9 Minuten Lesezeit 9 November 2023
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Warum Veränderung für das Gesundheitswesen existenziell ist

Von Regina Vetters

Partnerin Strategy & Transactions, EY Strategy & Transactions GmbH | Deutschland

Hilft Unternehmen der Life Sciences und Krankenkassen in ihrer strategischen Ausrichtung und entwirft digitale Erfolgspfade für Produkte und Services.

9 Minuten Lesezeit 9 November 2023

Wie Unternehmen auf rasche Veränderungen reagieren und sich anpassen, um den Herausforderungen im Gesundheitswesen gerecht zu werden.

Überblick
  • Das Gesundheitswesen steht vor raschen Veränderungen und erfordert Anpassungsfähigkeit.
  • Faktoren wie mangelnde Digitalisierung und finanzielle Herausforderungen beeinflussen die Branche.
  • Die Transformation in wandlungsfähige Organisationen erfordert klare Visionen, Partnerschaften, Mitarbeiterschulung und sichtbare Change-Management-Maßnahmen.

Wie Unternehmen wandlungsfähig werden

Die Welt, Märkte und Trends scheinen sich immer schneller zu verändern. Und mittlerweile sind weder das enge Netz der Regulatorik noch die Altehrwürdigkeit der Institutionen des deutschen Gesundheitssystems eine Brandmauer, die es Akteuren erlauben würde, diese Dynamik auszublenden. Ein grundsätzliches Patentrezept, was zu tun ist, gibt es nicht. Was jedoch immer zentraler wird, ist die Fähigkeit, grundsätzlich wandlungs- und veränderungsfähig zu sein. Dafür müssen sich Unternehmen und ihre Mitarbeitenden in ihren Strukturen und Prozessen inklusive der notwendigen Rollen, Fähigkeiten und des Miteinanders verändern und erneuern. Was den Schwierigkeitsgrad erhöht, ist, dass es keinen Zielzustand gibt, an dem alle aufatmen und zum Tagesgeschäft zurückkehren können. Mit Dynamik und Veränderung zu leben wird zum Programm. Die gute Nachricht: Es gibt nicht die eine Lösung. Was falsch oder richtig ist, muss individuell bestimmt und bis dahin Schritt für Schritt erprobt werden. Sich auf den Weg zu machen und dabei zu lernen ist das Beste, was Krankenkassen, Krankenhäuser und Verbände sowie Pharma- und Medizintechnikunternehmen tun können.

Wodurch geraten die Akteure unter Druck? Was sind die Treiber?

Damit ist die Situation heute anders als bei der ersten Welle der Erzählungen zur VUCA-Welt. Das Akronym VUCA steht für „volatility“ (Volatilität), „uncertainty“ (Ungewissheit), „complexity“ (Komplexität) und „ambiguity“ (Ambiguität). Das Modell beschreibt, wie sich Märkte schnell und oft radikal verändern. Anfänglich bezog sich dieses Narrativ verstärkt auf die Konsumgüter- und die aufstrebende Digitalbranche. Mittlerweile steht gerade bei den großen Herausforderungen unserer Zeit auch das Gesundheitswesen im Zentrum. Beispiel Stapelkrise: In der Pandemie war das Thema Gesundheit gesellschaftlich so zentral wie selten zuvor und ihre Akteure Teil der Lösung. Bei der Ukrainekrise gehören das Auffangen der Geflüchteten in der Sozialversicherung und ihre gesundheitliche Versorgung zu den ersten Aufgaben. Bei anderen Megatrends wie Digitalisierung, Daten oder Demografie trifft es die Akteure des Gesundheitswesens hingegen auch deswegen hart, weil hier die Versäumnisse der vergangenen Jahre spürbar werden. In internationalen Indizes zu Datennutzung und Digitalisierung hinkt das deutsche Gesundheitswesen hinterher, Personalmanagement und Recruiting sind selten professionell genug aufgestellt, um im immer engeren Kampf um die Arbeitskräfte von morgen zu bestehen. Der omnipräsente Trend Nachhaltigkeit ist im Gesundheitswesen noch gar nicht richtig angekommen.

Bei der Digitalisierung ist ein interoperables, digital vernetztes Gesundheitssystem zumindest in Deutschland noch immer eher eine ambitionierte Zukunftsvision. Die zielgerichtete Nutzung von Gesundheitsdaten bekommt gerade ein gesetzliches Fundament. Mühsam entsteht eine Idee, wie Datenteilung und Datennutzung in der Praxis aussehen könnten.

Bei der Digitalisierung ist ein interoperables, digital vernetztes Gesundheitssystem zumindest in Deutschland noch immer eher eine ambitionierte Zukunftsvision. Die zielgerichtete Nutzung von Gesundheitsdaten bekommt gerade ein gesetzliches Fundament. Mühsam entsteht eine Idee, wie Datenteilung und Datennutzung in der Praxis aussehen könnten. Bei der alternden Belegschaft kommt hinzu, dass sich die Prozessdigitalisierung langsamer vollzieht als angenommen, sodass weniger Ressourcen aus administrativen Aufgaben an anderer Stelle eingesetzt werden können. Durch die immer anspruchsvolleren Kundenerwartungen entstehen zugleich Anforderungen und Rollenbilder, auf die Arbeitgeber-Branding, Recruiting oder Mitarbeiterbindung noch nicht eingestellt sind. Mithin fällt es schwer, neue Mitarbeitende und andere Mitarbeitertypen anzusprechen, einzustellen und dauerhaft zu halten.

Zusätzlich ist die Finanzlage angespannt. Bei den Krankenkassen steigen die Zusatzbeiträge, ohne dass eine wirkliche Entlastung greifbar wäre. Lieferkettenprobleme, neuartige Therapien und die auf alles durchschlagende Inflation erschweren ein konsequentes Kostenmanagement. Bei den Krankenhäusern provoziert die viel diskutierte Krankenhausreform noch mehr Fragezeichen, als dass es zu einer klärenden Neuordnung der Strukturen kommt. Damit steht die Veränderung zwar im Raum, momentan können die Beteiligten aber trotzdem nur mit der Fähigkeit, Szenarien vorauszudenken und auch in Unsicherheit zu agieren, punkten.

Wie ist der Status quo?

Die Notwendigkeit, flexibler zu agieren, wird deutlich – die Umsetzung wird indes mit unterschiedlichem Erfolg vorangetrieben. Tradierte Silos lassen sich nicht ohne Weiteres auflösen und Beharrungskräfte einzelner Abteilungen sind über Denkweisen, Prozesse, Rollen und Berechtigungen tief in der DNA von Unternehmen verankert. Beispiel Steuerung in gesetzlichen Krankenversicherungen: Leistungsbereiche kalkulieren ihre jeweiligen Jahreserwartungen mit zyklischen Entwicklungen von Preisen, Struktur und Mengen; gemeinsam mit Finanzen wird anschließend die Kostenentwicklung im direkten Vergleich zur übrigen GKV beobachtet. Davon unabhängig erhebt „der Markt“ Zahlen zur Kundenzufriedenheit, den Net Promoter Score und den Customer Effort Score und misst den Erfolg einzelner Kampagnen und die Versichertenentwicklung. Beide „Seiten“ berichten in unterschiedlichen Rhythmen und zu unterschiedlichen Zeitpunkten, ebenso wie es Personal, IT und sonstige Bereiche tun. Selbst wenn alle Themen gemeinsam aufs Tableau gebracht werden, geschieht dies eher sequenziell und ohne direkte Wechselwirkungen. Jeder Bereich hat seine Verantwortung, und Einmischung ist nur bedingt erwünscht. In einen dauerhaften, partnerschaftlichen Dialog zu kommen muss daher eingeübt werden. Ein vernetztes Miteinander, in dem Abhängigkeiten abgewogen, gemeinsam priorisiert und Veränderungen flexibel beschlossen werden, etabliert sich nur in einem gemeinsamen Lernprozess.

Flexibles Arbeiten gehört auf Projektebene oder in dauerhaft installierten agilen Teams mittlerweile vielerorts schon zum Standard, mal in einer überschaubaren Zahl von Piloten, immer häufiger aber auch in größeren Teilen der Organisationen. Damit ist ein wichtiges Element für Veränderungsfähigkeit geschaffen, die Notwendigkeit zum Wandel wurde erkannt.

Auf der anderen Seite gehört flexibles Arbeiten auf Projektebene oder in dauerhaft installierten agilen Teams mittlerweile vielerorts schon zum Standard, mal in einer überschaubaren Zahl von Piloten, immer häufiger aber auch in größeren Teilen der Organisationen. Damit ist ein wichtiges Element für Veränderungsfähigkeit geschaffen, die Notwendigkeit zum Wandel wurde erkannt. Bis sich dies in der Praxis wirkungsvoll etabliert hat, also die „Agil-Sprache“ so für die Organisationen adaptiert ist, dass sie auch mit eigenen Inhalten gefüllt und sinnvoll gelebt wird, dürfte es jedoch noch dauern. Teilweise entwickeln sich auch innerhalb der Unternehmen zwischen denjenigen, die im Rahmen von New Work schon mit größeren Freiheiten ausgestattet sind, und den eher in konventionellen Rollen arbeitenden Mitarbeitenden neue Trennlinien, sodass neue Hürden auf dem Weg zu einer integrierten, flexibleren Firmenkultur entstehen.

Wie kann der Weg zum veränderungsfähigen Unternehmen unterstützt werden?

Veränderung nicht als vorübergehendes Phänomen auszusitzen, sondern als stetige Begleiterin zu akzeptieren ist der wichtigste erste Schritt. „Umparken im Kopf“ hat das die Werbung mal genannt. Darüber hinaus gibt es eine breite Palette an Instrumenten, die es Organisationen ermöglichen, flexibler, reaktionsfähiger und proaktiver zu werden und sich auf die eigene Selbstwirksamkeit zu fokussieren. Wir stellen einige davon vor – ohne Patentrezepte oder Anspruch auf Vollständigkeit, aber basierend auf Projekterfahrung in verschiedenen Kontexten:
 

  • Klare Vision für die Rolle der Zukunft definieren

    Auf Anforderungen muss reagiert werden, keine Frage. Doch wer sich von den neuesten Veränderungen treiben lässt und keine eigene strategische Linie definiert, gerät ins Trudeln. Ein längerfristiger Strategieprozess mit einer Unternehmensvision für die Zukunft und Handlungsprioritäten für kurzfristige Umsetzungen schaffen dagegen Halt. Zusätzlich hilft es, regelmäßig den Wettbewerb ebenso wie Konsum- und Kanalverhalten und die Entwicklung von Megatrends im Blick zu behalten, Implikationen fürs eigene Handeln abzuleiten und mittels Trendradar und Szenarienplanung zu antizipieren, was kommen könnte, was davon für das eigene Handeln besonders relevant ist und welchen Hype man auch mal bewusst depriorisieren möchte.

  • Agilität adaptieren und den eigenen Weg finden

    Die Grundrezepte der Agilität entstammen der IT-Entwicklung und nicht der Realität komplexer Großunternehmen. Insofern ist es unerlässlich, die Konzepte so zu adaptieren, dass sie inhaltlich und begrifflich in das eigene Unternehmen passen. Das Vokabular von Tribes, Squads oder Zirkeln zu beherrschen ist gut, es hält aber auch Mitarbeitende auf Distanz und lässt sich nicht immer in reiner Lehre leben. Das muss es auch nicht. Vielleicht bedarf es zur Steuerung und Abstimmung beispielsweise keines Quarterly Business Review (QBR), sondern anderer Zeitzyklen, die organischer zum Unternehmen passen. Im Übrigen muss auch nicht alles agil sein, die Unterscheidung der Stacey-Matrix in Bezug auf Anforderungen und Vorgehen gibt hier Orientierung: In einem strukturierten, kontrollierten Umfeld mit hoher Planbarkeit durch konstante Anforderungen sind klassische Steuerungsmechanismen weiterhin sinnvoll. Bei einem komplexen, volatilen Umfeld mit hoher Unsicherheit und variablen Anforderungen, bei denen schnell reagiert werden muss, sind hingegen iterative Prozesse in Zeitetappen in agilem Set-up sinnvoll.

  • Partnerschaften und Ökosysteme nutzen

    Nicht jede Veränderung kann und muss ein Unternehmen selbst erfüllen, nicht jede Kompetenz aufbauen, nicht jede Frage selbst beantworten – schon gar nicht sofort. Hier hilft es, in Netzwerken von Partnerschaften eingebunden zu sein und eine klare Perspektive zu entwickeln, was wo zu erledigen ist. So wird sich ein deutscher Gesundheitsdienstleister schwertun, ein eigenes ChatGPT-Äquivalent aufzubauen, die initiale Beurteilung generativer KI, die Aufstellung möglicher Use Cases und die Definition notwendiger Kriterien sind hingegen gut im eigenen Haus zu verankern.

  • Digitalkompetenz und lebenslanges Lernen fördern

    Eine große Schubkraft der Veränderung ist die Digitalisierung unseres Alltags bei Prozessen und Kundenschnittstellen. Insofern entspricht es schon dem Gebot der Teilhabe, Mitarbeitende für diese Themen fit zu machen und sie mitzunehmen. Dies umfasst technische, datenschutzrechtliche und anwendungsorientierte Kenntnisse ebenso wie die innere Haltung zum eigenen Umgang mit Veränderungen. Daran schließt sich auch eine grundsätzliche Kulturveränderung an, bei der nicht das einmal Erlernte zählt, sondern kontinuierliches Lernen mit vielfältigen Angeboten zur Selbstverständlichkeit wird, um die dauerhafte Wandlungsfähigkeit zu erhöhen.

  • Neue Rollen definieren, ausbilden und rekrutieren

    Im besten Fall wird es durch das lebenslange Lernen leichter, neue Rollen und Profile aus der eigenen Organisation auszubilden. Zugleich lohnt es sich, in Arbeitgeberattraktivität und Recruiting zu investieren, um im Arbeitsmarkt die notwendigen Talente anzuziehen. Chief Digital Officers, Product Owners, UX- und Service-Design-Spezialist:innen, Scrum oder OKR Masters und agile Coaches sind mittlerweile in vielen Gesundheitsunternehmen angekommen. Data Scientists, Datenstrateg:innen, KI-Spezialist:innen und hybride Patientenbetreuer:innen sind gerade erst im Kommen. In der Medizin wird über eine Delegation an teleassistierte Pflege, Community Health Nurses oder telemetrische Fernüberwachung noch erprobt, wie man dem Fachkräftemangel durch Digitalisierung produktiv begegnen kann.

  • Change sichtbar machen

    Das Wichtigste bei allen Veränderungen ist immer, die Menschen mitzunehmen. Dazu gehören unter anderem die kontinuierliche Kommunikation und der Dialog in beide Richtungen, den Finger am Puls der Mitarbeitenden zu haben, um Fortschritte und Befindlichkeiten zu messen (zum Beispiel mit dem EY Culture Fitness Diagnostic Tool), der Einsatz von „Change Agents“ oder „Culture Hackers“, die Netzwerke innerhalb der Unternehmen knüpfen und eine breite Einbindung sicherstellen, und die aktive Vorbildrolle von Führungskräften aller Ebenen. Auch das Sichtbarmachen des Kulturwandels ist essenziell, zum Beispiel über neue Rituale wie Dailies oder transparente Kanban-Wände, aber auch über veränderte Arbeitsräume und -umgebungen und unterstützende Tools, die bewusst als Orte und Instrumente der Kommunikation und der Vernetzung wirken.

Und jetzt? Nicht alles davon muss auf einmal erledigt werden, schon gar nicht perfekt. Veränderungen auch im Kleinen zu würdigen, die geschafften Schritte miteinander zu feiern und den Weg zugleich immer wieder infrage zu stellen und zu adjustieren, all dies sind essenzielle Bestandteile der Reise zu mehr eigener Dynamik und proaktiver Gestaltung des Wandels

Fazit

Im Gesundheitswesen sind schnelle Veränderungen unausweichlich, trotz angespannter Finanzlage. Um diesen Herausforderungen zu begegnen, müssen Unternehmen flexibel und wandlungsfähig sein. Es gibt keine allgemeingültige Lösung, doch die Anpassungsfähigkeit wird immer wichtiger. Unternehmen müssen ihre Strukturen, Prozesse und Mitarbeiterrollen anpassen. Das Gesundheitswesen steht vor vielfältigen Herausforderungen, einschließlich mangelnder Digitalisierung und der demografischen Entwicklung. Flexibles Arbeiten und agile Methoden sind auf dem Vormarsch, erfordern jedoch weitere Fortschritte. Es ist entscheidend, klare Visionen für die Zukunft zu entwickeln, Partnerschaften zu nutzen und Mitarbeitende weiterzubilden. Change-Management und die Einbindung der Mitarbeitenden sind unerlässlich. Die Transformation zum wandlungsfähigen Unternehmen ist ein fortlaufender Prozess.

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