Was steckt in der Blackbox der digitalen Innovation?

Von George Atalla

EY Global Government & Public Sector Leader

Working with governments to address complex issues and build a better working world.

15 Minuten Lesezeit 5 November 2018

Sechs zentrale Erkenntnisse für Regierungen, die ihre digitale Transformation planen.

Wir befinden uns im Zeitalter der Transformation. Alles wandelt sich zurzeit in rasanter Geschwindigkeit und mit unvorhersehbaren Konsequenzen: die Gesellschaft, die Wirtschaft und die Geopolitik. Das stellt die Politik vor völlig neue Herausforderungen. Sie muss immer komplexere und langfristigere Probleme lösen.

Heutige Technologien und künftige Entwicklungen bieten Regierungen ganz andere Möglichkeiten, auf neue Anforderungen zu reagieren und Probleme zu lösen. Doch oft erzielen Behörden nicht die gewünschten Effekte, wenn sie in digitale Technologien investieren. Es gibt ebenso viele Beispiele für greifbare Erfolge wie für das Scheitern kostspieliger Prozesse und für Budgets, die dabei aus dem Ruder liefen.

Wenn analysiert wird, woran solche digitalen Transformationsprozesse der Behörden scheitern oder wann sie erfolgreich sind, steht allzu oft die Technologie im Fokus, die neu eingesetzt wurde. Viel seltener wird gefragt, welche Rolle die Organisationskultur dabei spielt und die Bereitschaft einer Behörde, sich auf neue Arbeitsabläufe und Ansätze einzulassen. Aber genau solche Faktoren  – wie die Fähigkeit, bürokratische Arbeitsabläufe zu ändern und mit externen Partnern zusammenzuarbeiten  – sind ebenso entscheidend für den Erfolg wie der Einsatz der richtigen IT. Dieser blinde Fleck ist eine entscheidende Barriere für Behörden.

Denn er hält sie davon ab, von der Erfahrung anderer zu lernen und die besten Lösungen derer zu übernehmen, die bereits mitten im digitalen Transformationsprozess stecken. Um den blinden Fleck auszuleuchten, haben EY und INSEAD in einer völlig neuartigen Studie untersucht, wie Regierungen in Russland, den Vereinigten Arabischen Emiraten, Spanien, Italien und Frankreich den digitalen Wandel in ihren Behörden vorantreiben.

Die Studie Inside the Black Box: Journey Mapping Digital Innovation in Government (Im Innern der Blackbox: Ein Routenplaner für digitale Innovation im öffentlichen Sektor) verwendet eine Reihe qualitativer Forschungsinstrumente, einschließlich ausführlicher Darstellungen, Ablaufskizzen und Fragebögen zur Selbsteinschätzung, mit denen die einzelnen Einstellungen von Teammitgliedern ebenso erfasst werden können, wie die Stimmung in Teams, die Führungskultur in Organisationen und der Einfluss von kulturellen Faktoren. Einzigartig an diesem Ansatz ist, dass er viele Nuancen erfasst, die im Prozess der digitalen Innovation mitschwingen  – und nicht lediglich den Input und den Output der Behörden misst.

Ziel der Studie war es, einen Einblick in die „Blackbox“ der digitalen Transformation zu bekommen und herauszufinden, was sich wirklich in den Teams abspielt, die sie umsetzen müssen. In jedem der Fälle gab es Hochphasen und Tiefpunkte bei der Umsetzung, es gab Fortschritte und Rückschläge, aber es gab auch immer wertvolle Erfahrungen dabei. Wir haben die sechs wichtigsten Faktoren für Behörden zusammengefasst, als Hilfestellung für alle Verantwortlichen des öffentlichen Sektors, die sich künftig auf ihre eigene innovative digitale Reise begeben.

Schmied formt Eisen
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Kapitel 1

Schaffen Sie neue Strukturen, um Innovation voranzutreiben

Nur wer Organisationsgrenzen durchbricht, verschafft sich den Freiraum für neue Arbeitsabläufe und Denkweisen.

Behörden sollten erkennen, dass ihre bisherigen Organisationsstrukturen nicht gerade die Digitalisierung beschleunigen. Es fehlt ihnen an Raum, Freiheiten oder der Flexibilität, neue Arbeitsweisen auszuprobieren. Das Wichtigste, um diese Beschränkungen zu überwinden ist, sich nicht durch bestehende Strukturen einschränken zu lassen, sondern selbst neue Abteilungen zu schaffen, die auf die neuen Ziele ausgerichtet sind. Diese Abteilungen könnten den gesamten digitalen Transformationsprozess steuern oder sich nur auf bestimmte Einzelheiten konzentrieren.

Russland setzte diese Strategie erfolgreich um: Die staatliche Steuerbehörde FTS richtete eine Onlineplattform für Steuerzahler ein. Sie lagerte die Bereitstellung der IT sowie die Forschung und Entwicklung aus in ein eigens gegründetes Unternehmen. So vermied die Behörde langwierige und mühsame interne Recruitingprozesse, ebenso wie zähe Verhandlungen mit externen Dienstleistern von wechselnder Qualität. Anders als bei Verträgen mit privaten Anbietern hatte die FTS so die Kontrolle über sämtliche Arbeiten und besitzt außerdem die Rechte an allen Softwaretools.

  • Russland-Fallstudie: Staatliche Steuerbehörde

    Die Steuerbehörde, die es seit der Gründung der Russischen Föderation gibt, durchlief mehrere Modernisierungswellen. Zuletzt verfolgte sie das Ziel, digitale Technologien einzubinden. Dazu entwickelte Russlands föderale Steuerbehörde (FTS) eine Onlineplattform als vorrangige Schnittstelle zu den Steuerzahlern. Damit will sie mehr Effizienz, Transparenz und Objektivität erreichen und auch das Vertrauen der Steuerzahler gegenüber der Behörde erhöhen sowie deren Ehrlichkeit.

    Zuerst führte die FTS ein neues elektronisches Dokumentensystem ein, um den Ablauf und die Nachverfolgbarkeit von Steuererklärungen und Zahlungen zu vereinfachen. Dazu schuf sie mehrere digitale Tools, unter anderem ein Bezahlsystem für Einzelhandelsunternehmen, ein System, mit dem Unternehmen in Echtzeit ihre Verkaufsdaten melden können sowie Online-Tools zur Nachverfolgung von Produktionsgütern.

    Die Endkunden haben den Wechsel auf digitale Systeme und die kundenorientierten Services der Steuerbehörde sehr gut angenommen. Das wirkte sich unmittelbar auf die Staatskasse aus. Der Anteil digital eingereichter Steuererklärungen erreichte in Russland 2016 schon 97 Prozent. Zur selben Zeit kletterten die nationalen inflationsbereinigten Steuereinnahmen auf 105 Milliarden Russische Rubel, was einem 22-prozentigen Anstieg gegenüber 2011 entspricht. Eine Umfrage von Union of Industrialists belegte zudem, dass viel weniger russische UNetrnehmen seitdem glauben, die Steuerbehörde behindere ihr Geschäft. Die Zustimmungsquote zu diesem Satz sank zwischen 2008 und 2016 von zuvor 43 Prozent auf nur 7,6 Prozent.

Derweil stellte Spanien besonders kleine Stadtverwaltungen mit einer Gesetzesänderung 2007 auf eine harte Probe. Mit der Gesetzesnovelle erhielten Bürger das Recht auf den Onlinezugang zu öffentlichen Diensten, was gerade kleine Verwaltungen mit übersichtlichen Budgets und wenig Erfahrung im Digitalbereich zunächst überforderte. Doch die Lösung war: Die Verwaltung der Provinz Bizkaia gründete die unabhängige Stiftung BiscayTIK, die eine neue Digitalplattform entwickelte. Sie kann von Stadtverwaltungen auf ihre jeweiligen Bedürfnisse angepasst werden. Die Plattform dient heute als ein „digitales öffentliches Amt“, 108 Lokalverwaltungen von Bizkaia bieten darüber ihre Onlinedienste für 1,2 Millionen Bürger an.

  • Spanien-Fallstudie: BiscayTIK

    Eine Gesetzesnovelle in Spanien gibt Bürgern seit 2007 das Recht auf den Onlinezugang zu öffentlichen Diensten. Das stellte kleinere Verwaltungen auf eine harte Probe, unter anderem die Provinz Bizkaia im Baskenland, der dafür die Finanzen und die technische Expertise fehlten.

    Die Provinzverwaltung von Bizkaia schlug vor, das Portal BiscayTIK als gemeinsame Onlineplattform zu schaffen, auf der mehrere Stadtverwaltungen ihre Dienste zur Verfügung stellen können. Bis dahin waren die lokalen Verwaltungen daran gewöhnt, unabhängig zu arbeiten, deshalb bedurfte es viel Überzeugungskraft durch die Stakeholder, um sie von der Teilnahme zu überzeugen. Über 1.100 Verwaltungsmitarbeiter wurden geschult, um 7.700 Dienstleistungen online zu erbringen.

    Die neu entstandene Plattform BiscayTIK dient heute als „digitales Amt“, über das 108 Stadtverwaltungen von Bizkaia ihre Dienste online den 1,2 Millionen lokalen Bürgern anbieten.

Sportlehrer Schüler Sit-ups
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Kapitel 2

Bilden Sie agile und autonom arbeitende Teams

Teams, die flexibel und nicht-hierarchisch funktionieren, können junge Talente anziehen und neue Ideen umsetzen.

Teams, die den digitalen Wandel am besten umsetzen, besitzen nicht unbedingt die Eigenschaften, die typisch für Mitarbeiter öffentlicher Verwaltungen sind. Meist sind es kleine Teams, die Zugang zu Fachleuten haben und sich flexibel anpassen können. Sie sind nicht hierarchisch organisiert und begrüßen es, wenn Ideen „von unten“ eingebracht werden. Außerdem sind sie agil, sie können blitzschnell entscheiden. Häufig überwinden sie Abteilungs- und Funktionsgrenzen und sie können auch große Veränderungen wagen, weil sie den Rückhalt eines Projektverantwortlichen haben, der in höherer Leitungsebene sitzt.

In Italien etwa musste das Team der Agentur für Digitalisierung (AgID), das an einer neuen digitalen Bezahlplattform für Bürger arbeitete, lediglich den Stakeholder-Gruppen berichten, wie das Projekt in Bezug auf deren jeweilige Interessengebiete voranging. In allen Tagesbelangen konnte es selbst entscheiden und konnte sich so voll auf die Projektarbeit konzentrieren. Vom Projektstart bis zur Pilotphase des PagoPA-Projekts vergingen nur 12 Monate.

  • Italien-Fallstudie: PagoPA

    Über die Onlineplattform PagoPA können Italiener Zahlungen an jede öffentliche Körperschaft im Land tätigen. Zuvor musste jede Behörde ihr eigenes Bezahlsystem aufsetzen und pflegen, was zu teuren Doppelentwicklungen führte und für die Bürger umständlich und unbequem war.

    Heute wird jeder, der sich online an eine Behörde wendet und eine Zahlung tätigen muss, direkt an die Seite PagoPA weitergeleitet. Dort kann er die bevorzugte Zahlmethode aus einer Liste auswählen. PagoPA wickelt die Zahlung für die Behörde ab und erstellt eine Quittung.

    Die erfolgreiche Einführung von PagoPA führte zu einem wahnsinnigen Anstieg digitaler Zahlungsvorgänge: Wurden 2014 noch 700.000 Transaktionen getätigt, so waren es 2018 bereits sechs Millionen Zahlungen. Allein im ersten Quartal 2018 entsprach das einer Summe von 278 Millionen Euro. Etwa die Hälfte aller staatlichen Zahlungen wird so wesentlich kostengünstiger abgewickelt. Der stete Anstieg von Endnutzern zeigt, dass die italienische Regierung mit PagoPA auf dem Weg ist, ihre Innovations- und Effizienziele zu erreichen.

Die BiscayTIK-Plattform in Spanien wurde mit einer sehr schlanken Organisationsstruktur aufgesetzt, dadurch gab es einen schnellen Informationsfluss zwischen den Entscheidungsträgern. Das Team konnte viele Probleme dank wöchentlicher Meetings schon vorab erkennen und sie lösen, bevor sie den Gesamtablauf hätten gefährden können.

In Russland arbeitete das Digitalplattformteam mit der vollen Autorität des russischen Bevollmächtigten, er siedelte das Team in einer zentralen Stelle an, eng angebunden an die oberste Führungsebene der Steuerbehörde. In wöchentlichen Meetings mit dem Verantwortlichen und seinen Stellvertretern konnte das Team Entscheidungen und Genehmigungen direkt einholen. Das beschleunigte die Projektumsetzung enorm.

Und in Frankreich machte der Leiter der Arbeitsagentur, der Pôle Emploi, seinen Mitarbeitern klar, dass er ihre Erfahrungen nutzen wolle. Schließlich hätten sie direkten Kontakt sowohl mit dem System als auch mit den Klienten. Eine interne Website wurde erstellt  – Innov’Action –, um Anregungen und Ideen der Mitarbeiter einzuholen, wie die Agentur ihr Angebot für Arbeitssuchende verbessern könnte. Mit diesem partizipativen Ansatz sammelte die Website mehr als 4.000 Vorschläge ein. Das veranlasste das Team schließlich, den Blick noch stärker zu weiten und in einem Crowdsourcing-Prozess weitere Ideen von externen Organisationen einzuholen.

  • Frankreich-Fallstudie: Pôle Emploi

    Die französische Behörde Pôle Emploi ist für Arbeitslosenleistungen zuständig und vermittelt Arbeitssuchende in Weiterbildungsprogramme. Als 2013 eine neue Regierungsrichtlinie erlassen wurde, schlug der Behördenleiter einen neuen Kurs ein, um die Agentur transparenter und ergebnisorientierter zu machen.

    Außerdem sollte sie Jobsuchenden besseren Service bieten mit digitalen Prozessen. Abgesehen von der Anforderung, dass die Behörde ihre Dienste online anbieten sollte, gab es keine weiteren Anforderungen, ein spezifisches Digitalprodukt zu entwickeln. Vielmehr sollte ausgelotet werden, wie sich digitale Technologien einsetzen ließen, um das Angebot zu verbessern und die Leistungen der Mitarbeiter zu steigern. Der Effekt davon war: Es gab keinen Punkt, der das Projekt als abgeschlossen gekennzeichnet hätte. So befand sich das Team in einem ständigen Prozess des Anpassens, Optimierens und Entwickelns.

    Dank einer Kooperation mit 80 externen Stellenbörsen, kann die neue Webseite des Pôle Emploi nun über fünf Millionen offene Stellen anbieten, das entspricht der fünffachen Anzahl der im Jahr 2012 angebotenen Stellen. Im neue Emploi-Store werden über 300 Dienstleistungen angeboten mithilfe von 200 Partnern. Er zählt bereits 10 Millionen Besucher. Die neue App des Pôle Emploi wurde über zwei Millionen Mal heruntergeladen.

Walhai schwimmt unter Boot Philippinen
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Kapitel 3

Arbeiten Sie mit externen Behörden und Stakeholdern zusammen

Teams verstehen die Herausforderungen besser, wenn sie auch Ratschläge von weit entfernten Beteiligten einholen.

Erfolgreiche Projektteams wissen, dass sie selbst nicht alle Antworten kennen. Stattdessen holen sie viele Meinungen und Ratschläge auch von externen Stakeholdern ein, die für ein Projekt wichtig sein könnten. Sie setzen alles daran, über den Tellerrand der eigenen Organisation zu blicken, und arbeiten auch gern mit Dritten zusammen, von denen sie sich neue Sichtweisen erhoffen. Dieser Blick nach außen hilft, sich nicht selbst als den Nabel der Welt zu betrachten. Oft denken Organisationen nämlich, ihre eigene digitale Transformation sei so einzigartig, dass sie dabei nichts von anderen abschauen könnten.

Vor allem Frankreich machte vor, was gute Zusammenarbeit bewirkt: Dort suchte die Behörde Pôle Emploi für ihre Plattform für Arbeitssuchende bewusst den Kontakt zu existierenden Stellenbörsen, die auch maßgeblich am Erfolg des Projekts beteiligt waren. Einige dieser Stellenbörsen fürchteten zwar, die Arbeitssuchenden würden später nicht mehr ihre Seiten besuchen, wodurch ihre Besucherzahlen und Einnahmen sinken würden. Doch die Projektteams nahmen sich Zeit, um diese Bedenken zu zerstreuen und Kooperationsverträge auszuhandeln. Am Ende unterschrieben 83 Kooperationspartner und die Plattform postete 2015 über fünf Millionen Stellenangebote.

Auch ein Projekt der Gesundheitsbehörde in Abu Dhabi (HAAD) zeigt, was aus der Zusammenarbeit mit externen Partnern erwachsen kann. Dort werden auf elektronischem Wege Forderungen bei der Behörde eingereicht (e-claims), um das Krankenversicherungssystem zu verbessern. Die Gesundheitsbehörde lud externe Stakeholder ein, sich an der Gestaltung der Plattform zu beteiligen, zum Beispiel öffentliche Krankenhäuser und staatliche Versicherungsunternehmen. Gemeinsam konnten die Systemfehler aufgedeckt werden, die dazu geführt hatten, dass Papierformulare erst nach zweijähriger Wartezeit bearbeitet wurden.

  • Fallstudie Vereinigte Arabische Emirate: Gesundheitsbehörde Abu Dhabi

    Die Gesundheitsbehörde in Abu Dhabi entwickelte die Onlineplattform Shafafiya für elektronische Schadensanmeldungen. Denn nach Einführung des verpflichtenden Krankenversicherungssystems hatte sich ein zweijähriger Rückstau bei der Bearbeitung von Papierformularen aufgebaut.

    Die neue Plattform wurde in Zusammenarbeit mit Stakeholdern des Gesundheitswesens entwickelt und beseitigte schnell den Rückstau. Heute bearbeitet die Gesundheitsbehörde etwa 25 Millionen Forderungen im Jahr. Tatsächlich erwies sich die Plattform als derart erfolgreich, dass ihr Aufgabenbereich ausgeweitet wurde.

    Heute ist sie ein fester Bestandteil des nationalen Strategieplans für das Gesundheitswesen, der 2014 in Kraft trat. Und sie ist die wichtigste Datenquelle, um politische Maßnahmen auf die tatsächlichen Fallzahlen in der Krankenversicherung abzustimmen. Aus den Daten der Plattform ist auch ein neues Onlinetool entstanden, mit dem Endnutzer nun schneller nach Gesundheitseinrichtungen in ihrer Nähe suchen können oder nach spezialisierten Ärzten und Krankenhäusern für bestimmte Krankheiten.

Die Agentur für Digitalisierung in Italien holte zu Beginn ihres Projekts die Meinungen öffentlicher und privater Körperschaften ein. So deckte sie technische Probleme auf, die anschließend von den IT-Anbietern behoben werden konnten. Dieser offene Dialog brachte auch noch weitere Vorteile mit sich: Letztlich schlossen sich auch Zahlungsdienstleister dem System an, die anfänglich Bedenken hatten, dass ihnen Margen, Marktanteile und Provisionen entgehen würden. Denn das Team der Digitalverantwortlichen machte ihnen begreiflich, dass sie mit dem gemeinsamen Zahlungsprojekt Zugang zu einer viel größeren Nutzergruppe und zu viel mehr Transaktionen erhalten würden. Zuvor wurden nämlich viele Behördenzahlungen über Postämter abgewickelt  – und liefen völlig an den Onlinebezahldiensten vorbei.

Russland ging noch einen Schritt weiter: Es war zuständig für das Forum on Tax Administration (Forum für Steuerverwaltung) der OECD, das 2013 in Moskau stattfand. Die russische Steuerbehörde nutzte dabei die Gelegenheit, sich über bewährte internationale Praktiken zu informieren und präsentierte auch ihr Modernisierungskonzept auf internationaler Bühne.

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Kapitel 4

Rücken Sie den Kunden ins Zentrum

Denken Sie zunächst an alle, die später Ihren Service nutzen werden, bevor sie überlegen, was sie anbieten wollen.

Der öffentliche Sektor neigt dazu, seine Dienste um die eigenen internen Strukturen und Abläufe herum zu gestalten, anstatt schon in der Entwicklungsphase zu fragen: Was brauchen de Nutzer und Bürger überhaupt? Erfolgreiche Digitalisierungsprojekte machen es genau andersherum und verfolgen einen kundenzentrierten Ansatz, so wie die Privatwirtschaft auch. Design Thinking sorgt dafür, dass für den Endnutzer ein reibungsloser Prozess entsteht. Fortschrittliche Organisationen wissen außerdem, dass sie wichtigen Stakeholdern und Mitarbeitern vermitteln müssen, dass die Bedürfnisse der Endverbraucher im Zentrum stehen sollen. Sie müssen sie fortbilden und ihnen Unterstützung anbieten.

In Russland bezog die staatliche Steuerbehörde Fachleute ein, um ihre F & E-Abteilung bei der Optimierung der Benutzeroberfläche zu unterstützen und die Onlineformulare für Steuerzahler zu vereinfachen. Letztlich formierte sich ein Gremium öffentlicher Stakeholder, mit Vertretern der Privatwirtschaft, akademischen Mitarbeitern und NGOs. Das Gremium unterstützt die Steuerbehörde bei ihrer Ausrichtung auf die Nutzer und Bürger. Dabei wurde akribisch erfasst, wie zufrieden die Endnutzer waren und dass sich die Services in die richtige Richtung entwickelten. Die Ausrichtung auf Kundenzufriedenheit wurde verstärkt mit vielen Auswertungen von Kundenkontakten, mit Handbücher und Weiterbildungsprogrammen. So wurde die gesamte Behörde geschult.

Ähnlich kundenzentriert lief es in Spanien bei BiscayTIK. Sie passte Anwendungen so weit an, dass sie zu jeder kommunalen Verwaltung und ihren Diensten passt und auch die Endnutzer anspricht. BiscayTIK richtete das Angebot nach Rückmeldungen vom Kunden-Support so aus, dass es noch benutzerfreundlicher wurde. Außerdem richtete es Supportstellen ein, die Nutzern bei der neuen Art der Behördenkommunikation helfen sollen.

Auch für die italienische Agentur für Digitalisierung hatte Anwenderfreundlichkeit oberste Priorität. PagoPA wurde als Hybridmodell entwickelt, es ermöglicht Bürgern, Unternehmen und gemeinnützigen Verbänden auszuwählen, wie sie Zahlungen an die Behörden leisten wollen  – und wann sie alles völlig online abwickeln wollen. Wichtige Beteiligte wurden auch hier geschult und im Sinne des Programms weitergebildet.

Erwachsenenbildung
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Kapitel 5

Lernen Sie von Querdenkern und Umstürzlern

Von Start-ups zu lernen mag zwar schmerzhaft sein, ist aber gewinnbringend.

Staatliche Behörden arbeiten oft langsam und sehr bürokratisch, weil Prozesse so ablaufen, „wie das bei uns nun mal so gemacht wird“. Erfolgreiche Digitalisierungsteams aber nutzen häufig Methoden von Start-ups und Disruptoren. Für Behörden mag das ungewohnt sein und unangenehm, denn Start-ups arbeiten mit Prototypen, Pilotphasen und führen neue Services erst einmal stufenweise ein. Sie arbeiten nach dem Modell „Versuch und Irrtum“ und sind flexibel genug, um jederzeit eine neue Richtung einzuschlagen, wenn etwas schief läuft. Sie können mit Unsicherheit leben, statt alles im Voraus festzulegen.

Das Digitalteam in den Vereinigten Arabischen Emiraten bewies mehr Unternehmergeist, als es für die Gesundheitsbehörde HAAD üblich war. Als klar wurde, dass der erste Anbieter des neuen elektronischen Gesundheitsportals nicht gut genug war, wagte die HAAD einen riskanten Schritt: Sie ersetze ihn durch ein Start-up. Das junge Unternehmen hatte keinerlei Referenzen vorzuweisen, lieferte aber am Ende sehr viel bessere Ergebnisse. Nicht zuletzt wegen seines unbedingten Willens, Marktanteile zu gewinnen, Herausforderungen zu meistern, an denen der erste Anbieter gescheitert war  – und das Projekt zum Erfolg zu führen.

Auch in Frankreich verfolgte die Arbeitsagentur Pôle Emploi einen pragmatischen Ansatz: Beim Stellenportal für Arbeitssuchende ging es nicht um eine spezifische Digitallösung. Vielmehr sollte sie herausfinden, wie digitale Technologien für mehr Produktivitätssteigerung sorgen könnten. Das war natürlich vage und hieß: Das Projekt würde zu keinem Schlusspunkt wirklich abgeschlossen sein. Der fortlaufende Prozess aber brachte neue und unerwartete Initiativen hervor.

Derweil wurde in Spanien mit BiscayTIK ein erfolgreiches Pilotprojekt eingeführt. Die Plattform wurde 2010 mit fünf Stadtverwaltungen erprobt, die Ergebnisse halfen dann, die Plattform für die nächste Stufe 2011 zu optimieren. Nun wurden 28 Städte eingebunden. Dieses Phasenmodell half außerdem, die Bürger als Nutzer an die neue Plattform zu gewöhnen.

Junge Blickt Meer Vor Himmel
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Kapitel 6

Bereiten Sie sich auf die nächste Etappe vor

Digitalisierung ist kein Ziel, sondern ein langer Weg.

Regierungen, die bereits erfolgreich begonnen haben, die digitale Transformation einzuleiten, wissen: Es gibt dabei kein Ziel am Ende des Horizonts. Stattdessen betrachten sie Innovation als fortlaufenden Prozess, bei dem sich ständig neue Ideen und Chancen ergeben. Verwaltungen und Regierungen sollten bereits jetzt überlegen, welche neue Initiativen sie anschieben können, um in die nächste Digitalisierungsphase einzutreten und dabei neue Technologien zu nutzen wie künstliche Intelligenz, Robotik und Data Analytics. Die Zusammenarbeit mit neuen Partnern wie Softwareentwicklern und Datenexperten kann dabei wichtig und nützlich sein.

Das Beispiel der französischen Arbeitsagentur Pôle Emploi ist ein sehr inspirierendes dafür: Um den Innovationsprozess in Gang zu halten, hat die Agentur die Ideenseite ins Leben gerufen, auf der jeder seine Ideen einbringen und austauschen kann. Aus einem Vorschlag entstand die Webseite Job Store Dev. Sie reicht anonymisierte Daten der Agentur an kreative Entwickler in Start-ups weiter, die daraus neue Anwendungen für Jobsuchende programmieren können. Eine weitere Entwicklung, die den Ideen der Mitarbeiter entsprang war der Dienst „La Bonne Boîte“. Er sagt mithilfe von Algorithmen vorher, welche Betriebe wohl Stellen zu besetzen haben, auch wenn sie noch keine Position ausgeschrieben haben. So können Arbeitssuchende erkennen, welche Unternehmen auf Initiativbewerbungen reagieren werden, das verbessert ihre Chancen auf dem „verdeckten“ Arbeitsmarkt.

In den Vereinigten Arabischen Emiraten hat sich das elektronische Gesundheitsportal als so hilfreich für die Behörde und die allgemeine Verwaltung von Gesundheitsdaten erwiesen, dass sein Aufgabenbereich auf andere Ziele ausgeweitet wurde. Heute ist das Portal ein fester Bestandteil des Abu Dhabi Strategieplans für das Gesundheitswesen, der 2014 ins Leben gerufen wurde. Die Plattform liefert wichtige Daten über die tatsächlichen Fallzahlen von Erkrankungen und Gesundheitsleistungen, darauf können politische Maßnahmen abgestimmt werden. Zudem führten die Portaldaten zur Entwicklung eines Online-Tools, mit dem jeder Bürger medizinische Einrichtungen oder Spezialisten in seiner Nähe findet. Es gibt nicht nur einen Katalog mit Adress- und Kontaktdaten, sondern auch einen Online-Terminservice.

Fazit

Wenn Regierungen und Behörden Digitalprojekte anschieben, dann kann das dazu beitragen, dass sie künftig erfolgreicher abreiten und effizienter. Jenseits des Investments in die IT können sie damit auch ihre Strukturen und Abläufe optimieren. Das bringt zahlreiche wichtige Vorteile mit sich:

  • Bürger fühlen sich besser bedient und betreut, wenn Verwaltungen ihre Dienste verbessern.
  • Die Arbeitszufriedenheit der Mitarbeiter steigt, denn sie erfahren ihren Arbeitsort Verwaltung als wirkungsvoller und sinnstiftender.
  • Behörden können sich auf nationaler und sogar internationaler Ebene profilieren als Vorreiter in digitaler Innovation.
  • Der öffentliche Sektor wird stärker als moderner Arbeitgeber wahrgenommen und wird erheblich attraktiver für junge Talente und Digitalisierungsexperten.

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