Warum «Neue Menschlichkeit»?
Weil sie der nächste konsequente Schritt auf einer historischen medizinethischen Entwicklungslinie ist. Über viele Jahrhunderte war Menschlichkeit mangels wirksamer Therapien die einzige Hilfe, die Erkrankten angeboten werden konnte – Zuwendung, Betreuung und Nächstenliebe im Sinne der christlichen Moral und Ethik. Erst im 19. Jahrhundert war das medizinische Wissen so weit angewachsen, dass Krankheiten klassifiziert und zunehmend auch erfolgreich behandelt werden konnten. Gleichzeitig verlor der karitative Aspekt der Krankenbetreuung immer mehr an Bedeutung. Mit der Entstehung der modernen Industriegesellschaft im 20. Jahrhundert schwanden die konfessionellen Werte innerhalb des Gesundheitssystems. Medizinethische Fragen drehten sich zunehmend um die Wahrung von Autonomie und Gerechtigkeit, die Vermeidung von Schaden und die Gewähr der Fürsorge. Doch im industriell-wertschöpfend geprägten Bild des Gesundheitssystems wurden diese ethischen Prinzipien vom Diktat der Wirtschaftlichkeit überlagert.
Mit der digitalen Revolution zu Beginn des 21. Jahrhunderts wird das gesellschaftliche Verhältnis zu Information, Kommunikation, Interaktion und Kooperation, zur Generierung von Werten und Evidenzen neu definiert. Wissen und die daraus resultierenden Möglichkeiten können heute nur noch im Kontext vernetzter Interaktion und Kooperation gesehen werden – auch in der Medizin. Der Mensch wird immer mehr als Individuum verstanden, es gibt theoretisch immer mehr Ansätze, nach Geschlecht, Alter oder genetischem Profil personalisierte Entscheidungen für Diagnostik, Therapie und Prävention zu fällen. Damit sind die Prinzipien ethischen Handelns im Gesundheitswesen mehr denn je gefordert, und die Verantwortung von Ärzt:innen und anderen Tätigen in Heilberufen wächst in bislang nicht gekanntem Maße. Für Patient:innen sind diese Health Professionals bereits heute und erst recht in Zukunft die Mittler zwischen Wissen, Möglichkeit, Risiko und Nutzen. Und genau hier setzt der Begriff der Neuen Menschlichkeit an, als nächster zwingender Schritt im Verständnis einer zeitgemäßen Gesundheits- und Medizinethik.
Die Aufgabe des Gesundheitssystem im 21. Jahrhundert ist es, seinen Akteuren Rahmenbedingungen zu schaffen, die sie umfassend zum informierten Handeln befähigen und ermächtigen. Die ethisch-moralische und somit zutiefst menschliche Prämisse muss es sein, ein Gesundheitssystem nach den Bedürfnissen der Beteiligten zu schaffen. Diese Transformation ist eine Bringschuld des Gesundheitssystems den Menschen gegenüber und rückt sie in ihren unterschiedlichen Rollen konsequent in den Mittelpunkt.
Auf den Menschen fokussieren: Lotsen etablieren.
Um die Autonomie der Patient:innen zu stärken, braucht es Lots:innen. Sie können – als eine Art Coaches ¬– Patient:innen durch den Dschungel der Zuständigkeiten führen und dafür sorgen, dass deren Interessen und Bedürfnisse optimal berücksichtigt werden. Diese Lots:innen können als weitere zusätzliche Rolle im Gesundheitssystem etabliert werden, aber auch additive Zuständigkeiten und Erweiterungen von bereits heute etablierten Dienstleistern wie Gesundheitsämtern, Krankenhäusen und medizinischen Einrichtungen sein – immer mit dem Ziel: mehr Zeit und Aufmerksamkeit für Patienten.
Das Arzt-Patienten-Verhältnis stärken: gemeinsam Entscheidungen treffen
Unser Gesundheitswesen ist so ausgerichtet, dass Menschlichkeit wenig honoriert, aufwendige technische Untersuchungen aber gut bezahlt werden. Die Neue Menschlichkeit ist aus dieser Perspektive Ausdruck eines neuen Denkens auf allen Ebenen. Sie tut alles dafür, den Menschen, den Patienten, deren Angehörigen und Health Professionals die Rahmenbedingungen zu schaffen, um als aufgeklärte, informierte und somit autonom entscheidende Menschen, ob schon krank oder noch gesund, handeln zu können. Patientenzentrierung und Gesundheitskompetenz sind nur die ersten Schritte, um das hippokratische Gebot in einer zeitgemäßen Form neu auszulegen.
Auf allen Ebenen kooperieren: Wie Pflege, Ärzt:innen und Verwaltung besser zusammenarbeiten
Es braucht eine frühzeitige Verständigung und ein intensives Voneinander-Lernen der medizinischen und administrativen Berufsgruppen, damit sie gemeinsam die bestmögliche Therapie entwickeln können. Erfolgsentscheidend ist auch eine gute regionale Vernetzung der Gesundheitsakteure: von der Hausarztpraxis über das Krankenhaus bis hin zur Reha-Einrichtung und der Physiotherapeut:in vor Ort. So können Patient:innen lückenlos im Genesungsprozess unterstützt werden. Der Patient sollte im Mittelpunkt stehen und alle Informationen, die er braucht, so bekommen, dass er sich eine Meinung bilden und eine Entscheidung treffen kann: verständlich, umfassend, seinem Wissensstand entsprechend.
Ganzheitlich denken: Silodenken überwinden und von Israel lernen
Israel gilt als Innovationsumsetzer im Gesundheitswesen und könnte Deutschland als Reform-Kompass dienen. Patient:innen dort können sich einem System anvertrauen, das ihre Krankheitsgeschichte und nächsten Behandlungsschritte kennt und sie auf ihrem Weg durch das System mit digitalen Werkzeugen führt. Von solchen bereichs- und zuständigkeitsüberschreitenden Ansätzen kann in Deutschland nicht die Rede sein. Deshalb muss sich das System in Richtung interprofessionelle Versorgungszentren verändern – gerade weil die Versorgungsdichte in den einzelnen Regionen sehr unterschiedlich ausgeprägt ist.
Das Potenzial digitaler Lösungen nutzen: Mit Digitalisierung mehr Teilhabe schaffen
Derzeit ist der freie Markt der stärkste Treiber von digitalen Gesundheitsangeboten. Die etablierten Akteure des Gesundheitssystems haben Mühe, mit dessen Innovationstempo Schritt zu halten. Immerhin ist die elektronische Patientenakte (ePA) eingeführt und Gesundheits-Apps können verschrieben werden. Mit solchen Anwendungen werden Patient:innen enger in die Behandlung ihrer Krankheit eingebunden. Digitale Lösungen, die den Menschen in medizinischen Berufen zeitraubende Routinen abnehmen und ihnen damit bessere Leistungen ermöglichen, zahlen ebenfalls auf die Neue Menschlichkeit ein. Entscheidend für die Leistungsfähigkeit von Digital Health im Dienst der Menschlichkeit ist aber ihr Fokus. Es reicht nicht, an einigen Stellschrauben zu drehen. Stattdessen muss das Gesundheitssystem mit den Möglichkeiten der Digitalisierung in seinen Grundzügen konsequent neu gedacht werden.
Mittel sinnvoll einsetzen: Mit finanziellen Anreizen Menschlichkeit und Autonomie fördern
Es wäre wirtschaftlich, Aufgaben, die heute zwingend von Medizinern wahrgenommen werden, an anderes Fachpersonal abzugeben. Ein weiterer Weg sind sogenannte prospektive regionale Gesundheitsbudgets. Neben neuen Versorgungskonzepten könnten auch Vergütungsmodelle mit Erfolgskomponenten den Menschen zum Maß allen Handelns machen. Das Modell „Pay for Performance“ wird in Amerika bereits angewendet und könnte in einer sozialeren Abwandlung auch hierzulande eingeführt werden. Allerdings braucht die leistungsorientierte Vergütung Patient:innen, die selbst zu ihrer erfolgreichen Behandlung beitragen – zu ihrem eigenen Wohl und auch zur finanziellen Entlastung des Gesundheitssystems.
In die Zukunft investieren: Mit Finanzspritzen einen Mehrwert für Menschen schaffen
Förderlich sind Investitionen in die Gesundheitskompetenz der Bevölkerung, damit Patient:innen selbstbestimmt entscheiden können. Ebenso ist es geboten, den Bildungsstand bei allen im Gesundheitswesen Tätigen kontinuierlich anzuheben. Ein weiterer Investitionsschwerpunkt sollte in der Versorgungsforschung liegen, weil sie der Frage nachgeht, wie Gesundheitsleistungen im Alltag der Menschen ankommen und ob sie ihnen wirklich nützen. Auch Investitionen in den öffentlichen Gesundheitsdienst und in soziale Einrichtungen fernab von Ballungsräumen könnten dazu beitragen, dass alle Menschen ein Leben in bestmöglicher Gesundheit führen, unabhängig von ihrem sozialen Status, Wohnort und Einkommen.
Den Kompass neu ausrichten: Visionäre Zielbilder in der Gesundheitspolitik entwickeln
Das Gesundheitsministerium gilt als eines der schwierigsten Ressorts der Regierung, nicht zuletzt wegen der mehr als 50 Interessenvertretungen mit Mitspracherecht sowie versierten und gut ausgestatteten Lobbyisten. Eines hat sich allerdings durch die Coronapandemie deutlich verändert: Während sich weite Teile der Bevölkerung in der Vergangenheit wenig für Gesundheitspolitik interessiert haben, ist dieser Politikbereich nun ins Zentrum der öffentlichen Wahrnehmung gerückt. Die Politik könnte dieses Momentum nutzen und die dringend nötige Neuausrichtung des Gesundheitssystems beherzt anpacken. Sie kann sofort die entsprechenden Weichen stellen, Ballast abwerfen und Blockaden auflösen. Sie kann die Qualität der Gesundheitsversorgung erhöhen, Zugangsbarrieren abbauen, bessere Arbeitsbedingungen und mehr Gestaltungsspielräume für die Akteure des Gesundheitswesens schaffen. Und sie kann ein Zielbild formulieren, das anziehend und leicht zu vermitteln ist. Die Neue Menschlichkeit für alle Akteure könnte ein solches Zielbild sein. Ein neuer Leitstern in der Debatte über ein anderes und besseres Gesundheitssystem, der es endlich dorthin katapultiert, wo es schon längst sein sollte: im Wissenszeitalter. Die Zeit dafür ist reif. Und die Gunst der Stunde da.