13 Minuten Lesezeit 1 September 2020
Besitzerin steht am Eingang eines Feinkostladens

Metropolitan Commerce nach Corona: Nur gemeinsam ist der Handel stark

Autoren
Jörg Schäfer

EY Global Retail Supply Chain Leader, Partner EY Strategy & Transactions GmbH | Deutschland

Stratege. Lieferketten-Enthusiast. Pragmatischer Denker mit Hands-on-Mentalität. Stolzer Ehemann und Vater.

Dr. Ludwig Voll

Partner, Strategie, EY Strategy & Transactions GmbH | Deutschland

Stratege. Digital-Enthusiast. Einzelhandels-Pragmatiker. Manchmal der Hofnarr. Immer stolzer Vater.

13 Minuten Lesezeit 1 September 2020

Online-Kunden während und nach der Corona-Krise schnell und zuverlässig beliefern – das klappt nur, wenn Einzelhändler sich zusammentun.

Überblick
  • Kunden wollen beim Online-Shopping schnell und bequem beliefert werden. Die Online-Riesen schaffen das – aber wie gelingt es den anderen Händlern?.
  • Um im Wettbewerb um Online-Kunden bestehen zu können, sollten sich Händler zusammenschließen – aber welcher Partner ist hier der richtige?
  • Eine effiziente Planung der letzten Meile zum Kunden ist der erste, eine effiziente gemeinsame Lagerlogistik der zweite Schritt – doch was kommt danach?

Der Online-Anteil am Handelsumsatz wächst seit Langem mit konstant hoher Geschwindigkeit, und mit ihm entwickeln sich auch die Erwartungen der Kunden weiter. Mit steigendem Online-Anteil am persönlichen Einkaufsvolumen verlangen Kunden mehr und mehr „Convenience“ beim Online-Shopping und bekommen dies auch von den dominierenden Online-Händlern geboten. Wurde eine schnelle Lieferzeit vor einigen Jahren von vielen Händlern als Differenzierungsmerkmal noch belächelt und von Kunden in Befragungen noch nicht als wichtig eingestuft, hat sich dies um 180 Grad gedreht.

Durch das Vorpreschen einzelner Händler haben Kunden „gelernt“, dass die Standardlieferung nur noch 24 bis 48 Stunden dauern darf und nicht mehr mehrere Tage. Und auch Themen wie „same-day delivery“ und Lieferungen innerhalb fest avisierter Zeitfenster sind heute keine Zukunftsmusik mehr. Das „Mitschwimmen” vieler Händler, ohne diese Trends proaktiv mitzugestalten, hat deshalb schon zu massiven Frequenz- und Kundenverlusten geführt.
 

Kunden verlangen nichts „Neues“ vom Online-Handel – doch die globalen Online-Riesen prägen gerade Marktstandards in der Kundenwahrnehmung.

Die aktuelle Corona-Krise – und damit einhergehende Einschränkungen und Ängste – katalysieren die beschriebenen Trends durch zwei Veränderungen im Kundenverhalten.

Zum einen zeigt eine repräsentative Kundenerhebung von EY, dass Kunden den Großteil ihrer Einkäufe tätigen wollen, ohne das Haus verlassen zu müssen. Dies gilt sogar für Kategorien wie etwa Lebensmitteleinzelhandel, Drogerie und Bau- und Gartenmärkte, die vor der Corona-Krise nicht sehr online-affin waren. Dabei soll die bestellte Ware bequem und zu einem für den Kunden passenden Zeitpunkt, das heißt in der jetzigen Homeoffice-Situation so schnell wie möglich, ankommen.

Dementsprechend steigt die Bereitschaft der Kunden, bei den Händlern zu bestellen, die diese Anforderungen erfüllen können. Im Zweifel gilt dies in der aktuellen Situation auch, wenn für schnelle Lieferungen gezahlt werden muss oder Produktpreise bei schnell liefernden Händlern (leicht) erhöht sind.

Die Corona-Krise wird die Großen noch größer machen

Kunden merken gerade deshalb in der aktuellen Situation verstärkt, dass ihrem hohen („gelernten“) Anspruch nur die wenigsten gerecht werden können. Dadurch werden in der Vergangenheit latent existierende Wettbewerbsvorteile der „Online-Goliaths“ zu expliziten Differenzierungsmerkmalen.

Händler können sich der Messlatte der Großen nicht mehr entziehen, weil Kunden auch nach der Krise das erlebte Servicelevel nicht mehr missen wollen.

Die beschriebenen Entwicklungen und das veränderte Kundenverhalten konnten schon vor mehr als 15 Jahren während der ersten SARS-Epidemie in Asien beobachtet werden. Damals, wie vermutlich auch heute, haben sich die in der Krise veränderten Verhaltensmuster und gelernten Marktstandards nicht oder nur teilweise wieder auf Vor-Krisen-Niveau zurückbewegt.

Um langfristig eine Daseinsberechtigung zu haben, müssen Händler sich die Frage stellen, wie sie dieses für den Endkunden Convenience-orientierte Serviceangebot bereitstellen können. Dies erfordert jedoch, die gesamte Leistungserbringung zu betrachten, von der Last-Mile-Belieferung über das Fulfillment-Setup und das Bestandsmanagement bis hin zur Bedarfsplanung.

David wird Goliath diesmal nicht allein schlagen können

Wenn sich die Kundenansprüche in Zukunft so weiterentwickeln, ist auch klar, dass neben dem Leistungsversprechen vor allem die kritische Masse zum Garanten für eine nachhaltige Daseinsberechtigung und Profitabilität wird. Da die wenigsten Unternehmen diese kritische Masse allein generieren können, müssen Partnerschaften zukünftig Teil der Lösung sein. Die zentrale Frage wird sein, wie ein Unternehmen zum Treiber (oder auch nur Teilnehmer) eines solchen partnerschaftlichen Miteinanders – oder neudeutsch „Ökosystems“ (kategorie- und kompetenzübergreifend) – werden kann, um vor allem in Metropolregionen Volumina zu bündeln.

Lösungsansätze betreffen große Teile der Wertschöpfung und erfordern ein radikales Umdenken der Unternehmen.

Der Aufbau eines solchen Ökosystems über Kooperationen bringt natürlich auch neue Herausforderungen mit sich, die bewältigt werden müssen. Im Folgenden möchten wir Denkanstöße teilen, die Unternehmen dabei helfen können, eine strategische Perspektive für die Zeit nach der Krise zu entwickeln.

(Chapter breaker)
1

Kapitel 1

Die „letzte Meile“ — der Schlüssel zum direkten Konsumentenzugang

Mit dem richtigen Partnerunternehmen die Logistikanforderungen der letzten Meile zu meistern.

Beim Online-Einkauf wollen Konsumenten vor allem eines: eine Convenience-Lösung für ihr Einkaufserlebnis und damit vor allem eine schnelle und planbare Lieferung der Ware an die Haustür. In der Konsequenz bedeutet dies, dass Unternehmen ihre Lieferkette so aufstellen müssen, dass diese mehrmals täglich lieferfähig ist, um nicht nur kurze Lieferzeiten, sondern auch Wunschtermine für möglichst viele Kunden gewährleisten zu können. Eben diese Wunschtermine für die Lieferung bieten den Kunden ein neues Level an Convenience und Planbarkeit, bedeuten aber auch ein neues Level an Komplexität für Unternehmen in der Planung und Belieferung.

Die sogenannte letzte Meile ist die wichtigste erlebbare Händler-Kunden-Schnittstelle.

Die allermeisten Händler stehen aber vor der Herausforderung, dass sie selbst in dicht besiedelten Metropolregionen nicht ausreichend Absatzvolumen haben, um Kunden kosten- und flächendeckend diese schnelle und individuell getaktete Belieferung bieten zu können. Aktuelle händlerindividuelle Strukturen können dies heute und vermutlich auch zukünftig nicht profitabel leisten.

Die Auswahl passender Partner ist maßgeblich für den Erfolg

Die Konsequenz ist eindeutig: Unternehmen werden sich zusammenschließen müssen. Sie werden ein Ökosystem aufbauen müssen, um die Logistikanforderungen der sogenannten letzten Meile zu bewältigen und die von den Online-Riesen gesetzte Messlatte zu erreichen. Wichtig wird es für Unternehmen daher herauszufinden, mit welchem oder welchen Händler-Partnerunternehmen eine Zusammenarbeit am sinnvollsten sein könnte und welchen Mehrwert neutrale dritte Spieler/Logistikdienstleister in der Kooperation stiften können.

Für die Einschätzung, welcher Partner sich für eine Zusammenarbeit anbietet, gibt es neben dem reinen Bestellvolumen eine Reihe von kritischen Faktoren, die bei der Auswahl eine wichtige Rolle spielen: Vorab sollten sich die Partner über das Ambitionsniveau beim Servicelevel einig werden, da die Definition der Rahmenparameter entscheidend ist, um die Eignung möglicher Partner zu bewerten.

Im nächsten Schritt sollte bedacht werden, inwieweit sich die Anforderungen an die Transportvoraussetzungen der jeweiligen Produkte ergänzen und kompatibel sind (zum Beispiel Paketlogistik, 1-/2-Mann-Handling, Spezialanforderungen etwa für Dreizonen-Frische).

Ebenso ist eine komplementäre oder sich überschneidende Gebietsabdeckung der Zielgruppen (je nach individuellen Volumina und Set-ups der Partner) wichtig, um die Größe der möglichen Synergien beziehungsweise Skalengewinne bei der gemeinsamen Auslieferung zu bewerten.

Typische Bestellverläufe und Bestellzeitfenster

Das Bestellverhalten der Kunden ist ein weiterer Faktor, der eng mit der Gebietsabdeckung zusammenhängt und beachtet werden muss. Insbesondere der Vergleich typischer Bestellverläufe und Bestellzeitfenster sowie die Frage, ob Bestellspitzen und -tiefen zeitgleich oder zeitversetzt beziehungsweise gegenläufig auftreten, spielt eine Rolle bei der Effizienz- und Ertragsbewertung.

Zuletzt spielen auch die vorhandenen Lieferketten-Set-ups eines möglichen Partners eine wichtige Rolle. Aus Effizienz- und Kostengründen kann es von Vorteil sein, wenn die schon gegebenen Hub-Strukturen und das logistische Set-up inklusive IT-Systemen (vor allem Routenplanungstools) ohne große Anpassungen kompatibel sind.

Die Tourenplanung ist das Herzstück eines effizienten Serviceangebots auf der letzten Meile.

Aus der Auswahl des Partners sowie der definierten Value Proposition und dem angestrebten Servicelevel für Kunden ergeben sich die Rahmenparameter der Tourenplanung wie etwa die Häufigkeit der Distributionsläufe (beispielsweise Häufigkeit pro Tag), die maximale Lieferdauer und angestrebte Zeitfenster. Wichtig hierbei ist das Ausspielen der Lieferoptionen in Echtzeit. Nur so können Unternehmen eine Sicherheit für Lieferzeitpunkt/-fenster gewährleisten. Ein entscheidender Vorteil bei der Tourenplanung ist der Einsatz von künstlicher Intelligenz oder lernenden Algorithmen.

Durch diese Technologien kann eine Vielzahl relevanter Faktoren, wie beispielsweise Wartezeiten bei der Auslieferung durch die jeweilige Parksituation vor Ort, berücksichtigt und die Tourenplanung somit stetig angepasst und optimiert werden.

Spannend ist vor allem die Zusammenarbeit der Partnerunternehmen für die gemeinsame Planung der Touren. Hier gibt es zahlreiche Optionen, diese zu koordinieren. Je nach gewünschter Integrationstiefe könnten Unternehmen etwa bei ihren Touren Slots anbieten beziehungsweise buchen oder aber die jeweiligen Tourenstartpunkte über Loops verbinden.

Die „letzte Meile“ ist nur der Anfang

Wenn man die diskutierten Skalenherausforderungen und Geschäftsmodellimplikationen Revue passieren lässt, wird schnell klar, dass die letzte Meile nur ein Startpunkt des gemeinsamen Ökosystems sein kann – wenn auch ein wichtiger, da sie den Schlüssel für den direkten Konsumentenkontakt liefert. Um aber die nächste Effizienzstufe zu erreichen, ist es nur logisch, dass Händler über die nächste Integrationsstufe nachdenken. Am Ende muss die Komplexität der letzten Meile nicht nur den Kunden zufriedenstellen, sondern auch aus Effizienz- und Profitabilitätsgesichtspunkten für die Teilnehmer des Ökosystems nachhaltig Erfolg versprechen.

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Kapitel 2

Fulfillment — die Basis für Effizienz und Profitabilität

Die gemeinsame Nutzung von dezentralen Lager- und Logistikstrukturen dank den richtigen Partnern.

Die Kontrolle der letzten Meile entscheidet mehr und mehr über den Erfolg bei den Konsumenten – doch kaum ein deutscher Händler kann die von Online-Riesen gesetzten Lieferstandards profitabel replizieren. Doch die letzte Meile ist nur der Anfang: Im zweiten Teil legen wir den Fokus auf die Fulfillment-Implikationen dieses neuen Metropolitan-Commerce-Ansatzes.

Die Optimierung der letzten Meile ist nur der Anfang

Wollen Händler die sich entwickelnde Kundenerwartung nach unmittelbarer Belieferung erfüllen, müssen sie ihre Kunden flächendeckend und jederzeit mit Ware versorgen können. Die dafür notwendigen logistischen Voraussetzungen fehlen aber heute in der Regel. Für die effiziente Erfüllung eines solchen Lieferversprechens wäre eine landesweite Infrastruktur von Regional-Lagern oder geeigneten Logistik-Hubs die Voraussetzung – denn je nach Warengruppe und Margenstruktur verbietet sich bei genauerer Betrachtung zumindest mittelfristig die Nutzung möglicherweise vorhandener Filialstrukturen zum „in-store picking“.

Die Optimierung der letzten Meile gemeinsam mit Partnern gibt dem Händler zwar den Schlüssel zum Konsumenten in die Hand – diesen Konsumenten jedoch profitabel zu bedienen, dafür ist mehr als nur eine Fahrzeugflotte und Tourenplanung nötig. Es braucht Ware!

Egal, ob die letzte Meile durch Warenzubringer, Rundtouren oder Abholaktionen gefüttert wird, eine Lieferkette, die sich von vornherein schon mit der richtigen Ware am richtigen Standort speist, wird immer überlegen sein. Diese Mammutaufgabe ist jedoch mit hohen Investitionen in Infrastruktur und Bestand verbunden – und wird für viele einzelne Händler nicht sinnvoll abbildbar sein. Steht David im Kampf gegen die Goliaths des E-Commerce damit bereits auf verlorenem Posten?

Echte Effizienz wird durch gemeinsames Fulfillment erreicht

Der Aufbau einer flächendeckenden Hub-Struktur war bisher fast ausschließlich Teil der Strategie der globalen Online-Riesen. Unserer Argumentation folgend, kann die Lösung nur in Partnerschaften liegen, die eine gemeinsame Nutzung von dezentralen Lager- und Logistikstrukturen ermöglichen. Das Ziel ist, Kosten und Risiken zu teilen.

Die Kernfrage lautet: Wie kommt die Ware dorthin, wo man sie benötigt, um sie in einer Metropolregion effizient zu verteilen?

Die Kernfragestellung, um dies zum Erfolg zu führen, ist klar: Wo starte ich meine letzte Meile beziehungsweise wie kommt die Ware dorthin, wo man sie benötigt, um sie in einer Metropolregion effizient zu verteilen? Grundsätzlich gibt es hierfür drei Optionen:

  • Der Milchmann: Hier wird eine Rundtour gefahren – zum Beispiel das Milchmannprinzip, wie es Picnic derzeit praktiziert. Sprich, man fährt in klar definierten Intervallen die Hubs der Partner ab, sammelt die Ware ein und verteilt diese am besten im selben Lauf wieder.
  • Der Shuttle: Hier wird die Ware von den individuellen Verteilzentren oder Lagern/Filialen der Partner zu einem gemeinsamen Abfahrtspunkt gefahren, von wo die Endkunden-Tour startet.
  • Das gemeinsame Fulfillment: Hier wird auf eine dezidierte Infrastruktur gesetzt, die das Endkonsumentenlieferversprechen und die Sortimentsanforderungen der Partner bedienen kann. Hierzu können bestehende Strukturen genutzt (oder umgenutzt) oder neue geschaffen werden.

Auch wenn theoretisch alle drei Optionen denkbar sind – und in Anlaufphasen eventuell auch sinnvoll sein können –, bietet nur die dritte das Potenzial, das Leistungsversprechen der Partner maximal effizient abzubilden. Gleichzeitig erfordert dieser Ansatz jedoch auch ein hohes Maß an Vertrauen (oder sehr genauen Regeln) zwischen den Partnern.

Gemeinsam Kunden zufriedenstellen: Fulfillment-Partnerschaften erfordern viel Vertrauen, gute Planung und radikales Umdenken.

Ein großer Schritt in die Zukunft gelingt nur auf neuen Pfaden

Eine große Herausforderung bei solchen Partnerschaften ist der Mangel an Erfahrungswerten. Nur die wenigsten Händler wissen, welche strategischen Fragestellungen bei einer so engen Verzahnung der eigenen Wertschöpfung mit Dritten zu klären sind. Aus unserer Erfahrung gibt es eine Reihe an Themen, über die sich die Kollaborationspartner klar werden müssen:

  • Zielstellung der Zusammenarbeit: Nur wenn Klarheit über die morgen notwendige eigene Leistungsfähigkeit besteht, können die richtigen Partner gefunden und die Zusammenarbeit weiter ausgestaltet werden.
  • Auswahlkriterien für die richtigen Partner auf der Basis von Profitabilität und Effizienz einer potenziellen Zusammenarbeit: Dabei sollte aber insbesondere auch auf künftige Erfolgshebel geachtet werden, denn kleine Einsparungen können möglicherweise durch Verluste an Flexibilität oder Differenzierung teuer bezahlt sein.
  • Technische Integration: Die hohen Anforderungen an reibungslose Prozesse und Effizienz in der Leistungserbringung erfordern State-of-the-Art-Systeme und -Schnittstellen – welches Bestandssystem oder ob überhaupt ein bestehendes dies leisten kann, muss von Anfang an bedacht werden.
  • Operative Exzellenz: Es muss Klarheit über eine potenzielle (Um-)Nutzung / Erweiterung / Auflösung eingebrachter Infrastrukturen beziehungsweise hinsichtlich eines notwendigen Neuaufbaus bestehen, um finanzielle Auswirkungen beurteilen zu können.

Metropolitan Commerce ist weit mehr als eine Dezentralisierung des Fulfillments.

  • Allokation der Vorteile der Zusammenarbeit: Je nach Anteil der Einbringung (Kapital, Infrastruktur, Technologie, Fähigkeiten etc.) ist zu klären, wie potenzielle Erträge und möglicherweise begrenzte Kapazitäten auf die Partner verteilt werden.
  • Fristigkeit der Zusammenarbeit: Befristet vs. potenziell langfristig, das definiert den Horizont wie auch die Integrations- und Investitionstiefe, die sich abbilden lässt.
  • Umgang mit Konflikten: Aufgrund der Tiefe und Komplexität der Zusammenarbeit in absoluten Schlüsselbereichen der Händlerwertschöpfung (beispielsweise Allokation in Phasen der Unter- oder Überauslastung) müssen Schlichtungs- und Governance-Strukturen robust aufgestellt werden.

Diese tiefgreifenden und investitionsintensiven Veränderungen des Logistik-Set-ups sollten in Anbetracht der Wettbewerbssituation fester Bestandteil der langfristigen Strategie interessierter Händler sein. Doch auch kurzfristig können Allianzen helfen, Erfahrungswerte zu sammeln und sich den von Online-Riesen gesetzten Maßstäben und in der Krise expliziter gewordenen Kundenerwartungen anzunähern. Partnerschaften wie diese erfordern ein radikales Umdenken der Unternehmen, werden jedoch langfristig über den Ausgang des Kampfes von David gegen Goliath entscheiden.

Der nächste Schritt

Der Weg zu einer effizienten Aufstellung des eigenen Geschäfts mit Blick auf Metropolitan Commerce hört nicht mit einem neuen dezentralen Fulfillment in den Metropolregionen auf. Sobald der erste und zweite Schritt gegangen wurden, drängen sich Fragen zu einer gemeinsamen Nachfrage- und Bestandsoptimierung sowie der dafür möglicherweise notwendigen integrierten Planung auf.

(Chapter breaker)
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Kapitel 3

Bestandsführung und Bedarfsplanung — für alle, die mehr wollen

Wenn Partner nicht nur Fulfillment und letzte Meile teilen, sondern auch große Teile des Bestands.

Nur mittels einer anbieterübergreifenden Kollaboration werden viele Händler zukünftige Lieferversprechen in Metropolregionen profitabel erfüllen können. So sehr es ein logischer und effektiver Anknüpfungspunkt ist, die letzte Meile durch ein gemeinsames Fulfillment zu ergänzen, so konsequent – aber auch gewagt – ist der nächste Schritt: die Integration von Beständen und Instrumenten zur Nachfrageplanung.

Geteilte Risiken sind doppelte Chancen

Die Grundidee unseres Metropolitan-Commerce-Ansatzes ist klar: Einzelne Händler können nur dann mit den „Online-Pacemakern“ mithalten, wenn sie sich zusammentun und den Kunden ein vergleichbares Serviceversprechen bieten. Dies erfordert ein großes gemeinsames Commitment in der Liefer- und Fulfillment-Infrastruktur.

Doch ein viel tiefgreifenderes Commitment entsteht, wenn aus dem physisch gemeinsam gelagerten Warenbestand auch ein faktisch gemeinsamer logischer und zugriffsoffener Bestand wird. Dieser Schritt ist ohne Frage ein massiver Eingriff in die individuelle Händler-DNA und -Kernkompetenz – er bietet jedoch auch enorme Effizienzhebel. Die Summierung von dezentralen Einzelbeständen der Kooperationspartner, die jeweils eigene Minimumgrenzen einhalten müssen, um Versorgungssicherheit zu gewährleisten, führt unweigerlich zu höheren Gesamtbeständen.

Wenn aus dem gemeinsam gelagerten Warenbestand ein gemeinsamer, zugriffsoffener Bestand wird, entsteht ein tiefgreifendes Commitment zwischen den Partnern.

Doch damit solch ein Modell nachhaltig funktionieren kann, muss nicht nur so einiges operativ entwickelt und vorgedacht werden, sondern es muss auch genau überlegt werden, welche Effekte mit welchen Partnerprofilen in einem gemeinsamen Ökosystem wie realisiert werden. Dann gilt es, einen klaren Fahrplan in die gemeinsame Zukunft des Metropolitan Commerce aufzustellen.

Gemeinsame Bestände sind bessere Bestände

Das Endergebnis ist klar: Partner würden sich demnach nicht nur das Fulfillment und die letzte Meile teilen, sondern auch mehr oder weniger große Teile des Bestands. Dadurch könnten die Risiko- und Sicherheitsbestände in den einzelnen Lagern und Hubs gemeinsam reduziert werden, wodurch jeder Partner Einkaufsvolumina einspart und die Kapitalbindung reduziert. Weiterhin könnten Angebots- und Nachfrageschwankungen gemeinsam ausgeglichen werden. Dies kann insbesondere in Zeiten hoher Volatilität wie in der aktuellen Corona-Krise von großem Wert sein.

Allerdings erfordert eine solche Partnerschaft ein hohes Maß an Transparenz und Vertrauen zwischen den Akteuren, was so bis heute noch nicht existiert und erst aufgebaut werden muss. Dazu zählt vor allem das Aufstellen und Einhalten klarer Regeln, die eine faire Verteilung von Chancen und Risiken oder auch die Vermeidung von Fehlverhalten sicherstellen.

Schwierig wird es jedoch, wenn Nachfragespitzen bei Einzelprodukten auftreten. Wer kann hier vom möglicherweise zu geringen Präsenzbestand profitieren? Wessen Kundennachfrage läuft ins Leere? Verstärkt wird dieser Effekt noch, wenn diese Nachfragespitzen zum Beispiel durch werbliche Maßnahmen eines einzelnen Partners induziert sind, diese aber nicht durch eine frühzeitige Bestandserhöhung flankiert wurden.

Die richtigen Fragen in Zeiten der Krise

Ziel der kurzfristigen Maßnahmen ist es, schnell die richtige Alarm- und Aktionskette von Schritt bis 4 zu initiieren. Damit das Unternehmen weiter handlungsfähig bleibt und seine Geschäftsaktivitäten aufrechterhalten kann, ist es entscheidend, die Schmerzpunkte in der Supply Chain schnell zu identifizieren und zu isolieren und aktiv Gegenmaßnahmen einzuleiten und zu steuern. In der COVID-19-Krise sehen wir täglich, dass Unternehmen schon in ihrer individuellen Situation überfordert sind. Als wäre es noch nicht genug, verändert sich während der Pandemie die Gefahrenlage jedoch fast wöchentlich, teils täglich – entsprechend sind die Maßnahmen regelmäßig zu evaluieren und anzupassen.

Schritte zum Neuanfang und ein alter Bekannter

Gemeinsame Planung ist das Tüpfelchen auf dem i

Diese Überlegung zeigt deutlich, dass eine reine Nachschublogik im kollaborativen Fulfillment aus einem gemeinsamen Bestand zu kurz greift. Eine gemeinsame Planung und darauf aufbauende Bestandssteuerung sind notwendig. In Zeiten immer schneller werdender Aktions- und Reaktionszyklen insbesondere im Online-Kanal ist dies eine Herausforderung. Doch wenn Bestandsreservierungen, Quotas und andere Methoden die Synergien des gemeinsamen Bestandes nicht wieder zunichtemachen sollen, kommt man ohne in der Planung verankerte Allokationsprinzipien nicht weiter.

Das Schwesterchen dieser gemeinsamen Planung ist dann die Pönale. Wie wird das Risiko einer Planverfehlung nach oben mit daraus resultierenden Verfügbarkeitslücken für die Partner oder nach unten mit Abschriftenbedarf auf die Partner verteilt? Welche Anreize gibt es für faires Verhalten? Angesichts dieser Komplexitäten liegt es wohl gerade in der Anfangsphase nahe, gemeinsame Bestände lediglich für vergleichsweise langsam drehende Artikel des täglichen Bedarfs vorzusehen – vom wirklichen Long Tail des Angebots sei an dieser Stelle nicht gesprochen, denn diese Bestandsvolumina dezentral zu multiplizieren wird auch in gemeinsamen Strukturen meist weder finanziell noch logistisch sinnvoll abbildbar sein.

Und hier bewegen wir uns noch in der Welt der operativen Herausforderungen. Die weiteren kaufmännischen und steuerlichen Fragestellungen werden aber an dieser Stelle kurz ausgeklammert. Hier bedarf es eines robusten Transaktionsmodells, das alle Leistungsbeziehungen und Verantwortlichkeiten klar regelt.

Vom Händler zum Nachfrageentwickler

Doch es gilt, nicht nur besorgt auf die Herausforderungen zu blicken, sondern auch die weiteren Potenziale dieses Modells zu erkennen: Ist eine solch komplexe Bestandstransferlogik zwischen den Händlern wirklich zielführend? Ließen sich auch gemeinsame Einkaufsvorteile generieren? Gilt es nicht vielmehr, auch die Markenhersteller in diese Metropolitan-Commerce-Ökosysteme einzubinden?

Die Partner sollten nicht nur besorgt auf die Herausforderungen blicken, die sich durch die Partnerschaft ergeben, sondern auch die weiteren Potenziale dieses Modells erkennen.

Eine Übertragung klassischer Depotmodelle ließe sich eventuell auf solche Multi-Nutzer-Szenarien übertragen. So würde das Pfannenset oder der Fernseher im gemeinsam bewirtschafteten Metropollager so lange dem Markenpartner gehören, bis eine Kundentransaktion erfolgt. Erst dann erfolgt ein logischer Bestandsübergang zum Händler, der die Kundennachfrage realisiert hat.

Dies bedeutet aber massive Veränderungen für die Geschäftsmodelle (und auch für das Selbstverständnis) von Händlern und Herstellern. Eine spannende Transformation für die Handels- und Konsumgüterindustrie steht bevor, wenn sich Unternehmen nicht leichtfertig dem zunehmenden Einfluss einiger weniger Plattformen ergeben wollen.

Ob David zusammen mit seinen neuen Freunden dem großen Goliath auf Augenhöhe begegnen kann, wird sich zeigen.

Fazit

Online-Shopping ist angesagt: Gerade während der Corona-Pandemie kaufen immer mehr Kunden im Internet ein. Die Online-Riesen haben mit umfangreichen Produktpaletten und schnellen, planbaren Lieferungen Maßstäbe gesetzt. Um in diesem Wettbewerb mithalten zu können, müssen sich Händler zusammenschließen. Kunden gemeinsam zu beliefern, ist aber nur der erste Schritt: Es gilt, gemeinsame Bestände aufzubauen und den Zugriff auf die Waren zu regeln, im nächsten Schritt vielleicht sogar gemeinsam den Einkauf zu planen. Um wirklich effizient zu arbeiten, müssen die Partner jedoch sorgfältig ausgewählt werden.

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Autoren
Jörg Schäfer

EY Global Retail Supply Chain Leader, Partner EY Strategy & Transactions GmbH | Deutschland

Stratege. Lieferketten-Enthusiast. Pragmatischer Denker mit Hands-on-Mentalität. Stolzer Ehemann und Vater.

Dr. Ludwig Voll

Partner, Strategie, EY Strategy & Transactions GmbH | Deutschland

Stratege. Digital-Enthusiast. Einzelhandels-Pragmatiker. Manchmal der Hofnarr. Immer stolzer Vater.