4 Minuten Lesezeit 17 Juni 2021
Luftaufnahme der Ölraffinerie im Petrochemiekomplex bei Nacht

„Unternehmen sollten das Momentum jetzt nutzen“

Von EY Deutschland

Building a better working world

4 Minuten Lesezeit 17 Juni 2021

Dr.-Ing Frank Jenner, EY Global Chemicals and Advanced Materials Industry Leader, beschreibt im Interview die Zukunft der Chemiebranche.

Überblick
  • Grundsätzlich hat sich die systemrelevante chemische Industrie während der COVID-19-Pandemie als resilient gezeigt.
  • Gerade die Digitalisierung eröffnet der Chemiebranche neue und bisher ungeahnte Möglichkeiten zur Transformation.
  • Mitarbeiter sowie Kunden müssen auf diese Reise mit ihren Bedürfnissen mitgenommen werden.

Die COVID-19-Pandemie hat ungeahnte Kräfte für Transformation freigesetzt. Dr.-Ing Frank Jenner, EY Global Chemicals and Advanced Materials Industry Leader, verrät im Interview, wie Unternehmen der chemischen Industrie diese Energie nun nutzen können, um sich künftig flexibler und damit resilienter aufzustellen.

EY: Wie resilient ist die Chemieindustrie?

Dr.-Ing Frank Jenner: Bei allem Verbesserungspotenzial, was ich sehe, hat die Pandemie gezeigt, dass die Chemieindustrie grundsätzlich sehr resilient ist, nicht zuletzt deshalb, weil sie systemrelevant ist. Während andere Branchen wie Automotive, Luftfahrt und Touristik während des ersten Lockdowns 2020 in den Monaten April und Mai massiv eingebrochen sind, gab es in der chemischen Industrie nur eine leichte Delle. Dann wurde die Produktion schon wieder hochgefahren, zwar noch nicht ganz auf das normale Niveau, aber immerhin. Kurzarbeit gab es für wenige Wochen nur in den Fabriken, die Vorprodukte für die Automobilindustrie herstellen, wie zum Beispiel Coatings.

Auch im Hinblick auf Lieferketten ist die chemische Industrie vergleichsweise resilient. Im Gegensatz zur Pharmabranche gibt es hier keine Abhängigkeiten von einzelnen Zulieferern, sondern die Lieferketten sind weltweit diversifizierter, sodass einzelne Ausfälle leicht kompensiert werden können. Was aber aktuell natürlich auch in der Chemieindustrie zu spüren ist, sind die extrem gestiegenen Transportkosten, da die Logistik weltweit durcheinandergebracht wurde. Derzeit sind die Schiffs- und Luftfrachtkapazitäten knapp und es fehlt an Containern. Diese Situation wird sich aber vermutlich bald entspannen.

Wenn wir in die weitere Zukunft blicken – jenseits von Corona: Welche Risiken sehen Sie hier?

Ich würde eher von Chancen sprechen. Denn die Pandemie hat Transformationsprozesse enorm beschleunigt, weil sie uns gezwungen hat, uns aus der Komfortzone herauszuwagen. Bei allem Leid, das sie uns gebracht hat, hat sie uns neue Möglichkeiten eröffnet, an die wir vorher gar nicht gedacht haben. Das gilt insbesondere für die Digitalisierung. Wenn wir sehen, wie gut Remote Work funktioniert, öffnet das unseren Blick für weitere Veränderungsprozesse.

Zum Beispiel?

Unternehmen können den ganzen Bereich Immobilien nun völlig neu denken: Brauchen sie noch so viele Verwaltungsgebäude, wenn künftig die Mitarbeiter verstärkt von zu Hause arbeiten? Wie können sie den gewonnenen Platz nutzen, zum Beispiel für neue Produktionsstätten oder Innovation Labs? Wo können sie die Einsparungen für Miete künftig investieren? Wichtig ist insbesondere, dass sich bei allen Mitarbeitern im Kopf ein Schalter umgelegt hat – im Sinne von: „Da geht noch viel mehr.“ Dieses Momentum sollten die Unternehmen jetzt nutzen.

Die neue Offenheit gegenüber Veränderungen hilft auch, das Thema Nachhaltigkeit aktiv mitzugestalten. Es geht einerseits darum, eigene Produktionsprozesse klimafreundlicher zu gestalten. Zum anderen hat die Chemiebranche als Schlüsselindustrie das Potenzial, durch Innovationen einen nachhaltigen Wandel der Wirtschaft insgesamt zu fördern. 

Wichtig ist insbesondere, dass sich bei allen Mitarbeitern im Kopf ein Schalter umgelegt hat – im Sinne von: „Da geht noch viel mehr.“ Dieses Momentum sollten die Unternehmen jetzt nutzen.
Dr.-Ing Frank Jenner
EY Global Chemicals and Advanced Materials Industry Leader

Aber ist die Chemieindustrie flexibel genug aufgestellt, um solche Veränderungsprozesse in Gang setzen zu können? Oder hat sie sich in der Vergangenheit zu sehr auf Effizienz getrimmt?

Wenn man die vergangenen 30 Jahre betrachtet, wurde der Taylorismus in der Chemieindustrie in der Tat auf die Spitze getrieben. Viele Abteilungen sind inzwischen so „lean“ aufgestellt, dass sie nur in einem eingeschwungenen Zustand des „Steady State“ funktionieren. Sobald aber neue Impulse dieses Gefüge stören – im positiven wie negativen Sinne – reicht das nicht mehr, sondern es braucht mehr Kapazitäten. Hierfür müssen neue Organisationsmodelle geschaffen werden. Beispielsweise können Task Forces aufgestellt werden, die flexibel in neue Rollen schlüpfen, immer da, wo sie gerade gebraucht werden. Dafür bedarf es Investitionen insbesondere in die Aus- und Weiterbildung der Mitarbeiter.

Was können Unternehmen noch tun, um sich mit Blick auf die Herausforderungen der Zukunft resilienter aufzustellen?

Generell ist es wichtig, den Blick für mögliche Chancen und Risiken zu schärfen, um künftig besser und früher auf disruptive Ereignisse reagieren zu können. Dafür sollten Unternehmen noch näher an den Kunden kommen, damit sie sich ändernde Bedürfnisse rechtzeitig erkennen. Um die Produktion schneller daran anpassen zu können, sollten Anlagen künftig modularer und multifunktioneller aufgestellt sein. Auch Technologien können zu mehr Resilienz verhelfen. Durch die Kombination von künstlicher Intelligenz und maschinellem Lernen und in Verbindung mit Process Mining lassen sich Ineffizienzen schneller aufdecken und korrigieren. Satelliten überwachen die globale Lieferkette in Echtzeit und mithilfe eines digitalen Zwillings lassen sich unterschiedliche Szenarien mit verschiedenen Variablen wie Lieferengpässe oder Ausfallzeiten simulieren. Bei allen technischen Möglichkeiten ist für die Resilienz letztlich jedoch immer eines entscheidend: Veränderung beginnt im Kopf. Daher gilt es, diese Bereitschaft zur Transformation fest in der Unternehmenskultur zu verankern.

Das Interview mit Dr.-Ing Frank Jenner, EY Global Chemicals and Advanced Materials Industry Leader, ist zuerst im Handelsblatt erschienen und wurde im Rahmen der 22. Handelsblatt Jahrestagung Chemie im April 2021 geführt.

Fazit

Die Chemieindustrie ist gut durch die Pandemie gekommen. Eine komfortable Ausgangsposition, um jetzt die richtigen Lehren aus der Corona-Krise zu ziehen und sich für die Zukunft aufzustellen. Die schon eingeleiteten Transformationsprozesse sollten nun konsequent zu Ende gedacht und umgesetzt werden. Durch Chancen, die sich gerade im Bereich Digitalisierung eröffnet haben, ergeben sich ganz neue Blickwinkel auf künftige Veränderungsprozesse. Es gilt, dieses Momentum zu nutzen und Themen wie Digitalisierung oder Nachhaltigkeit noch mehr in die Unternehmenskultur zu integrieren.

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