Wenn Bots für uns einkaufen, wo liegt dann der Mehrwert des Shopping-Erlebnisses?

Von Helen Merriott

EY UK&I Consumer Industries Advisory Leader

Army Reserves Officer. Chartered Engineer. Mother of three boys.

6 Minuten Lesezeit 16 Mai 2018

Verbraucher werden bald nur noch selbst kaufen, was sie zum Ausdruck ihrer Persönlichkeit brauchen. Was bedeutet das für den Einzelhandel?

Die Wörter „Einkaufen“ und „Shopping“ werden häufig synonym verwendet. Wobei letzteres im Deutschen mit einem höheren Genuss konnotiert ist. Dieser Unterschied wird sich künftig noch verstärken: Einkaufen und Shopping werden zwei vollkommen unterschiedliche Aktivitäten sein. Der Einkauf wird zum notwendigen Übel, auf das wir möglichst wenig Zeit verwenden. Shopping hingegen wird zu einem umfassenden Erlebnis, dem wir bewusst Zeit widmen; zu einem Raum, in dem wir mit den Marken interagieren, die unsere Werte widerspiegeln und sich wie ein Teil unseres Selbst anfühlen.

Dies ist der Ausgangspunkt für unsere Hypothese zur Zukunft des Einzelhandels, die wir auf Basis der Erkenntnisse unseres Future Consumer.Now Programms entwickelt haben. Lesen Sie weiter, um zu erfahren, wie diese Hypothese Wirklichkeit werden könnte und was dies für Consumer Brands und Einzelhändler bedeutet.

  • Über Future Consumer.Now

    Future Consumer.Now ist ein EY-Programm, das Führungskräfte dabei unterstützt, ihre Unternehmen für eine völlig andere Zukunft der Verbraucher fit zu machen. Mithilfe von weltweiten Untersuchungen und Interviews mit Innovatoren, Zukunftsforschern, Persönlichkeiten aus der Wirtschaft und EY-Experten haben wir mehr als 150 Antriebsfaktoren für den Wandel identifiziert, die den Konsum der Zukunft prägen könnten. Auf Basis dieser Faktoren haben wir acht tragfähige Hypothesen entwickelt, von denen jede auf einen bestimmten Schlüsselfaktor des Konsumenten der Zukunft abzielt: Wie werden Menschen shoppen, essen und gesund bleiben. Wie werden sie arbeiten, leben, spielen und sich fortbewegen? Welche Technologien werden sie nutzen? Anschließend haben wir eine Reihe innovativer Hackweeks auf der ganzen Welt durchgeführt, um diese Hypothesen weiter auszuarbeiten und Zukunftsmodelle zu entwerfen, die aus ihnen entstehen könnten.

Einkaufen und Shopping driften auseinander

Der Einkauf wird als langweilig empfunden – zumindest für den Verbraucher. Die sprachgesteuerten Assistenten, die schon heute auf vielen Küchenarbeitsplatten stehen, werden sich zu hochintelligenten Concierge-Services und Smart-Home-Systemen entwickeln. Verbunden mit dem Internet der Dinge (IoT), wird die KI-Plattform unserer Wahl als Zugang zu neuen Einkaufsökosystemen fungieren.

Wir werden es zunehmend der KI überlassen, gewöhnliche Käufe auszuführen, vor allem von Produkten des täglichen Bedarfs. Unser Bot wird eine Auswahl für uns treffen und in unserem Namen einkaufen – sofern wir ihm dazu die Erlaubnis erteilen und ihm Zugriff auf unsere Daten gewähren. Der Bot wird prüfen, welche Produkte oder Dienstleistungen wir benötigen, wann wir sie brauchen und wo man sie am besten kaufen kann. Dabei geht es nicht nur um den richtigen Preis, sondern auch um Marken und Lieferanten, die zu unseren Wertvorstellungen passen.

Mit steigender Verbreitung des KI-Einkaufs werden Transaktionen, Zahlungen, Auftragsabwicklungen und Marken zunehmend unmittelbarer. Dadurch werden zahlreiche Bereiche des Einzelhandels standardisiert. Je mehr Beziehungen in einem KI-Ökosystem entstehen, je mehr Transaktionen verarbeitet, je mehr Daten gesammelt und analysiert werden, desto intelligenter werden diese Plattformen.

KI wird unsere Präferenzen voraussagen

KI-Bots werden unser Verhalten auf eine Art und Weise voraussagen, die unser Leben bereichert.

Ihre Interaktionen werden weit über das Kunden-Marken-Verhältnis hinaus reichen: Sie werden uns mit den KI von Freunden, Familie und Bekannten verbinden, Marken mit anderen Marken vernetzen und Teil der jeweiligen Wertschöpfungskette werden.

Mit der Zeit wird sich Kundenbindung immer stärker auf eine Handvoll Produkte und Dienstleistungen reduzieren. Wir trennen uns gedanklich von den meisten Produkten und Dienstleistungen, die wir kaufen. Marken werden sich klar abgrenzen müssen oder riskieren, gesichtsloser Teil des Massenmarkts zu werden. Gleichzeitig wird die Markenbindung bei Dingen, die wir lieben, umso stärker. Das beschränkt sich nicht nur auf Luxusmarken oder teure Image-Produkte. Es bezieht sich auch auf Marken, die wir aus anderen Gründen schätzen – zum Beispiel, weil sie unsere ethischen Maßstäbe erfüllen oder weil sie dafür sorgen, dass wir uns auf der Schnäppchenjagd wie bei einer Schatzsuche fühlen. Die Hyper-Engagement-Brands sind die einzigen, die wir aktiv shoppen oder mit denen wir aktiv shoppen werden. Denn sie helfen uns, unsere Identität auszudrücken und zu formen.

Die Shoppingerfahrung der Zukunft muss eine hochgradig bewusste und erlebnisorientierte Aktivität sein. Sie wird an realen und virtuellen Orten stattfinden, die besonders ausdifferenzierte und für den Verbraucher relevante Waren und Dienstleistungen anbieten. Die Anforderungen an Verkäufer werden sich gen Expertise und Erlebnis verschieben. Erfolgreiche Einzelhändler werden ihre eigenen Produkte und Dienstleistungen herstellen. Die wichtigsten Einnahmequellen werden in der Produktion und den dazugehörigen Dienstleistungen entstehen, nicht im Vertrieb.

Der Einzelhandel verändert sich

Die Infrastruktur des Einzelhandels wird sich drastisch ändern. Im 20. Jahrhundert wurden diese Strukturen um das Auto, hochfrequentierte Standorte und die massenmediale Werbung herum organisiert.

Im 21. Jahrhundert organisiert sich das Kaufen um KI, Stimmaktivierung, Mobilität und automatisierte Liefertechnologien wie Drohnen und selbstfahrende Autos.

Statt ein Wettbewerbsvorteil zu sein, wird sich die schnelle Lieferung zur grundsätzlichen Kundenerwartung entwickeln.

Immer mehr Consumer Brands werden Direct-to-Customer-Strategien verfolgen. Gleichzeitig werden Einzelhändler zunehmend auf Eigenmarken setzen und vertikale Verbesserungen ihrer Services anstreben. Das könnte sich zum Beispiel in logistischen Lösungen äußern, die das Vertriebsnetzwerk stabilisieren. Oder durch die Integration von Medien und Technologien, um die Verbraucher in ein größeres Ökosystem einzubinden.

Aufgrund dieser Entwicklungen werden sich zunehmend kleinere, agile und branchenübergreifende Marktteilnehmer etablieren, die auf die sich verändernden Einstellungen beim Konsumenten sofort reagieren können. Die Marken- und Store-Portfolios großer Einzelhändler und Consumer Brands werden zunehmend in der Bedeutungslosigkeit verschwinden, da sie neuen Marken und Technologien durch ihre Unfähigkeit zur schnellen Anpassung und Restrukturierung nichts entgegenzusetzen haben. Andererseits schlagen sie zurück, indem sie eigene Angebote entwickeln und bei der Wertschöpfung branchenübergreifend denken: Durch passende E-Commerce-Angebote könnten Flugreisende zum Beispiel noch im Flugzeug Lebensmittel nach Hause bestellen, um nicht zu einem leeren Kühlschrank heimzukehren.

Das Spielfeld wählen

Da sich viele Branchen um den neuen Konsumenten herum aufstellen, müssen Einzelhändler sich entscheiden, wo sie sich positionieren wollen.

Datenanalyse, digitale Medien, Logistik und Technologien werden zentrale Schlachtfelder bei der Entscheidung sein, in welchem Ökosystem der Konsument die Antriebsfaktoren für seine Entscheidungen findet. Partnerschaften oder Übernahmen von Anbietern von Nischentechnologie werden zunehmen, sobald Einzelhändler an der Straffung ihrer digitalen Transformation arbeiten. Die Preisbildung wird individueller und dynamischer, da die KI Nachfrage und Angebot in Echtzeit analysiert. Kollaborationen zwischen Business-Ökosystemen ermöglichen vollständig integrierte Nutzererfahrungen auch zwischen unterschiedlichen Anbietern und werden so den Fortschritt vorantreiben. Trotzdem wird es bei diesen Entwicklungen nicht nur Gewinner geben.

Fragen, die sich Führungskräfte stellen müssen:

  • Welche Kaufentscheidungen werden zum Massenvorgang und welche werden mehr Kundeninteraktion benötigen?
  • Was müssen Marken unternehmen, um für Verbraucher sichtbar zu sein? Sowohl beim KI-basierten Einkauf als auch beim Konsumenten-basierten Shopping?
  • Wenn Kanäle und Plattformen zunehmend zusammenfließen, wer wird dann die grundlegende Beziehung zum Kunden aufbauen?
  • Wenn Algorithmen das Kundenverhalten beeinflussen, wer programmiert diese Algorithmen und wer kontrolliert ihre Macht?

Fazit

Weil Einkauf und Shopping auseinanderdriften und damit den Einzelhandel verändern, müssen Händler und Hersteller von Konsumgütern entscheiden, wie und wo sie sich positionieren wollen und wie sie dorthin gelangen.

Über diesen Artikel

Von Helen Merriott

EY UK&I Consumer Industries Advisory Leader

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