Steuerschuld bei unzutreffendem Umsatzsteuerausweis gegenüber nicht zum Vorsteuerabzug berechtigten Endverbrauchern

EuGH: Keine Steuerschuld nach Art. 203 MwStSystRL bei fehlender Gefährdung des Steueraufkommens – Schlussanträge im Verfahren C-794/23 (Finanzamt Österreich II)

Ein unrichtiger Umsatzsteuerausweis in Rechnungen an nicht zum Vorsteuerabzug berechtigte Endverbraucher führt nicht zur Steuerschuld nach Art. 203 MwStSystRL – auch dann nicht, wenn daneben einzelne Rechnungen an Unternehmer ergangen sind. Der EuGH soll nun klären, ob und wie in solchen Mischfällen differenziert werden darf.

Hintergrund

Art. 203 der MwStSystRL verpflichtet jeden umsatzsteuerlichen Unternehmer, der in einer Rechnung Umsatzsteuer ausweist, zur Zahlung dieser Steuer. Dies gilt unabhängig davon, ob tatsächlich eine Steuerpflicht besteht oder nicht. Diese Regelung soll die Gefährdung des Steueraufkommens verhindern. Eine Gefährdung kann dann entstehen, wenn durch einen unberechtigten Steuerausweis ein Vorsteuerabzug beim Leistungsempfänger ermöglicht wird.

Bereits in der Entscheidung C‑378/21 vom 08.12.2022 stellte der EuGH klar, dass keine Steuerschuld entsteht, wenn fehlerhafte Rechnungen ausschließlich gegenüber nicht vorsteuerabzugsberechtigten Endverbrauchern erteilt werden – da in diesem Fall keine Gefährdung des Steueraufkommens vorliegt. Das aktuelle EuGH-Verfahren C‑794/23 greift diese Rechtsfrage erneut auf und weitet sie aus: Was gilt, wenn Rechnungen neben den nicht vorsteuerabzugsberechtigten Endverbrauchern auch an Unternehmer ergangen sind?

Sachverhalt

Die P GmbH betreibt einen Indoor-Spielplatz in Österreich. Die Eintrittsentgelte wurden zunächst mit dem Regelsteuersatz versteuert. Später stellte sich heraus, dass der ermäßigte Steuersatz korrekt gewesen wäre. Die Leistungen wurden nahezu ausschließlich an Privatpersonen erbracht. Die Rechnungsstellung erfolgte über Kleinbetragsrechnungen ohne Angabe des Leistungsempfängers.

Nach Abgabe einer berichtigten Umsatzsteuererklärung erkannte das Finanzamt diese Korrektur nicht an und forderte weiterhin die auf den Rechnungen ausgewiesene Umsatzsteuer. Die P GmbH war hier anderer Auffassung und wendete sich an das österreichische Bundesfinanzgericht. Das Gericht vertrat den Standpunkt, dass die Rechnungen je nach Leistungsempfänger aufzuteilen sind. Es schätzte dabei, dass 0,5 % der Umsätze an zum Vorsteuerabzug berechtigte Unternehmer erbracht wurden. Nur für diese Umsätze soll die P GmbH die höhere Umsatzsteuer nach Art. 203 MwStSystRL entrichten, da hier die Gefährdung des Steueraufkommens realisiert wird. Es erließ daraufhin ein reduziertes Steuerfestsetzungsverfahren. Diese Einschätzung wurde vom Finanzamt jedoch angefochten.

Schlussfolgerungen der Generalanwältin beim EuGH

In ihren Schlussanträgen vom 19.12.2024 kommt die Generalanwältin zu folgenden wesentlichen Ergebnissen:

  1. Keine generelle Steuerschuld bei Endverbrauchern: Für die Anwendung des Art. 203 MwStSystRL ist auf den Leistungsempfänger abzustellen. Bei Rechnungen an Nichtsteuerpflichtige wird das Steueraufkommen nicht gefährdet (kein Vorsteuerabzug beim Leistungsempfänger). Die zu hohe Steuer wird daher insoweit bei diesen Umsätzen nicht geschuldet. Sofern fehlerhafte Rechnungen an andere Steuerpflichtige (irrelevant, ob diese materiell ganz, teilweise oder gar nicht zum Vorsteuerabzug berechtigt sind) ausgestellt werden, besteht das Risiko der Steuergefährdung. In diesen Fällen wird die zu hohe Steuer gem. Art. 203 MwStSystRL geschuldet.
  2. Keine Infektionswirkung: Die fehlerhafte Ausstellung von Rechnungen an Unternehmer führt jedoch nicht dazu, dass auch bei allen anderen fehlerhaften Rechnungen, die an Nichtsteuerpflichtige adressiert werden, die Steuer geschuldet wird.
  3. Schätzungsbefugnis der Finanzverwaltung: Jede Rechnung ist isoliert zu prüfen.   Wenn unklar ist, wer Rechnungsempfänger war, darf die Finanzverwaltung eine verhältnismäßige Schätzung vornehmen. Dabei sind verschiedene Kriterien heranzuziehen (Art der Leistung, typischer Kundenkreis, Mitwirkung des Rechnungsausstellers bei der Aufklärung, etc.).

Rechtliche Einordnung und Bewertung der Schlussanträge

Die Generalanwältin folgt mit ihren Schlussanträgen dem vom EuGH bereits in C‑378/21 eingeschlagenen Weg, weitet diesen zudem auf Mischfälle aus. Im Zentrum steht die Frage, ob Art. 203 MwStSystRL nur auf einzelne gefährdende Rechnungen anzuwenden ist – oder ob die Existenz weniger unternehmerischer Rechnungsempfänger alle Rechnungen „infiziert“.

Sie stärkt damit den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und stellt klar: Die Existenz weniger unklarer Rechnungen führt nicht automatisch zur Steuerschuld für alle Umsätze. Besonders bei Leistungen wie dem Betrieb eines Indoor-Spielplatzes, die naturgemäß fast ausschließlich an Privatpersonen erbracht werden, spricht viel gegen eine pauschale Steuerpflicht.

Konsequenzen für die Praxis

Das Verfahren ist für die deutsche Umsatzsteuerpraxis von erheblicher Bedeutung, insbesondere im Hinblick auf die Anwendung von § 14c Abs. 1 UStG. Das BMF-Schreiben vom 27.02.2024 hatte in Reaktion auf C‑378/21 bereits folgende Grundsätze aufgestellt:

  • Keine Steuerschuld bei unberechtigtem Steuerausweis gegenüber Endverbrauchern
  • Endverbraucher sind auch Unternehmer, die Leistungen für private Zwecke beziehen
  • Eine Schätzung des Anteils der betroffenen Umsätze ist nicht zulässig, wenn keine eindeutige Zuordnung möglich ist

Kommt der EuGH den Schlussanträgen nach, wird sich die Finanzverwaltung mit ihrer restriktiven Haltung zur Schätzung neu positionieren müssen. Für die Praxis bedeutet das:

  •  Unternehmer müssen darlegen können, dass sie überwiegend an Endverbraucher liefern.
  • Die Verwaltung darf bei Unsicherheiten nicht pauschal alle Umsätze als steuerpflichtig behandeln.
  •  Bei typischerweise „privaten Leistungen“ kann schon der Leistungsgegenstand ein starker Indikator gegen die Steuerpflicht sein.

Fazit

Die Schlussanträge der Generalanwältin stärken den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit bei Art. 203 MwStSystRL. Eine pauschale Steuerschuld bei formalen Rechnungsfehlern ist unionsrechtswidrig. Für die Praxis bedeutet dies: Unternehmer, die an Endverbraucher leisten, müssen zwar dokumentieren und im Zweifel darlegen, können aber erwarten, dass die Finanzverwaltung nicht pauschal die gesamte Besteuerungsgrundlage infrage stellt. Ein EuGH-Urteil könnte die restriktive Auslegung des § 14c UStG beenden und mehr Rechtssicherheit bringen.

Auch für das deutsche Umsatzsteuerrecht ist die Entscheidung relevant: Laut BMF-Schreiben vom 27.02.2024 entsteht bei falschem Steuerausweis gegenüber Endverbrauchern keine Steuerschuld, sofern das Steueraufkommen nicht gefährdet ist. In Mischfällen mit unklarem Empfängerkreis ist jedoch besondere Sorgfalt und Einzelfallprüfung erforderlich.

Autor:innen: StB Trang Vu , StB Lukas Büttgen