stellen sich dazu auch ethische Fragen. Stellen wir uns vor, einzelne gesetzliche Krankenversicherungen entwickeln Algorithmen, mit denen bestimmte Krankheiten frühzeitig erkannt und besser therapiert werden können. Wäre es hier vertretbar, dieses Wissen aus Wettbewerbsgründen zu begrenzen? „Keiner überprüft, welche Algorithmen die Kassen anwenden“, beklagt die Expertin für IT-Standards Silvia Thun im Interview mit der AOK und fordert, dass Versicherungen die medizinische Evidenz von Algorithmen nachweisen und veröffentlichen sollten.
 

Diese Argumentation entspricht durchaus den Prämissen des GDNG, mit Gesundheitsdaten Leben retten zu wollen und Datenspenden als ein Akt der Solidarität zu sehen. Algorithmen zu teilen und die Ansprache über die Leistungserbringenden gemeinschaftlich zu organisieren, wäre die logische Fortsetzung. Personalisierte Präventionsangebote und Lotsenfunktionen können dabei kassenindividuell bleiben, auch die datenbasierte Nutzung über hausarztzentrierte Versorgung (HZV)- und andere Arztkooperationen kann sinnvoll von Einzelkassen vorangetrieben werden. Gerade in der aktuellen Startphase hilft aber der Wettbewerbsgedanke, Energie freizusetzen und verschiedene Ideen auszuprobieren – zumal es die Expertise von vielen brauchen wird, um gegenüber der geballten Empfehlungskraft originärer Tech-Player überhaupt eine Marktposition zu haben. In der skalierten Form steht im Zukunftsbild eher eine multizentrische Plattform (idealerweise die elektronische Patientenakte), auf der verschiedene Akteur:innen zusammenarbeiten.

 

Zusammenarbeit und Zukunftsvisionen

Insofern wäre es dringend geboten, von den einzelnen (eher versteckten) Piloten in ein systematisches Handeln und offene Kommunikation zu kommen. Dies sollten die gesetzlichen Krankenversicherungen tun:

Um die Datennutzung im Gesundheitswesen voranzubringen und sich selbst eine proaktive Rolle darin zu geben, müssen Krankenkassen jetzt handeln. Eine sinnvolle Datennutzung kann ihnen dabei helfen, sich sinnstiftend an der Seite ihrer Versicherten zu platzieren und zugleich die Gesundheit zu verbessern. 

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Fazit

Das Gesundheitsdatennutzungsgesetz (GDNG) ermöglicht Kranken- und Pflegekassen, personalisierte Hinweise basierend auf Gesundheitsdaten zu geben, um die Gesundheit der Versicherten zu schützen. Erste Pilotprojekte testen individualisierte Versorgungsangebote wie proaktive Pflegeberatung und Früherkennung von Krankheiten. Der Markt bereitet sich auf mehr Individualisierung vor, indem Datenanalytik-Abteilungen ausgebaut und digitale Kanäle genutzt werden.

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