Kapitel 1
Schaffen Sie neue Strukturen, um Innovation voranzutreiben
Nur wer Organisationsgrenzen durchbricht, verschafft sich den Freiraum für neue Arbeitsabläufe und Denkweisen.
Behörden sollten erkennen, dass ihre bisherigen Organisationsstrukturen nicht gerade die Digitalisierung beschleunigen. Es fehlt ihnen an Raum, Freiheiten oder der Flexibilität, neue Arbeitsweisen auszuprobieren. Das Wichtigste, um diese Beschränkungen zu überwinden ist, sich nicht durch bestehende Strukturen einschränken zu lassen, sondern selbst neue Abteilungen zu schaffen, die auf die neuen Ziele ausgerichtet sind. Diese Abteilungen könnten den gesamten digitalen Transformationsprozess steuern oder sich nur auf bestimmte Einzelheiten konzentrieren.
Russland setzte diese Strategie erfolgreich um: Die staatliche Steuerbehörde FTS richtete eine Onlineplattform für Steuerzahler ein. Sie lagerte die Bereitstellung der IT sowie die Forschung und Entwicklung aus in ein eigens gegründetes Unternehmen. So vermied die Behörde langwierige und mühsame interne Recruitingprozesse, ebenso wie zähe Verhandlungen mit externen Dienstleistern von wechselnder Qualität. Anders als bei Verträgen mit privaten Anbietern hatte die FTS so die Kontrolle über sämtliche Arbeiten und besitzt außerdem die Rechte an allen Softwaretools.
Derweil stellte Spanien besonders kleine Stadtverwaltungen mit einer Gesetzesänderung 2007 auf eine harte Probe. Mit der Gesetzesnovelle erhielten Bürger das Recht auf den Onlinezugang zu öffentlichen Diensten, was gerade kleine Verwaltungen mit übersichtlichen Budgets und wenig Erfahrung im Digitalbereich zunächst überforderte. Doch die Lösung war: Die Verwaltung der Provinz Bizkaia gründete die unabhängige Stiftung BiscayTIK, die eine neue Digitalplattform entwickelte. Sie kann von Stadtverwaltungen auf ihre jeweiligen Bedürfnisse angepasst werden. Die Plattform dient heute als ein „digitales öffentliches Amt“, 108 Lokalverwaltungen von Bizkaia bieten darüber ihre Onlinedienste für 1,2 Millionen Bürger an.
Kapitel 2
Bilden Sie agile und autonom arbeitende Teams
Teams, die flexibel und nicht-hierarchisch funktionieren, können junge Talente anziehen und neue Ideen umsetzen.
Teams, die den digitalen Wandel am besten umsetzen, besitzen nicht unbedingt die Eigenschaften, die typisch für Mitarbeiter öffentlicher Verwaltungen sind. Meist sind es kleine Teams, die Zugang zu Fachleuten haben und sich flexibel anpassen können. Sie sind nicht hierarchisch organisiert und begrüßen es, wenn Ideen „von unten“ eingebracht werden. Außerdem sind sie agil, sie können blitzschnell entscheiden. Häufig überwinden sie Abteilungs- und Funktionsgrenzen und sie können auch große Veränderungen wagen, weil sie den Rückhalt eines Projektverantwortlichen haben, der in höherer Leitungsebene sitzt.
In Italien etwa musste das Team der Agentur für Digitalisierung (AgID), das an einer neuen digitalen Bezahlplattform für Bürger arbeitete, lediglich den Stakeholder-Gruppen berichten, wie das Projekt in Bezug auf deren jeweilige Interessengebiete voranging. In allen Tagesbelangen konnte es selbst entscheiden und konnte sich so voll auf die Projektarbeit konzentrieren. Vom Projektstart bis zur Pilotphase des PagoPA-Projekts vergingen nur 12 Monate.
Die BiscayTIK-Plattform in Spanien wurde mit einer sehr schlanken Organisationsstruktur aufgesetzt, dadurch gab es einen schnellen Informationsfluss zwischen den Entscheidungsträgern. Das Team konnte viele Probleme dank wöchentlicher Meetings schon vorab erkennen und sie lösen, bevor sie den Gesamtablauf hätten gefährden können.
In Russland arbeitete das Digitalplattformteam mit der vollen Autorität des russischen Bevollmächtigten, er siedelte das Team in einer zentralen Stelle an, eng angebunden an die oberste Führungsebene der Steuerbehörde. In wöchentlichen Meetings mit dem Verantwortlichen und seinen Stellvertretern konnte das Team Entscheidungen und Genehmigungen direkt einholen. Das beschleunigte die Projektumsetzung enorm.
Und in Frankreich machte der Leiter der Arbeitsagentur, der Pôle Emploi, seinen Mitarbeitern klar, dass er ihre Erfahrungen nutzen wolle. Schließlich hätten sie direkten Kontakt sowohl mit dem System als auch mit den Klienten. Eine interne Website wurde erstellt – Innov’Action –, um Anregungen und Ideen der Mitarbeiter einzuholen, wie die Agentur ihr Angebot für Arbeitssuchende verbessern könnte. Mit diesem partizipativen Ansatz sammelte die Website mehr als 4.000 Vorschläge ein. Das veranlasste das Team schließlich, den Blick noch stärker zu weiten und in einem Crowdsourcing-Prozess weitere Ideen von externen Organisationen einzuholen.
Kapitel 3
Arbeiten Sie mit externen Behörden und Stakeholdern zusammen
Teams verstehen die Herausforderungen besser, wenn sie auch Ratschläge von weit entfernten Beteiligten einholen.
Erfolgreiche Projektteams wissen, dass sie selbst nicht alle Antworten kennen. Stattdessen holen sie viele Meinungen und Ratschläge auch von externen Stakeholdern ein, die für ein Projekt wichtig sein könnten. Sie setzen alles daran, über den Tellerrand der eigenen Organisation zu blicken, und arbeiten auch gern mit Dritten zusammen, von denen sie sich neue Sichtweisen erhoffen. Dieser Blick nach außen hilft, sich nicht selbst als den Nabel der Welt zu betrachten. Oft denken Organisationen nämlich, ihre eigene digitale Transformation sei so einzigartig, dass sie dabei nichts von anderen abschauen könnten.
Vor allem Frankreich machte vor, was gute Zusammenarbeit bewirkt: Dort suchte die Behörde Pôle Emploi für ihre Plattform für Arbeitssuchende bewusst den Kontakt zu existierenden Stellenbörsen, die auch maßgeblich am Erfolg des Projekts beteiligt waren. Einige dieser Stellenbörsen fürchteten zwar, die Arbeitssuchenden würden später nicht mehr ihre Seiten besuchen, wodurch ihre Besucherzahlen und Einnahmen sinken würden. Doch die Projektteams nahmen sich Zeit, um diese Bedenken zu zerstreuen und Kooperationsverträge auszuhandeln. Am Ende unterschrieben 83 Kooperationspartner und die Plattform postete 2015 über fünf Millionen Stellenangebote.
Auch ein Projekt der Gesundheitsbehörde in Abu Dhabi (HAAD) zeigt, was aus der Zusammenarbeit mit externen Partnern erwachsen kann. Dort werden auf elektronischem Wege Forderungen bei der Behörde eingereicht (e-claims), um das Krankenversicherungssystem zu verbessern. Die Gesundheitsbehörde lud externe Stakeholder ein, sich an der Gestaltung der Plattform zu beteiligen, zum Beispiel öffentliche Krankenhäuser und staatliche Versicherungsunternehmen. Gemeinsam konnten die Systemfehler aufgedeckt werden, die dazu geführt hatten, dass Papierformulare erst nach zweijähriger Wartezeit bearbeitet wurden.
Die Agentur für Digitalisierung in Italien holte zu Beginn ihres Projekts die Meinungen öffentlicher und privater Körperschaften ein. So deckte sie technische Probleme auf, die anschließend von den IT-Anbietern behoben werden konnten. Dieser offene Dialog brachte auch noch weitere Vorteile mit sich: Letztlich schlossen sich auch Zahlungsdienstleister dem System an, die anfänglich Bedenken hatten, dass ihnen Margen, Marktanteile und Provisionen entgehen würden. Denn das Team der Digitalverantwortlichen machte ihnen begreiflich, dass sie mit dem gemeinsamen Zahlungsprojekt Zugang zu einer viel größeren Nutzergruppe und zu viel mehr Transaktionen erhalten würden. Zuvor wurden nämlich viele Behördenzahlungen über Postämter abgewickelt – und liefen völlig an den Onlinebezahldiensten vorbei.
Russland ging noch einen Schritt weiter: Es war zuständig für das Forum on Tax Administration (Forum für Steuerverwaltung) der OECD, das 2013 in Moskau stattfand. Die russische Steuerbehörde nutzte dabei die Gelegenheit, sich über bewährte internationale Praktiken zu informieren und präsentierte auch ihr Modernisierungskonzept auf internationaler Bühne.
Kapitel 4
Rücken Sie den Kunden ins Zentrum
Denken Sie zunächst an alle, die später Ihren Service nutzen werden, bevor sie überlegen, was sie anbieten wollen.
Der öffentliche Sektor neigt dazu, seine Dienste um die eigenen internen Strukturen und Abläufe herum zu gestalten, anstatt schon in der Entwicklungsphase zu fragen: Was brauchen de Nutzer und Bürger überhaupt? Erfolgreiche Digitalisierungsprojekte machen es genau andersherum und verfolgen einen kundenzentrierten Ansatz, so wie die Privatwirtschaft auch. Design Thinking sorgt dafür, dass für den Endnutzer ein reibungsloser Prozess entsteht. Fortschrittliche Organisationen wissen außerdem, dass sie wichtigen Stakeholdern und Mitarbeitern vermitteln müssen, dass die Bedürfnisse der Endverbraucher im Zentrum stehen sollen. Sie müssen sie fortbilden und ihnen Unterstützung anbieten.
In Russland bezog die staatliche Steuerbehörde Fachleute ein, um ihre F & E-Abteilung bei der Optimierung der Benutzeroberfläche zu unterstützen und die Onlineformulare für Steuerzahler zu vereinfachen. Letztlich formierte sich ein Gremium öffentlicher Stakeholder, mit Vertretern der Privatwirtschaft, akademischen Mitarbeitern und NGOs. Das Gremium unterstützt die Steuerbehörde bei ihrer Ausrichtung auf die Nutzer und Bürger. Dabei wurde akribisch erfasst, wie zufrieden die Endnutzer waren und dass sich die Services in die richtige Richtung entwickelten. Die Ausrichtung auf Kundenzufriedenheit wurde verstärkt mit vielen Auswertungen von Kundenkontakten, mit Handbücher und Weiterbildungsprogrammen. So wurde die gesamte Behörde geschult.
Ähnlich kundenzentriert lief es in Spanien bei BiscayTIK. Sie passte Anwendungen so weit an, dass sie zu jeder kommunalen Verwaltung und ihren Diensten passt und auch die Endnutzer anspricht. BiscayTIK richtete das Angebot nach Rückmeldungen vom Kunden-Support so aus, dass es noch benutzerfreundlicher wurde. Außerdem richtete es Supportstellen ein, die Nutzern bei der neuen Art der Behördenkommunikation helfen sollen.
Auch für die italienische Agentur für Digitalisierung hatte Anwenderfreundlichkeit oberste Priorität. PagoPA wurde als Hybridmodell entwickelt, es ermöglicht Bürgern, Unternehmen und gemeinnützigen Verbänden auszuwählen, wie sie Zahlungen an die Behörden leisten wollen – und wann sie alles völlig online abwickeln wollen. Wichtige Beteiligte wurden auch hier geschult und im Sinne des Programms weitergebildet.
Kapitel 5
Lernen Sie von Querdenkern und Umstürzlern
Von Start-ups zu lernen mag zwar schmerzhaft sein, ist aber gewinnbringend.
Staatliche Behörden arbeiten oft langsam und sehr bürokratisch, weil Prozesse so ablaufen, „wie das bei uns nun mal so gemacht wird“. Erfolgreiche Digitalisierungsteams aber nutzen häufig Methoden von Start-ups und Disruptoren. Für Behörden mag das ungewohnt sein und unangenehm, denn Start-ups arbeiten mit Prototypen, Pilotphasen und führen neue Services erst einmal stufenweise ein. Sie arbeiten nach dem Modell „Versuch und Irrtum“ und sind flexibel genug, um jederzeit eine neue Richtung einzuschlagen, wenn etwas schief läuft. Sie können mit Unsicherheit leben, statt alles im Voraus festzulegen.
Das Digitalteam in den Vereinigten Arabischen Emiraten bewies mehr Unternehmergeist, als es für die Gesundheitsbehörde HAAD üblich war. Als klar wurde, dass der erste Anbieter des neuen elektronischen Gesundheitsportals nicht gut genug war, wagte die HAAD einen riskanten Schritt: Sie ersetze ihn durch ein Start-up. Das junge Unternehmen hatte keinerlei Referenzen vorzuweisen, lieferte aber am Ende sehr viel bessere Ergebnisse. Nicht zuletzt wegen seines unbedingten Willens, Marktanteile zu gewinnen, Herausforderungen zu meistern, an denen der erste Anbieter gescheitert war – und das Projekt zum Erfolg zu führen.
Auch in Frankreich verfolgte die Arbeitsagentur Pôle Emploi einen pragmatischen Ansatz: Beim Stellenportal für Arbeitssuchende ging es nicht um eine spezifische Digitallösung. Vielmehr sollte sie herausfinden, wie digitale Technologien für mehr Produktivitätssteigerung sorgen könnten. Das war natürlich vage und hieß: Das Projekt würde zu keinem Schlusspunkt wirklich abgeschlossen sein. Der fortlaufende Prozess aber brachte neue und unerwartete Initiativen hervor.
Derweil wurde in Spanien mit BiscayTIK ein erfolgreiches Pilotprojekt eingeführt. Die Plattform wurde 2010 mit fünf Stadtverwaltungen erprobt, die Ergebnisse halfen dann, die Plattform für die nächste Stufe 2011 zu optimieren. Nun wurden 28 Städte eingebunden. Dieses Phasenmodell half außerdem, die Bürger als Nutzer an die neue Plattform zu gewöhnen.
Kapitel 6
Bereiten Sie sich auf die nächste Etappe vor
Digitalisierung ist kein Ziel, sondern ein langer Weg.
Regierungen, die bereits erfolgreich begonnen haben, die digitale Transformation einzuleiten, wissen: Es gibt dabei kein Ziel am Ende des Horizonts. Stattdessen betrachten sie Innovation als fortlaufenden Prozess, bei dem sich ständig neue Ideen und Chancen ergeben. Verwaltungen und Regierungen sollten bereits jetzt überlegen, welche neue Initiativen sie anschieben können, um in die nächste Digitalisierungsphase einzutreten und dabei neue Technologien zu nutzen wie künstliche Intelligenz, Robotik und Data Analytics. Die Zusammenarbeit mit neuen Partnern wie Softwareentwicklern und Datenexperten kann dabei wichtig und nützlich sein.
Das Beispiel der französischen Arbeitsagentur Pôle Emploi ist ein sehr inspirierendes dafür: Um den Innovationsprozess in Gang zu halten, hat die Agentur die Ideenseite ins Leben gerufen, auf der jeder seine Ideen einbringen und austauschen kann. Aus einem Vorschlag entstand die Webseite Job Store Dev. Sie reicht anonymisierte Daten der Agentur an kreative Entwickler in Start-ups weiter, die daraus neue Anwendungen für Jobsuchende programmieren können. Eine weitere Entwicklung, die den Ideen der Mitarbeiter entsprang war der Dienst „La Bonne Boîte“. Er sagt mithilfe von Algorithmen vorher, welche Betriebe wohl Stellen zu besetzen haben, auch wenn sie noch keine Position ausgeschrieben haben. So können Arbeitssuchende erkennen, welche Unternehmen auf Initiativbewerbungen reagieren werden, das verbessert ihre Chancen auf dem „verdeckten“ Arbeitsmarkt.
In den Vereinigten Arabischen Emiraten hat sich das elektronische Gesundheitsportal als so hilfreich für die Behörde und die allgemeine Verwaltung von Gesundheitsdaten erwiesen, dass sein Aufgabenbereich auf andere Ziele ausgeweitet wurde. Heute ist das Portal ein fester Bestandteil des Abu Dhabi Strategieplans für das Gesundheitswesen, der 2014 ins Leben gerufen wurde. Die Plattform liefert wichtige Daten über die tatsächlichen Fallzahlen von Erkrankungen und Gesundheitsleistungen, darauf können politische Maßnahmen abgestimmt werden. Zudem führten die Portaldaten zur Entwicklung eines Online-Tools, mit dem jeder Bürger medizinische Einrichtungen oder Spezialisten in seiner Nähe findet. Es gibt nicht nur einen Katalog mit Adress- und Kontaktdaten, sondern auch einen Online-Terminservice.
Fazit
Wenn Regierungen und Behörden Digitalprojekte anschieben, dann kann das dazu beitragen, dass sie künftig erfolgreicher abreiten und effizienter. Jenseits des Investments in die IT können sie damit auch ihre Strukturen und Abläufe optimieren. Das bringt zahlreiche wichtige Vorteile mit sich:
- Bürger fühlen sich besser bedient und betreut, wenn Verwaltungen ihre Dienste verbessern.
- Die Arbeitszufriedenheit der Mitarbeiter steigt, denn sie erfahren ihren Arbeitsort Verwaltung als wirkungsvoller und sinnstiftender.
- Behörden können sich auf nationaler und sogar internationaler Ebene profilieren als Vorreiter in digitaler Innovation.
- Der öffentliche Sektor wird stärker als moderner Arbeitgeber wahrgenommen und wird erheblich attraktiver für junge Talente und Digitalisierungsexperten.