Durch die Erhebung der Kapitalertragsteuer (KESt) kann Deutschland ausländische Steuerpflichtige ohne Veranlagung besteuern. Will eine ausländische Gesellschaft diese Quellensteuer bei Bezug von Streubesitzdividenden in bestimmten Altfällen erstattet bekommen, muss sie einige Nachweise erbringen. Diese Nachweise stoßen aber an unionsrechtliche Grenzen. Nach Auffassung des Europäischen Gerichtshofs werden dabei Gesellschaften aus anderen EU-Staaten gegenüber deutschen Unternehmen diskriminiert (EuGH-Urteil vom 16.06.2022, C-572/20, ACC Silicones Ltd.). Die Grundsätze des Urteils dürften auch auf die Nachweispflichten von ausländischen Steuerpflichtigen bei der Anti-Treaty-Shopping-Regel von § 50d Abs. 3 EStG abstrahlen.
Der Fall
Im vorliegenden Fall hatte eine in Großbritannien (damals noch EU-Mitgliedstaat) ansässige Klägerin von ihrer 6-prozentigen Beteiligungsgesellschaft in Deutschland Gewinnausschüttungen erhalten, für die deutsche KESt abgeführt wurde. 100-prozentiger Anteilseigner der Klägerin war eine börsennotierte ausländische Kapitalgesellschaft. Deutschland versagte die vollständige Erstattung der KESt. Grund: Die Klägerin konnte nicht nachweisen, dass die KESt bei ihren unmittelbaren und mittelbaren Anteilseignern nicht angerechnet oder als Betriebsausgabe abgezogen wurde. Dieser gesetzlich vorgeschriebene Nachweis war faktisch unmöglich. Dagegen richtete sich die Klägerin. Ihr Argument: Für deutsche Gesellschaften gilt eine derartige Anforderung nicht. Auch das Finanzgericht Köln hatte Zweifel an der Unionsmäßigkeit der Regelung und legte die Frage dem EuGH vor (Beschluss vom 20.05.2020, 2 K 283/16).
Klarheit für EU-Gesellschaften
Der EuGH stellte eine Ungleichbehandlung zwischen inländischen und ausländischen Gesellschaften fest. Während deutsche Unternehmen in den Genuss einer sofortigen Anrechnung und ggf. einer Erstattung des Restbetrags der KESt kämen, sei dies bei ausländischen Gesellschaften nur unter strengeren Bedingungen möglich. Diese Ungleichbehandlung sei auch nicht gerechtfertigt. Zwingende Gründe des Allgemeininteresses sah der EuGH nicht. Insbesondere könne sich Deutschland nicht darauf berufen, eine doppelte Berücksichtigung der Quellensteuer bei den ausländischen Dividendenbeziehern verhindern zu wollen. Denn auch bei den inländischen Dividendenbeziehern sei eine Doppelberücksichtigung nicht ausgeschlossen. Im Klartext: Deutschland darf ausländische Gesellschaften gegenüber inländischen Gesellschaften nicht schlechter behandeln.
Anti-Treaty-Shopping-Regel
Das Urteil dürfte auch Folgen für § 50d Abs. 3 EStG haben. Die Anti-Treaty-Shopping-Regelung verhindert insbesondere bei Dividenden die teilweise bzw. vollständige Reduktion der Quellensteuer, und zwar in solchen Fällen, in denen substanz- und funktionsschwache Gesellschaften nur zu dem Zweck zwischengeschaltet werden, um eine Begünstigung insbesondere durch DBA-rechtliche Regelungen zu erhalten, die ohne Zwischenschaltung der Gesellschaft nicht gewährt worden wäre. Diese allgemeine Missbrauchsvermutung schoss bereits in der Vergangenheit über das erforderliche Maß hinaus, urteilte der EuGH zuletzt im Jahr 2018. Der deutsche Gesetzgeber musste Mitte 2021 im Abzugsteuerentlastungsmodernisierungsgesetz nachbessern. Trotz der Neufassung befindet sich § 50d Abs. 3 EStG aber weiterhin auf der Checkliste potenziell EU-rechtswidriger Normen.
Gegenbeweis im neuen Licht
Sofern die ausländische Gesellschaft weder die persönliche noch die sachliche Entlastungsberechtigung im Rahmen der Anti-Treaty-Shopping-Regelung erfüllen kann, muss sie nachweisen, dass keiner der Hauptzwecke ihrer Einschaltung die Erlangung eines steuerlichen Vorteils ist. Die Anforderungen an diesen Gegenbeweis sind streng. Die Finanzverwaltung fordert in ihrem Fragebogen zur Prüfung der Anspruchsvoraussetzungen für die Entlastungsberechtigung, dass die ausländische Gesellschaft sämtliche steuerlichen Vorteile aufführen muss (auch nach nationalem Steuerrecht ausländischer Staaten), die durch die Zwischenschaltung der Gesellschaft in Bezug auf die Besteuerung der Kapitalerträge entstehen. Bestehen keine derartigen Vorteile, ist dies ausdrücklich zu bestätigen und zu belegen. Ein solcher Nachweis trifft wiederum nur ausländische Gesellschaften. Zudem werden deren Geschäftsführer oftmals nicht in der Lage sein, solch weitreichende Negativerklärungen abzugeben.
Autor:innen: Tim Hackemann