Die COVID-19-Pandemie hat ungeahnte Kräfte für Transformation freigesetzt. Dr.-Ing Frank Jenner, EY Global Chemicals and Advanced Materials Industry Leader, verrät im Interview, wie Unternehmen der chemischen Industrie diese Energie nun nutzen können, um sich künftig flexibler und damit resilienter aufzustellen.
EY: Wie resilient ist die Chemieindustrie?
Dr.-Ing Frank Jenner: Bei allem Verbesserungspotenzial, was ich sehe, hat die Pandemie gezeigt, dass die Chemieindustrie grundsätzlich sehr resilient ist, nicht zuletzt deshalb, weil sie systemrelevant ist. Während andere Branchen wie Automotive, Luftfahrt und Touristik während des ersten Lockdowns 2020 in den Monaten April und Mai massiv eingebrochen sind, gab es in der chemischen Industrie nur eine leichte Delle. Dann wurde die Produktion schon wieder hochgefahren, zwar noch nicht ganz auf das normale Niveau, aber immerhin. Kurzarbeit gab es für wenige Wochen nur in den Fabriken, die Vorprodukte für die Automobilindustrie herstellen, wie zum Beispiel Coatings.
Auch im Hinblick auf Lieferketten ist die chemische Industrie vergleichsweise resilient. Im Gegensatz zur Pharmabranche gibt es hier keine Abhängigkeiten von einzelnen Zulieferern, sondern die Lieferketten sind weltweit diversifizierter, sodass einzelne Ausfälle leicht kompensiert werden können. Was aber aktuell natürlich auch in der Chemieindustrie zu spüren ist, sind die extrem gestiegenen Transportkosten, da die Logistik weltweit durcheinandergebracht wurde. Derzeit sind die Schiffs- und Luftfrachtkapazitäten knapp und es fehlt an Containern. Diese Situation wird sich aber vermutlich bald entspannen.
Wenn wir in die weitere Zukunft blicken – jenseits von Corona: Welche Risiken sehen Sie hier?
Ich würde eher von Chancen sprechen. Denn die Pandemie hat Transformationsprozesse enorm beschleunigt, weil sie uns gezwungen hat, uns aus der Komfortzone herauszuwagen. Bei allem Leid, das sie uns gebracht hat, hat sie uns neue Möglichkeiten eröffnet, an die wir vorher gar nicht gedacht haben. Das gilt insbesondere für die Digitalisierung. Wenn wir sehen, wie gut Remote Work funktioniert, öffnet das unseren Blick für weitere Veränderungsprozesse.
Zum Beispiel?
Unternehmen können den ganzen Bereich Immobilien nun völlig neu denken: Brauchen sie noch so viele Verwaltungsgebäude, wenn künftig die Mitarbeiter verstärkt von zu Hause arbeiten? Wie können sie den gewonnenen Platz nutzen, zum Beispiel für neue Produktionsstätten oder Innovation Labs? Wo können sie die Einsparungen für Miete künftig investieren? Wichtig ist insbesondere, dass sich bei allen Mitarbeitern im Kopf ein Schalter umgelegt hat – im Sinne von: „Da geht noch viel mehr.“ Dieses Momentum sollten die Unternehmen jetzt nutzen.
Die neue Offenheit gegenüber Veränderungen hilft auch, das Thema Nachhaltigkeit aktiv mitzugestalten. Es geht einerseits darum, eigene Produktionsprozesse klimafreundlicher zu gestalten. Zum anderen hat die Chemiebranche als Schlüsselindustrie das Potenzial, durch Innovationen einen nachhaltigen Wandel der Wirtschaft insgesamt zu fördern.