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Chancenkarte: Top oder Flop – eine erste Bestandsaufnahme

Die Chancenkarte nach § 20a Aufenthaltsgesetz wurde zum 01.06.2024 mit dem Ziel eingeführt, die Fachkräfteeinwanderung zu erleichtern. Sie basiert auf einem Punktesystem und erlaubt Drittstaatsangehörigen, zur Arbeitsplatzsuche nach Deutschland einzureisen. Wer eine Chancenkarte besitzt, kann entweder eine Nebenbeschäftigung von durchschnittlich 20 Stunden in der Woche aufnehmen oder zwei Wochen zur Probe (in Vollzeit) arbeiten. Sie gilt für ein Jahr und kann unter engen Voraussetzungen um weitere zwei Jahre verlängert werden. Nachdem inzwischen mehr als ein Jahr seit der Einführung der Chancenkarte vergangen ist, liegen genügend Erfahrungen für eine erste Bestandsaufnahme vor.

Punktesystem

Zur Erteilung der Chancenkarte sind mindestens sechs Punkte nötig. Hier sind einige Beispiele für die Hauptkriterien:

Kriterium

Punkte

Anerkannter Berufs- oder Hochschulabschluss im Ausland

Grundvoraussetzung, keine Punkte

Berufserfahrung (2 Jahre in den letzten 5 Jahren/mehr als 5 Jahre)

2-3

Sprachkenntnisse (Deutsch/Englisch)

1-2

Außerdem müssen ausreichende finanzielle Eigenmittel für den Lebensunterhalt in Deutschland zur Verfügung stehen.

Vorteile …

… für Arbeitsuchende

Arbeitsuchende können ohne konkretes Jobangebot einreisen, um vor Ort eine Stelle zu suchen. Sie haben die Möglichkeit, potenzielle Arbeitgeber persönlich kennenzulernen und von sich zu überzeugen sowie ein eigenes Netzwerk aufzubauen und so ihre Erfolgschancen zu erhöhen. Im Rahmen einer Probearbeit, eines Praktikums oder einer Teilzeitbeschäftigung können sie sich ein realistisches Bild vom jeweiligen Aufgabenbereich machen.

Wer parallel zur Jobsuche eine Nebenbeschäftigung ausübt, kann den Lebensunterhalt für längere Zeit bestreiten, als wenn er nur auf eigene finanzielle Reserven zurückgreifen kann.

… für Arbeitgeber

Arbeitgeber haben die Möglichkeit, die Bewerberinnen und Bewerber im Arbeitsalltag zu testen, bevor sie ihnen eine Stelle anbieten. Wer zumindest vorübergehend mit einer Teilzeitkraft auskommt bzw. bereit ist, eine Vollzeitstelle mit zwei Teilzeitkräften zu besetzen, kann die jeweilige Lücke für bis zu drei Jahre allein mithilfe der Chancenkarte füllen. Wenn beispielsweise die Voraussetzungen für die Erteilung einer Blauen Karte EU vorliegen, haben Arbeitgeber zudem die Option, das Arbeitsverhältnis entsprechend zu verlängern.

Die Chancenkarte hat allerdings auch verschiedene Schwachpunkte, die beachtet werden sollten:

Schwachpunkte

Die folgenden Schwachpunkte wirken sich sowohl für Arbeitsuchende als auch für Arbeitgeber nachteilig aus. Sie betreffen drei Kernbereiche: das Punktesystem, die bürokratischen Hürden und die beschränkten Arbeitsmöglichkeiten.

Punktesystem

Das Punktesystem ist komplex und teilweise unscharf. Kriterien wie etwa die Berufserfahrung sind nicht immer leicht zu bewerten. Daher kann die Punktevergabe auf Bewerber (und Berater) undurchsichtig wirken. Dabei erreicht manche qualifizierte Person nicht genügend Punkte, obwohl sie realistische Chancen auf dem Arbeitsmarkt hätte. Gleichzeitig gibt es Fälle, in denen zwar genügend Punkte vergeben werden können, aber die Qualifikation beispielsweise nicht für die Erteilung einer Blauen Karte EU ausreicht. So sind die Voraussetzungen für einen akademischen Titel im Ausland häufig sehr unterschiedlich zu denen in Deutschland. In beiden genannten Fällen führt die Chancenkarte nicht zu ihrem erklärten Ziel, den Fachkräftemangel zu bekämpfen.

Bürokratische Hürden

Der Antrag ist über die deutsche Auslandsvertretung zu stellen. Dort sind allerdings teils lange Wartezeiten (und hohe Anforderungen) zu erwarten. Als noch schwieriger hat sich erwiesen, dass für den „finalen“ Aufenthaltstitel für Erwerbszwecke ein Verlängerungsantrag bei der zuständigen Ausländerbehörde eingereicht werden muss. Einige Ausländerbehörden bearbeiten einen Verlängerungsantrag nur, wenn der bestehende Aufenthaltstitel (hier: die Chancenkarte) innerhalb von acht Wochen oder früher abläuft. Dabei ist grundsätzlich nicht vorgesehen, dass zwischen „normalen“ Verlängerungen und den Fällen unterschieden wird, in denen die Verlängerung beantragt wird, um den finalen Aufenthaltstitel zu erhalten. Insbesondere werden Letztere nicht als dringlich eingestuft, obwohl sie es oft oder eigentlich immer sind, da die Einstellung des Bewerbers mit der Chancenkarte üblicherweise zeitnah erfolgen soll.

Die online zur Verfügung gestellten Eingabemasken enthalten zudem kein Feld, in dem die Information hinterlegt werden könnte, dass der Fall zeitnah bearbeitet werden muss und warum. Ein Faktor ist demnach, dass bei der Digitalisierung nicht berücksichtigt wurde, dass hier zwei unterschiedliche Sachverhalte vorliegen, für die entsprechend unterschiedliche Prozesse erforderlich sind. Auf schriftliche Anfragen gibt die Auslandsvertretung häufig keine Antwort und die telefonische Erreichbarkeit ist ebenfalls nicht gegeben. Der Personalmangel in den Auslandsvertretungen dürfte hier eine entscheidende Rolle spielen.

Dieser „Bug“ im Verfahrensablauf wird in Verbindung mit dem dritten wesentlichen Schwachpunkt für viele Betroffene zum Showstopper:

Beschränkte Arbeitsmöglichkeiten

Die Arbeitszeit ist im Rahmen einer dauerhaften Anstellung unter der Chancenkarte auf 20 Stunden pro Woche begrenzt. In Kombination mit den Schwierigkeiten bei der Umstellung auf einen anderen Aufenthaltstitel bedeutet das, dass die Bewerbenden durchschnittlich nur 20 Stunden in der Woche arbeiten dürfen, bis etwa acht Wochen vor dem Ablauf der Chancenkarte der letztlich angestrebte Aufenthaltstitel beantragt werden kann. Das Verfahren zur Erteilung des Aufenthaltstitels für Erwerbszwecke selbst dauert dann ggf. ebenfalls noch einmal mehrere Wochen. Das Resultat: Das Unternehmen hat weiterhin einen Personalmangel, den es entsprechend lang überbrücken muss, und die Bewerbenden erhalten deutlich weniger Gehalt, als es bei einer bedarfsgerechten Lösung möglich wäre.

Erfolgsbilanz

Wie die Antwort der Bundesregierung vom 27.06.2025 auf eine Kleine Anfrage zeigt, ist das Interesse an der Chancenkarte sehr hoch. Vom 01.01.2024 bis zum 15.06.2025 wurden insgesamt 11.479 Visa/Chancenkarten erteilt, davon an Antragsteller aus

  • Indien 3.721,
  • China 807,
  • der Türkei 654,
  • dem United Kingdom 334 und
  • den USA 325.

Zudem befinden sich die allgemeine Informationsseite zur Chancenkarte und eine Seite mit einem Self-Check-Tool im Jahr 2025 bisher unter den fünf meistbesuchten Seiten des Portals „Make it in Germany“.

Allerdings konnte die Bundesregierung nicht die Frage beantworten, wie viele Personen, denen eine Chancenkarte bewilligt wurde, eine unbefristete Beschäftigung erhalten haben. Dabei wäre eine aussagefähige Erfolgskontrolle äußerst wünschenswert, um Schwächen zu identifizieren und möglichst zu beseitigen.

Die Regelung zur Chancenkarte wird drei Jahre nach Inkrafttreten durch das Bundesministerium des Innern im Einvernehmen mit dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales evaluiert werden. Es bleibt zu hoffen, dass bis dahin aussagekräftige Daten vorliegen oder dass zumindest Rückmeldungen von Unternehmen und Beratern eingeholt und berücksichtigt werden.

Fazit und Anregungen

Zumindest aus Arbeitgebersicht wiegen unseres Erachtens die Nachteile der Chancenkarte schwerer als die Vorteile, denn Unternehmen können ihre Wunschkandidatinnen und -kandidaten nicht sofort für mehr als 20 Stunden pro Woche einsetzen. In bestimmten Fällen kann es sinnvoll sein, wenn Bewerbende in ihr Heimatland zurückkehren und von dort aus die Blaue Karte EU beantragen. Ein möglicher Nachteil dieser Variante ist, dass die Auslandsvertretung verlangen kann, dass die betreffende Person sechs Monate im Ausland lebt, bevor sie einen anderen Titel (als die Chancenkarte) beantragt.

Die Chancenkarte hat dennoch Potenzial, denn die Schwachpunkte könnten beseitigt werden, indem

  • die Bearbeitung der Anträge auf Erteilung einer Chancenkarte zentralisiert wird,
  • Verlängerungsanträge, die für geänderte Aufenthaltstitel gestellt werden, von vornherein (automatisiert) identifiziert und als dringlich eingestuft werden,
  • die Behörde zeitnah die Anträge auf geänderte Aufenthaltstitel prüft und darüber entscheidet und
  • das Punktesystem der Chancenkarte an die Anforderungen für mögliche Folgetitel angepasst wird.

Handlungsempfehlung für Betroffene

Arbeitgeber sollten sorgfältig abwägen, wie schnell die Fachkraft benötigt wird und ob eine Beschäftigung in Teilzeit mit höchstens 50 Prozent zumindest kurz- bis mittelfristig ausreicht. Je nach Konstellation ist dann von der Chancenkarte abzuraten und es sollte eher auf die Blaue Karte EU gesetzt werden. Hinweis: Der Arbeitsvertrag kann die Bedingung enthalten, dass der erforderliche Aufenthaltstitel genehmigt wird.

Ausländische Fachkräfte sollten gründlich recherchieren, um realistisch einschätzen zu können, wie lange ihre finanziellen Ressourcen für einen Aufenthalt in Deutschland reichen. Außerdem sollten sie abwägen, ob die Chancenkarte tatsächlich erfolgversprechender ist als die Stellensuche aus dem Ausland in Verbindung mit einem Antrag auf Erteilung der Blauen Karte EU.

Autorinnen: Ursula Beste, Martina Unrau