Die 2021 neu gefasste Anti-Treaty-Shopping-Norm des § 50d Abs. 3 EStG ist grundsätzlich in allen offenen Fällen anzuwenden, es sei denn die einschlägige alte Fassung steht dem Entlastungsanspruch nicht entgegen. In einem aktuellen Urteil (Zinsfall) äußert sich der BFH zu der sich daraus ergebenden Günstigerprüfung.
Im konkreten Fall (Streitjahr 2010 und 2011) erzielte eine in Zypern ansässige Kapitalgesellschaft Zinserträge aus Wandelanleihen einer inländischen AG, die in Form von Teilschuldverschreibungen ausgegeben worden sind (§ 49 Abs. 1 Nr. 5 Buchst. a Halbsatz 2 EStG). Die zypriotische Gesellschaft begehrte Erstattung der auf die Zinserträge einbehaltenen Kapitalertragsteuer nach § 50d Abs. 1 EStG a.F. Die Vorinstanz bejahte die Erstattung der einbehaltenen Kapitalertragsteuer. Dem stehe § 50d Abs. 3 EStG (2007) wegen geltungserhaltender Auslegung nicht entgegen.
Der BFH hat der Vorinstanz mit Urteil vom 10.11.2021 (I R 27/19, NV) widersprochen. Für den BFH bestehen bereits ernstliche Zweifel, ob die vom FG für die einschränkende Auslegung des § 50d Abs. 3 EStG a.F. zugrundeliegende Rechtsprechung des EuGH ohne Weiteres auf den Streitfall übertragbar ist. Dem EuGH lagen in seinen jeweiligen Entscheidungen ausschließlich Fälle von Dividendenbezügen zugrunde. Die entschiedenen Konstellationen waren zudem dadurch gekennzeichnet, dass Gebietsfremden eine Erstattung der Kapitalertragsteuer versagt war, während bei Gebietsansässigen die Einnahmen als Dividenden den Vorschriften des § 43b EStG a.F. bzw. § 36 Abs. 2 Nr. 1 EStG a.F. i.V.m. § 8 Abs. 1 und § 8b KStG unterlagen. Somit konnten die Bezüge im reinen Inlandsfall weitestgehend auf die festgesetzte Körperschaftsteuer angerechnet werden und waren daher im Ergebnis nahezu steuerfrei. Die sich daraus ergebende unionsrechtswidrige Ungleichbehandlung führte zwar nicht zur Nichtanwendbarkeit der Norm, mündete aber in einer geltungserhaltenden Auslegung des § 50d Abs. 3 EStG a.F. im Lichte der EU-Grundfreiheiten. Ob nun die bei einem Ausschluss der Entlastung nach § 50d Abs. 3 EStG a.F. eintretende abgeltende Wirkung der Quellensteuerung auch aus anderen Gründen zu einer unionsrechtswidrigen Ungleichbehandlung führt (z.B. aufgrund unterschiedlich höher Steuersätze) konnte der BFH in konkreten Fall offenlassen.
Auch die Annahme des FG, der auf Grundlage der EuGH-Rechtsprechung zu eröffnende Gegenbeweis sei gelungen, beruhe für den BFH auf einer unzureichend ermittelten Tatsachengrundlage. Ein pauschaler Hinweis auf die wirtschaftliche Betätigung einer weiteren Konzerngesellschaft im Ansässigkeitsstaat des Vergütungsempfängers reicht laut BFH zur Führung des Gegenbeweises nicht aus. Vielmehr muss eine umfassende Prüfung der betreffenden Konzernverhältnisse anhand organisatorischer, wirtschaftlicher oder sonst beachtlicher Merkmale sowie Strukturen und Strategien des Konzerns erfolgen.
Darüber hinaus war im konkreten Fall auch die während des Revisionsverfahrens erfolgte (rückwirkende) Neufassung des § 50d Abs. 3 EStG i.d.F. AbzStEntModG zu berücksichtigen. Diese ist in allen offenen Fällen anzuwenden, es sei denn § 50d Abs. 3 EStG in der Fassung, die zu dem Zeitpunkt galt, in dem die Einkünfte zugeflossen sind, steht dem Anspruch auf Entlastung nicht entgegen. Daraus folgt für den BFH, dass eine Günstigerprüfung durchzuführen ist. Zunächst sind die Voraussetzungen des § 50d Abs. 3 EStG a.F. zu prüfen. Führen diese zum Ausschluss der Entlastung, sind sodann die Voraussetzungen des § 50d Abs. 3 EStG n.F. zu prüfen.
Mangels hinreichender tatsächlicher Feststellungen zu § 50d Abs. 3 a.F. und mangels tatrichterlicher Feststellungen zur Prüfung des § 50d Abs. 3 EStG n.F. hat der BFH die Entscheidung an das FG zurückverwiesen.
Der Volltext des Urteils steht Ihnen auf der Internetseite des BFH zur Verfügung.
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