Doch was geschieht, wenn die anspruchsberechtigte Person nur im nachrangig zuständigen Staat einen Antrag auf Familienleistungen gestellt und diese bereits in voller Höhe bezogen hat und der vorrangig zuständige Staat für vergangene Zeiträume keine Leistungen gewährt? Mit dieser Fallgestaltung beschäftigt sich das aktuelle Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom 25.04.2024 (C-36/23, Vorabentscheidungsersuchen des Finanzgerichts Bremen vom 19.01.2023, 2 K 24/21 [3]).
Vater wohnt und arbeitet in Deutschland, Familie lebt in Polen
Der zugrunde liegende Streitfall: Ein polnischer Staatsangehöriger übt in Deutschland seit Jahren eine nichtselbständige Beschäftigung aus. Seine Ehefrau und das gemeinsame Kind leben im gemeinsamen Familienhaushalt in Polen. Der Kläger beantragte deutsches Kindergeld und gab dabei an, seine Ehefrau sei in Polen nicht erwerbstätig. Die Familienkasse gewährte Kindergeld für Oktober 2014 bis Juli 2026 (Vollendung des 18. Lebensjahres).
Ehefrau ist nach polnischem Recht sozialversicherungspflichtig beschäftigt
Im August 2019 erkundigte sich die Familienkasse in Polen nach der Erwerbstätigkeit der Ehefrau und einem eventuellen Anspruch auf polnische Familienleistungen. Daraufhin erhielt sie die Auskunft, dass die Ehefrau des Klägers seit dem 28.09.2006 sozialversicherungspflichtig beschäftigt war und keine Anträge auf Familien- und Erziehungsleistungen gestellt hat (und auch nicht stellen wollte). Die Familienkasse hob demzufolge die Festsetzung des Kindergeldes ab Oktober 2020 insoweit auf, als in Polen ein Anspruch auf Familienleistungen bestand (§ 70 Abs. 2 EStG). Außerdem bat sie die polnische Behörde um Prüfung des Anspruchs auf Familienleistungen in Polen ab Juli 2019.
Die Behörde antwortete, dass die Ehefrau seit dem 01.07.2019 keine Familienleistungen bezogen habe und keinen Antrag auf solche Leistungen stellen wolle. Die Familienkasse hob die Festsetzung des Kindergelds für Juli 2019 bis September 2020 in Höhe der polnischen gesetzlichen Familienleistungen auf und forderte das überzahlte Kindergeld vom Vater zurück. Nach erfolglosem Einspruch erhob dieser beim Finanzgericht Bremen Klage.
Finanzgericht ruft den EuGH an
Das Finanzgericht Bremen beschloss, das Verfahren auszusetzen und den EuGH anzurufen. Es legte diesem unter anderem die Frage zur Vorabentscheidung vor, ob die Behörde das deutsche Kindergeld unter Berufung auf den vorrangigen Anspruch in Polen nachträglich teilweise zurückfordern kann, selbst wenn in dem anderen Mitgliedstaat keine Familienleistung für das Kind festgesetzt und ausgezahlt wurde (und wird) und deshalb der Betrag, der dem Kläger letztlich verbleibt, hinter dem deutschen Kindergeld zurückbleibt. Dabei wies es insbesondere darauf hin, dass in Polen der Antrag auf Familienleistungen jährlich und im Voraus zustellen ist, die Leistungen dort also nicht mehr nachträglich gewährt werden können.
Familienkasse kann das überzahlte Kindergeld nicht vom Vater zurückfordern …
Zunächst führt der EuGH unter anderem aus, dass die deutsche Familienkasse als zuerst angerufener Träger die nach seinen Rechtsvorschriften vorgesehenen Leistungen zahlen muss, wenn der vorrangig zuständige polnische Träger die fraglichen Familienleistungen nicht zahlt und zum Weiterleitungsantrag keine Stellung nimmt.
Zur genannten Vorlagefrage erklärt er, dass die deutsche Familienkasse als nachrangig zuständiger Träger eines Mitgliedstaates das gezahlte Kindergeld nicht deshalb vom Kläger teilweise zurückverlangen kann, weil in Polen als vorrangig zuständigem Mitgliedstaat ein Anspruch auf solche Leistungen besteht, wenn dort eine Familienleistung weder festgesetzt noch ausgezahlt wurde. Dies widerspreche Art. 68 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004.
… aber sehr wohl vom polnischen Träger
Die Regelung gestatte es der deutschen Kindergeldkasse jedoch, von dem vorrangig zuständigen Träger die Erstattung des Betrags der Leistungen zu verlangen, der den Betrag übersteigt, den er nach der EU-Verordnung leisten musste. Der polnische Träger hat den Antrag so zu behandeln, als ob er direkt bei ihm gestellt worden wäre. Damit gilt der Tag, an dem Antrag bei der deutschen Familienkasse eingereicht wurde, auch als Tag der Einreichung beim polnischen Träger. Im Ergebnis kann die Familienkasse den überzahlten Betrag nicht vom Kindergeldempfänger, aber sehr wohl von der ausländischen Behörde zurückfordern.