Welche Rolle spielt die Stadt, wenn Einwohner Mobilität selbst steuern?

Autoren
George Atalla

EY Global Government & Public Sector Leader

Working with governments to address complex issues and build a better working world.

John Simlett

EY Global Future of Mobility Leader

All things mobility. Innovative thinker. Entrepreneurial mindset. Strategic partner and consultant for the auto and transport industries.

8 Minuten Lesezeit 12 September 2019

Die urbane Mobilität verändert sich. Dank Megatrends wie Digitalisierung und Urbanisierung übernehmen die Bürger dabei das Steuer.

Urbane Verkehrsnetze sind seit jeher das wirtschaftliche und soziale Lebenselixier einer Stadt. Sie befördern Millionen von Menschen von und zur Arbeit, zu Events und zu kulturellen Einrichtungen. Sie transportieren Waren und Abfall. Und wenn sie schnell, effizient und für alle zugänglich sind, verbessern sie die Qualität und die soziale Gleichheit des urbanen Lebens.

Doch im gleichen Maße, wie Städte wachsen, nehmen auch die Bedürfnisse und Erwartungen der Menschen zu, die dort leben – und Verkehrssysteme und Infrastrukturen kämpfen damit, Schritt zu halten. Daher haben Menschen, die am Stadtrand wohnen, oft keinen Zugang zu den wirtschaftlichen Möglichkeiten im Stadtzentrum. Außerdem sind Verkehrsnetze zunehmend Kostenfaktor statt Vorteil.

Städte auf der ganzen Welt stellen sich dieser Herausforderung. Autos und Dieselbusse weichen vernetzten autonomen Fahrzeugen und Rollern. Services wie Ride Sharing und elektrische Straßenbahnen verbessern immer öfter das Mobilitätsangebot in Randlagen. 

Städte müssen noch viel mehr tun, um eine zukunftsfähige Mobilität zu bieten, die auch fit ist für die kommenden Jahrzehnte.

Doch diese Verbesserungen reichen nicht aus, um die Nachfrage zu decken. Städte müssen noch viel mehr tun, um eine zukunftsfähige Mobilität zu bieten, die auch fit ist für die kommenden Jahrzehnte.

Was die urbane Mobilität prägt

Vier Faktoren treiben die Verkehrsrevolution in den Städten voran – und steigern die Erwartungen der Bewohner.

1. Der Aufstieg von Megacities und Megaregionen

1950 gab es auf der Welt zwei Städte mit mehr als 10 Millionen Einwohnern. Im Jahr 2030 werden es laut Schätzungen 53 sein.

Diese Megacities verschmelzen zudem zu Megaregionen. Das Pearl River Delta (Region Hongkong-Shenzhen-Guangzhou) in China hat eine Gesamtbevölkerung von 120 Millionen Menschen. Und Städte wie Tokio, Istanbul, São Paulo, Delhi und New York City sind Ankerpunkte von Megaregionen mit einer Bevölkerung im zweistelligen Millionenbereich.

Dieses Wachstum führt zu Problemen wie der Zersiedelung. Randgebiete sind billiger und werden deshalb meist von Menschen mit geringerem Einkommen bewohnt. Doch die beschränkte Verkehrsanbindung macht es ihnen schwer, Jobs im Stadtzentrum anzunehmen – was die Einkommensungleichheit noch weiter verstärkt. Mehr Menschen bedeuten auch mehr Fahrzeuge und mehr Umweltverschmutzung, was Städte weniger lebenswert macht.

2. Digitale Vernetzung

Technologien wie 4G und das Internet of Things haben die Art und Weise grundlegend verändert, wie Menschen, Waren, Ressourcen und Wissen bewegt werden. So bildet die digitale Vernetzung nun das Fundament unserer Städte – und ihre Rolle wird zunehmend an Bedeutung gewinnen.

Zur nächsten Stufe dieser Evolution gehören 5G-Netzwerke, Künstliche Intelligenz und Telematik (Fahrzeug-Tracking und Geolokalisierung von Daten). Dies wird den Weg für vernetzte autonome Fahrzeuge und eine drohnengestützte Logistik bereiten, die sich jeweils auf eine smarte, vernetzte Infrastruktur stützen. Einige Städte sind bereits soweit: Shanghai setzt als eine der ersten auf 5G für sein intelligentes Fahrzeugnetz, das bis 2020 eine Länge von 100 Kilometern umfassen soll.

Diese Hypervernetzung erlaubt es den Einwohnern, sich nahtlos in der Stadt zu bewegen (vorausgesetzt, dass sie alle Zugang zu diesen neuen Netzwerken haben).

3. Die Forderung nach mehr Nachhaltigkeit

Städte verbrauchen mehr als zwei Drittel der weltweit erzeugten Energie und sind für mehr als 70 Prozent der globalen CO2-Emissionen verantwortlich. Und je weiter die Einwohnerzahlen steigen, desto höher werden diese Werte.

Der Klimawandel macht Städte zudem anfälliger für akute Bedrohungen wie Erdbeben oder Flutwellen. Bürgermeister und Stadtoberhäupter widmen sich diesen Bedrohungen sowie den globalen Klima- und Entwicklungszielen, indem sie der Mobilität oberste Priorität in ihren Nachhaltigkeitsplänen einräumen.

Außerdem verabschieden sie Null-Emissions-Pläne und Ziele für erneuerbare Energien. Kopenhagen ist beispielsweise auf dem besten Weg, 2025 zur ersten CO2-neutralen Hauptstadt zu werden. Um dies zu erreichen, hat die dänische Hauptstadt unterschiedlichste Mobilitätsinitiativen ins Leben gerufen, zum Beispiel einen CO2-neutralen öffentlichen Nahverkehr und eine Infrastruktur für Micro-Mobility. (z. B. E-Scooter und Fahrräder).

4. Grüne, vernetzte, geteilte und autonome Fahrzeuge

Autos und Busse mit Benzin- oder Dieselantrieb sind traditionell die tragende Säule der urbanen Mobilität. Doch technologische Innovationen, der Klimawandel und neue Verbraucherpräferenzen haben elektrische und CO2-arme Fahrzeuge und Busse auf den Massenmarkt gebracht. (Die Bürgermeister von 26 Großstädten haben sich beispielsweise dazu verpflichtet, bis 2025 eine Flotte emissionsfreier Busse anzuschaffen und zu unterhalten.)

Vernetzte autonome Elektrofahrzeuge stehen ebenfalls schon in den Startlöchern. Stand September 2018: bereits 46 Unternehmen entwickeln autonome Fahrzeuge. Und die Sharing Economy, die Mikromobilität und neue Versicherungsmodelle haben dafür gesorgt, dass die Menschen ihre Autos zugunsten zuverlässiger Alternativen austauschen. Diese Veränderungen führen in eine Zukunft mit nur sehr wenigen oder gar keinen Autos, in der sich die Fußgänger das Zentrum zurückerobern und Parkplätze zu Gemeinschaftsorten werden.

Mobility-as-a-Service entwickelt sich zum führenden Ansatz

Der Mobility-as-a-Service (MaaS)-Ansatz erlaubt es den Einwohnern, nach ihren individuellen Wünschen eine beliebige Kombination an verfügbaren Optionen anzusehen und auszuwählen. Dazu gehören Ride Sharing, Ride Hailing und Micro-Mobility.

Helsinki ist hier schon einen Schritt weiter. Um Privatautos bis 2025 überflüssig zu machen, hat die finnische Hauptstadt alle ihre Transportmöglichkeiten, inklusive günstiger Taxis, Fahrräder und Mietwagen, in einem einzigen MaaS-Service zusammengefasst. So können die Einwohner die verfügbaren Optionen über die Whim-App nicht nur sehen, sondern sie auch darüber buchen und bezahlen.

Städte nutzen MaaS-Technologien auch, um Teilhabe an wirtschaftlichen Möglichkeiten zu bieten. In Los Angeles arbeitet die Metro mit Via zusammen, um Einwohnern mit niedrigem Einkommen und Rentnern einen erschwinglichen Zugang zu drei großen Stationen zu bieten. Bürger greifen über eine Smartphone-App auf den subventionierten Ride Sharing-Dienst zu oder nutzen eine kostenlose, aufladbare Fahrkarte, sollten sie kein Telefon haben.

Vier Möglichkeiten, wie Städte die Mobilität der nächsten Generation umsetzen können

Um die Antriebskräfte anzugehen, die die urbane Mobilität prägen, müssen Stadtoberhäupter unserer Ansicht nach vier Dinge tun.

1. Verbesserung des Zugangs und der Nutzererfahrung für alle

Städte müssen dafür sorgen, dass Bürger einen maximalen Mehrwert aus dem Mobilitätsangebot ziehen können. Da digitale Technologien oft die Kosten senken, besteht dieser Mehrwert zunehmend in einer großartigen Nutzererfahrung.

Dafür müssen Städte ihren Bürgern eine breite Auswahl an Optionen bieten – die allesamt schnell, sicher, nachhaltig und personalisierbar sind. Auch müssen sie die Verkehrsanbindung verbessern, damit einkommensschwache, marginalisierte Menschen Arbeitsplätze, Bildungseinrichtungen und soziale Aktivitäten erreichen können.  

Sydney hat das Transit-Erlebnis völlig neu aufgestellt, indem es Echtzeitinformationen zur Verfügung stellt und die Leistung mittels Analysen verbessert. Die Stadt hat zur Verbesserung der Nutzererfahrung auch auf verhaltensökonomische Erkenntnisse zurückgegriffen – etwa, indem Pendler per Smartphone-App bezahlen können. Und in Indonesien nutzt Jakarta Echtzeitdaten und Analysen des Expressbus-Transit-Systems Transjakarta, um die effektivsten Routen zu berechnen. Diese Informationen werden anschließend dazu verwendet, die Leistung und die Fahrgastzufriedenheit zu verbessern.

Unterdessen hat die Stadt Medellin in Kolumbien Seilbahnen gebaut, die die Favelas in den Hügeln mit Arbeitsplätzen in der Innenstadt verbinden. Das Seilbahn-System hat Anschluss an andere Transportmittel wie U-Bahnlinien, Stadtbahnen und Busse.

Eine einstmals radikale Idee – kostenfreier oder kostenreduzierter Nahverkehr – wird immer alltäglicher. Estlands Hauptstand Tallinn ist die bisher größte Stadt der Welt mit einem kostenfreien Nahverkehrssystem.

2. Regulieren, ohne Innovationen zu behindern

Moderne, urbane Verkehrsnetze beziehen viele unterschiedliche private und öffentliche Betreiber mit ein. Um die verfügbaren Optionen optimal zu nutzen, brauchen Städte einen Governance- und Regulierungsrahmen, der es ihnen erlaubt, neue Geschäftsmodelle und vielversprechende Verkehrsmittel zu entwickeln und umzusetzen. Und das bei gleichzeitigem Schutz der öffentlichen Sicherheit. In den Anfangsjahren des Ride Sharings haben sie gelernt, Regulierungen aktiv, nicht reaktiv zu entwickeln. Sie müssen regulatorische „Sandkästen“ zur Verfügung stellen, also flexible Regeln, die sich im Laufe der Zeit entwickeln, um neue Unternehmungen zu unterstützen.

Ein Beispiel für eine funktionierende Regulierung liefert die Greater Washington DC Partnership in den USA. Hier haben Unternehmensverantwortliche einen leistungsbasierten Rechtsrahmen entwickelt. Dieser regt Teilnehmer dazu an, Daten zu managen und Best Practices sowie gemeinsame Mobilitätsstandards zu integrieren. Dies mag keine endgültige Antwort sein, doch es ist ein Schritt in Richtung vernünftiger Regulierung, die Innovation fördert.

3. Zusammenarbeit mit der Privatwirtschaft bei der Entwicklung von Verkehrsnetzen der nächsten Generation

Von vernetzten Bussen bis hin zu autonomen Fahrzeugen entstehen ständig neue Transportmöglichkeiten. Und keine einzige Instanz, ob Regierung, Unternehmen oder Verkehrsanbieter, kann sie alleine entwickeln.

Städte müssen eng mit der Privatwirtschaft zusammenarbeiten, um neue Möglichkeiten zu untersuchen und zu entwickeln. In Großbritannien arbeitet Transport for London mit Bosch an einem 18-monatigen Mobilitäts-Pilotprojekt. Hier werden Daten und technisches Know-how kombiniert, um kleinen Unternehmen und Start-ups bei der Entwicklung innovativer Transportlösungen für die Region zu helfen.

Letztendlich wird sich die Rolle der Stadt vom traditionellen „Command and Control“-Modell abwenden, in dem es um Planung, Finanzierung und Betrieb geht. Stattdessen wird die Stadt zum Operations-Manager, der sich auf den Wettbewerb, Technologien, Regulierung und die Standardisierung konzentriert. Als Antwort auf diesen Wandel setzen Städte wie Los Angeles, München und Stockholm auf Mobility Labs, in denen sie mit neuen Möglichkeiten zur Entwicklung und Steuerung urbaner Mobilität experimentieren.

4. Mobilität als Teil der übergeordneten Stadtpolitik

Die jüngsten Proteste in Paris haben gezeigt, dass Mobilität nicht in einem Vakuum existiert. Die Regierung hatte ein hehres Ziel – sie wollte die Menschen ermutigen, ihr Auto stehen zu lassen. Dafür erhöhte sie die CO2- und Dieselabgaben. Doch sie dachte nicht daran, welche Auswirkungen ihre Politik auf die Menschen haben würde.

Um solche Szenarien zu vermeiden, müssen Städte Mobilität mit anderen politischen Themen verknüpfen, etwa inklusives Wachstum, Nachhaltigkeit, Arbeit und Wohnraum. Und sie müssen sicherstellen, dass diese Politik sozial und inklusiv ist.

Das bedeutet, im Vorfeld zu bestimmen, wie sich Reformen finanzieren lassen und welche Auswirkungen sie möglicherweise haben. Und es bedeutet auch, Ziele festzulegen und Ergebnisse zu messen. Bogota, Johannesburg und Dutzende andere Städte haben beispielsweise Nachhaltigkeitspläne veröffentlicht, die die Emissionssenkung im Verkehr an andere Prioritäten der Stadt knüpft.

Eine clevere Entscheidung für die Zukunft

Städte brauchen starke Mobilitätsinitiativen, um die vor ihnen liegenden Herausforderungen zu bewältigen. Doch sie benötigen diese auch, um eine ohnehin schwierige Situation nicht noch weiter zu verschlimmern. Werden beispielsweise verkehrstechnisch tote Zonen nicht in Angriff genommen, sobald die Stadt wächst, führt dies zu noch mehr Ungleichheit.

Andererseits können Städte, die den obigen Ratschlägen folgen, ihre Mobilitätsanforderungen auf skalierbare und nachhaltige Art und Weise erfüllen. Das wiederum bedeutet, dass sie auf eine Art wachsen können, die alle einschließt, – und dass sie für Menschen, Investoren und Unternehmen attraktiver werden.

Glücklicherweise gibt es viele neue Technologien, die dabei helfen können. Um ihre Macht zu nutzen, müssen Städte mit neuen Ansätzen experimentieren, während sie das Alte verwalten. Und sie müssen vom Planer und Anbieter von Dienstleistungen zum Schöpfer einer Umgebung werden, in der intelligente, inklusive Mobilität gedeihen kann.

Städte, die diese Rolle beständig weiterentwickeln, halten ihre wachsende Bevölkerung in Bewegung – und meistern eine der größten urbanen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts.

Fazit

Urbane Verkehrsnetze tun sich schwer, mit einer wachsenden Anzahl an Nutzern – und dem Service, den diese erwarten, – Schritt zu halten. Um diese Herausforderungen zu bewältigen, müssen Städte ihre Rolle weiterentwickeln und sich auf eine komplexe Zukunft vorbereiten. 

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George Atalla

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