Löst digitale Inklusion das Problem der sozialen Ungleichheit?

Von Andy Baldwin

EY EMEIA Area Managing Partner and EY Global Managing Partner – Client Service-elect

Interested in innovation, FinTech, inclusive growth and geopolitics. Regular contributor in print and broadcast media. Leading commentator on financial services in the Eurozone.

4 Minuten Lesezeit 7 Januar 2019

Die digitale Revolution kann dazu beitragen, die soziale Ungleichheit zu minimieren – doch nur, wenn sich Unternehmen aktiv für digitale Inklusion einsetzen.

Heute nutzen über 50 Prozent der Weltbevölkerung das Internet, und das weniger als 30 Jahre nach seiner erstmaligen Erfindung.

Diese Statistik wirkt noch beeindruckender, wenn man sie in diesen Kontext stellt: 2010 hatten laut der Weltgesundheitsorganisation (WHO) immer noch 43 Prozent der Weltbevölkerung keinen Zugang zu sauberem Wasser aus der Leitung, obwohl Wasserleitungen seit der Römerzeit existieren. Und obwohl die Elektrizität vor mehr als 250 Jahren entdeckt wurde, schätzt die Weltbank, dass 2014 rund 15 Prozent der Weltbevölkerung davon abgeschnitten waren.

Diesen Kontext stelle ich aus zwei Gründen her. Erstens zeigt er, wie schnell die digitale Revolution in den unterschiedlichsten Kulturen, Branchen und Märkten vorangeschritten ist und dabei Leben, Jobs und Geschäftsmodelle vollkommen umgekrempelt hat. Milliarden von Menschen haben sich in den vergangenen 30 Jahren digitale Fähigkeiten angeeignet, selbst wenn sich diese in vielen Fällen auf Grundkenntnisse beschränken.

Milliarden von Menschen haben sich in den vergangenen 30 Jahren digitale Fähigkeiten angeeignet, selbst wenn sich diese in vielen Fällen auf Grundkenntnisse beschränken.

Außerdem: Jeder zweite Mensch ist Internetnutzer, und jeder zweite ist es nicht. Und genau wie bei der Trinkwasserversorgung oder der Elektrizität können wir nicht davon ausgehen, dass diese Menschen irgendwie bei der Digitalisierung aufholen werden. Tatsache ist vielmehr, dass sie angesichts der Entwicklungen in Bereichen wie Analytik, Automatisierung und künstlicher Intelligenz nur noch weiter abgehängt werden.

Digitale Ausgrenzung, wachsende Ungleichheit und die Notwendigkeit inklusiven Wachstums sind wichtige Themen für Regierungen, Führungskräfte und Einzelpersonen. Und es liegt auf der Hand, dass das Potenzial der Technologien riesig ist, um das Leben für alle Menschen, die auf diesem Planeten leben, vielfach besser zu machen. Doch es besteht auch das sehr reelle Risiko, dass Technologie soziale Exklusion vorantreibt, die bereits bestehenden Ungleichheiten verschärft und sich eben nicht als gesellschaftliches Gut erweist.

Welche Folgen hat Technologie für die soziale Ungerechtigkeit in Gesellschaften?

Wir wissen, dass Frauen in der einflussreichen und gut bezahlten Tech-Branche sträflich unterrepräsentiert sind. Unsere Stichprobe aus den FinTech-Erhebungen von EY hält fest, dass 71 Prozent der Angestellten in der britischen Tech-Branche männlich sind. In Australien sind es sogar 87 Prozent, in Frankreich 91 Prozent.

Daraus ergeben sich bedrohliche Folgen für die Zukunft. So haben wir erst jüngst erlebt, dass Spracherkennungsprogramme Frauen nicht verstehen. Die Auswirkungen dürften noch schlimmer werden, wenn wir nicht sicherstellen, dass mehr Frauen in der Branche Fuß fassen und aufsteigen. 

So haben wir erst jüngst erlebt, dass Spracherkennungsprogramme Frauen nicht verstehen. Die Auswirkungen dürften noch schlimmer werden, wenn wir nicht dafür sorgen, dass mehr Frauen in der Branche Fuß fassen und aufsteigen.

Insbesondere die Automatisierung stellt uns vor einige große Dilemmas in Bezug auf die Funktionsweise von Volkswirtschaften und Gesellschaften in der Zukunft. Die beunruhigenderen Prognosen gehen davon aus, dass mindestens 47 Prozent aller Jobs durch Automatisierung wegfallen werden. Was passiert mit ungelernten Arbeitern, die manuelle oder prozessgetriebene Funktionen innehaben, wenn ihre Arbeitsplätze von Technologien übernommen werden und sie nicht über die Fähigkeiten und Erfahrungen verfügen, die es in dieser neuen Wirtschaftsrealität braucht? Möglicherweise verlieren Millionen von Menschen ihren Lebensunterhalt und damit auch ihre Sinnhaftigkeit und ihren sozialen Status. Dies ist ein riesiges Problem und Regierungen sollten bei dessen Lösung nicht allein gelassen werden – denn es fehlt ihnen an den nötigen Ressourcen und Mitteln. Diese Herausforderung muss von Unternehmen, Unternehmern und Regierungen gemeinsam angegangen werden.

Die vierte industrielle Revolution, die wir gerade durchlaufen, ist transformativer als alles, was wir bis jetzt erlebt haben.

Ich glaube, dass wir aus den Fehlern lernen können, die in der ersten Automatisierungsphase in den 70er und 80er Jahren in der Rohstoff- und Verarbeitungsindustrie begangen wurden. Diese Phase der Automatisierung wurde in einer Reihe von Ländern schlecht gehandhabt, insbesondere in denen, die Arbeitnehmern wenig Schutz boten. Viele Menschen wurden aus ihren Rollen gedrängt und hinterließen wahre Geisterstädte, da wir uns damals zu sehr auf die Mobilität der Menschen und ihren Willen, sich einen neuen Job zu suchen, verlassen haben. Wir glaubten, so ließe sich der Fakt ausgleichen, dass die Kernindustrie der jeweiligen Stadt nun mit weniger Arbeitern auskam. Die vierte industrielle Revolution, die wir gerade durchlaufen, ist transformativer als alles, was wir bisher erlebt haben.

Sie erschüttert jeden nur denkbaren Sektor und jede Branche. Doch verdrängte Menschen können nicht einfach so umziehen und sich eine neue Arbeit suchen, wenn sie nicht über die Fähigkeiten verfügen, die es für diese neue Arbeit braucht.

Ist Kollaboration die neue Innovation?

Es wird deutlich, dass Unternehmen, Unternehmer und Regierungen zusammenarbeiten müssen, um Chancen für alle zu gestalten – unabhängig von deren Alter, Geschlecht oder Herkunft – und in der digitalen Ökonomie florieren zu können. Es braucht Kontakt zu Schulen und Universitäten, um Abgänger und Absolventen mit begehrten Fähigkeiten auszubilden, Weiterbildungsmaßnahmen für Menschen in der Mitte ihrer Karriere oder in langer Arbeitslosigkeit und den Einsatz von Technologie, um Menschen dabei zu unterstützen, auch in späteren Lebensphasen zu arbeiten. Dies wird zum entscheidenden Faktor in einer alternden Gesellschaft.

Um die Herausforderung der digitalen Inklusion zu bewältigen, braucht es riesiges Engagement. Die Versuchung, diese Verantwortung auf jemand anderen abzuwälzen, ist groß. Und was passiert, wenn wir uns als Wirtschaftsführer weigern, das Zepter in die Hand zu nehmen? Einerseits verschenken wir Wachstumschancen, da weniger Menschen das nötige Geld für Waren und Dienstleistungen haben werden. Andererseits können wir uns auf höhere Steuern einstellen, die zur Deckung der sozialen Absicherung notwendig sind. Es besteht auch das durchaus realistische Risiko sozialer Unruhen, aus denen eine wirtschaftsfeindliche Umgebung entstehen könnte – bis hin zum Zusammenbruch von Recht und Ordnung. Einige dieser Aspekte sind bereits heute sichtbar.

Zurück zu meiner Analogie weiter oben: Der Vergleich zwischen der Verbreitung digitaler Technologien und dem Zugang zu sauberem Leitungswasser und Elektrizität macht deutlich, dass gerechte Prozesse nicht von selbst entstehen. Sogar in den entwickelteren Märkten gibt es heute riesige Unterschiede im Lebensstandard von Arm und Reich. Deshalb ist es unabdingbar, dass wir uns aktiv mit der digitalen Inklusion auseinandersetzen und eine Gesellschaft aufbauen, in der jeder von der transformativen Kraft der Technologien profitieren kann. Wenn wir dafür eine Lösung finden, ist inklusives Wachstum möglich.

Fazit

Wir müssen die digitale Inklusion aktiv vorantreiben und eine Gesellschaft aufbauen, in der jeder von der transformativen Kraft der Technologien profitieren kann.

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Von Andy Baldwin

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