6 Minuten Lesezeit 2 September 2019
Geschäftsmänner mit Roboter in der industriellen Produktion

Digitale Transformation: Sechs Fallen für etablierte Unternehmen

Von Christian Schibler

Managing Partner, Leiter Advanced Manufacturing & Mobility | Deutschland, Schweiz, Österreich

Hat langjährige internationale Erfahrung in Prüfungs- und Beratungsdienstleistungen bei großen und mittelgroßen Unternehmen. Zeichnet sich durch einen kundenfokussierten Arbeitsstil aus.

6 Minuten Lesezeit 2 September 2019

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Innovationen sind gut, wenn sie nicht den laufenden Betrieb gefährden. Bei der Digitalisierung bestehender Geschäftsmodelle lauern Risiken.

Der Megatrend Digitalisierung gewinnt weiter an Tempo. Weltweit investieren Unternehmen in Technologien wie das Internet of Things (IoT), Augmented Reality, 3D Druck und Blockchain – Verfahren, die disruptiv wirken, weil sie bestehende Geschäftsmodelle erschüttern und umkrempeln können.

Auch etablierte Unternehmen müssen sich fragen: Wie können wir effektiver werden, die Wünsche unserer Kunden erfüllen und langfristig wettbewerbsfähig bleiben? Wie können wir unser Bestandsgeschäft sicher weiterführen und zugleich Neuland erschließen? Um auf diesem schmalen Pfad Erfolg zu haben, brauchen sie eine klar definierte Digitalisierungsstrategie.

Hier sollten etablierte Unternehmen zugleich mutig und behutsam vorgehen. Sie müssen bereits aufgebaute Strukturen berücksichtigen. Ihre bestehenden Geschäftsmodelle und Prozesse können sie dabei modifizieren, dürfen sie aber auf keinen Fall stören.

Nötig ist also eine Digitalisierungsstrategie, die sich grundlegend etwa von Technologie-Start-ups unterscheidet – diese starten gleichsam auf einem unbebauten, freien Feld und können ganz anders vorgehen. Doch Start-up-Mottos wie „Move fast and break things“ sollte manch ein Traditionsunternehmen sich nicht zum Vorbild nehmen. Stattdessen geht es darum, die richtige Balance zu finden. Zwischen Vorgaben von oben und Initiativen von unten. Zwischen dem, was im Moment noch gut funktioniert und dem, was in Zukunft neue Geschäfte bringen soll. Diese Gratwanderung erfordert gute Vorbereitung. 

Die Veränderungen kommen schneller und härter als früher.

Überblick verschaffen vorm Aufbruch ins Neuland

Das Management muss die Digitalisierungsstrategie zuerst definieren und dann koordinieren. Dabei stehen zwei strategische Fragen im Vordergrund: Wo will ich hin? Und was passiert schon alles im Haus? Die Verantwortlichen sollten stets den Überblick behalten und sicherstellen, dass sich in verschiedenen Abteilungen keine heterogene Basis entwickelt, etwa mit inkompatiblen IT-Systemen. Das wäre weder skalierbar noch sicher.

In der Belegschaft sind Startbedingungen und Motivation für den digitalen Wandel oft unterschiedlich.

Auch wenn die Chefetage den digitalen Transformationsprozess koordiniert, so wird er doch üblicherweise sehr schnell sehr komplex. Das heißt, die ganze Organisationskultur muss sich anpassen. Doch vielleicht hat noch nicht jeder Entscheidungsträger eine ausgeprägte Affinität für digitale Geschäftsmodelle. Außerdem gibt es oft zu Beginn noch keine klaren Verantwortlichkeiten, etwa keine Position eines Chief Digital Officer (CDO). Diese unterschiedlichen Startbedingungen und Motivationen in der Belegschaft müssen berücksichtigt werden.

Den Weg weisen und alle mitnehmen

Eine erfolgreiche digitale Transformation gelingt nicht mit isolierten Ansätzen in einzelnen Bereichen, sondern betrifft das gesamte Unternehmen. Die Unternehmensleitung muss ihre Strategie so formulieren, dass die Mitarbeiter sie wirklich verstehen. Und sie muss klare Ziele festlegen, statt Projekte mit offenem Ausgang laufen zu lassen.

Wichtig ist es, die Veränderungsbereitschaft im eigenen Unternehmen zu berücksichtigen. Das bedeutet oft, neue Projekte moderat und schrittweise einzuführen. Beteiligt man alle Mitarbeiter am Prozess und zieht ihr existierendes Know-how zu Rate, steigt die Chance einer erfolgreichen und reibungslosen Transformation – die Chance, auf dem dünnen Pfad Richtung Neuland gemeinsam gut voranzukommen.

Sechs Fallen, die etablierte Unternehmen auf dem Weg zur Digitalisierung umgehen sollten

Einige typische Fehlerquellen erschweren diesen Weg in die digitale Zukunft. Ihnen gilt besondere Aufmerksamkeit:

1. Zögern: Auch wenn viele den Druck noch nicht als solchen empfinden, wartet die digitale Transformation nicht. Innovationszyklen werden immer kürzer – die Zeit, zu handeln, ist jetzt.

2. Verzetteln: In den Fachabteilungen ist das Bewusstsein für notwendige Veränderungen oft stärker ausgeprägt als in der Chefetage. So starten möglicherweise unterschiedliche Projekte parallel und wenn dann die Abstimmung fehlt, entsteht Wildwuchs.

3. Nicht führen: Die Unternehmensleitung muss den Prozess mit klaren Vorgaben koordinieren. Neben Initiativen aus den Abteilungen braucht es eine Masterstrategie.

4. Überfordern: Was Führungskräften gefällt, kann Mitarbeiter ängstigen. Damit Projekte nicht an internen Widerständen scheitern, müssen alle Mitarbeiter und Bereiche zu Teilhabern des Veränderungsprozesses werden.

5. Perfektionismus: Scheitern ist eine wichtige Komponente im digitalen Lernprozess. Die Chance, unattraktive Ideen möglichst früh zu identifizieren und sie wieder zu verwerfen, sollte bewusst genutzt werden – aber eben früh genug, um Geschäftsprozesse nicht zu gefährden.

6. Übereilen: Das Motto „Fail fast, fail often” gilt nur im geschützten Raum der Entwicklungsphase. Einmal getestet und bewilligt, muss die Einführung reibungslos gelingen, ohne bestehende Abläufe zu stören.

Branchenbeispiel: Maschinen- und Anlagenbau 

Auf der einen Seite ein gut etabliertes Stammgeschäft, auf der anderen Seite das Wissen, dass sich in Zukunft einiges ändern wird: In dieser Situation befinden sich viele deutsche Maschinen- und Anlagenbauer. Sie arbeiten oft unter Vollauslastung und müssen mit begrenzten Ressourcen vieles gleichzeitig stemmen: Bestehende Abläufe weiterführen und den digitalen Umbau vorantreiben. Eine besondere Herausforderung dabei ist die „installed base“ der vielen tausend Maschinen und Anlagen, die schon lange, oft seit Jahrzehnten, bei den Kunden im Einsatz sind und dort ihren Dienst tun. Viele dieser Maschinen hatten mit der Digitalisierung noch keine Berührungspunkte. Doch neben neuen Produkten, die oft noch gar nicht auf dem Markt sind, müssen auch diese Maschinen im Digitalisierungsprozess bedacht werden – zum Beispiel mit Blick darauf, ob sie sich nachträglich mit Sensorik ausrüsten lassen.

Dabei spielt neben der Veränderungsbereitschaft auf Seiten der Kunden auch das eigene Vertriebspersonal eine wichtige Rolle. Wenn Führungsriege und Ingenieure den digitalen Wandel ausrufen, bedeutet das noch nicht, dass auch in der Vertriebsmannschaft der Umdenkprozess begonnen hat. Und sie ist es, die am Ende die neuen Leistungen verkauft. Das Management muss sie auf dem Weg ins digitale Neuland von Anfang an mitnehmen und einbinden.

Wie Digitalisierung gelingen kann: testen, wieder testen, dann erst einführen

Von der Ideenfindung bis zur Phase der Implementierung: Austesten und auch Scheitern sind wichtige Komponenten in einem digitalen Lernprozess.

Das klassische Vorgehen, nicht nur im Maschinenbau, war: Ein fertiges Produkt entwickeln und dieses dann den Kunden vorstellen. Mit unausgereiften Ideen oder Prototypen wurde keiner konfrontiert. In einer Geschäftswelt, die vom digitalen Wandel geprägt wird, kann dieses Modell nicht mehr die Zukunft sein. 

Ganz am Anfang sollte nun die Überlegung stehen: Was sind die Anforderungen der Kunden? Unternehmen müssen potenzielle Innovationen möglichst früh mit dem Markt abgleichen und nicht nur mit den eigenen Vorstellungen davon, was die Kunden nachfragen könnten. Immer wieder zeigt sich, dass viele Unternehmen zwar feste Vorstellungen über ihre Kunden haben, sie aber gar nicht selbst fragen.

Die Chance, unattraktive Ideen möglichst früh zu identifizieren und sie wieder zu verwerfen, sollte bewusst genutzt werden.

Unternehmen sollten ihre Kunden und deren Ansprüche von Beginn an in den Veränderungsprozess einbinden. Neben simplem Nachfragen können sie auch über einige Zeit die Abläufe direkt bei den Kunden vor Ort beobachten und daraus Schlüsse ziehen. So entstehen Ideen. Dies ist die erste Schleife in einem iterativen Prozess, der durch Wiederholungen und Annäherungen schließlich zu Lösungen führt.

Auch die daran anschließende Phase, in der Prototypen entwickelt und getestet werden, läuft in einem geschützten Raum und als Schleife ab. Was nicht funktioniert, kann man verwerfen und neu gestalten. Herkömmliche lineare Prozesse würden diesen Prinzipien zuwiderlaufen.

Wird dann schließlich eine Budgetentscheidung getroffen und eine Neuerung in die bestehenden Geschäftsprozesse integriert, sollten mögliche Probleme durch die iterativen Prozesse im Vorfeld bereits ausgemerzt sein. Einmal bewilligt, muss die Einführung dann möglichst reibungslos gelingen und nachhaltig sein – so kann die digitale Transformation auch etablierte Unternehmen verändern, ohne dabei Bestandsgeschäft zu stören.

Fazit

Der digitale Wandel darf nicht zur Disruption des laufenden Geschäftsbetriebs führen. Bei etablierten Unternehmen unterscheidet sich die Digitalisierung der Prozesse grundlegend von der Vorgehensweise eines Technologie-Start-ups. Bestehende Strukturen müssen berücksichtigt, Mitarbeiter überzeugt werden.

Scheitern sollte möglich sein – Ideen, die sich als nicht praktikabel herausstellen, gehören verworfen. Denn nur ausgereifte Konzepte dürfen den Weg in bestehende Abläufe finden.

Über diesen Artikel

Von Christian Schibler

Managing Partner, Leiter Advanced Manufacturing & Mobility | Deutschland, Schweiz, Österreich

Hat langjährige internationale Erfahrung in Prüfungs- und Beratungsdienstleistungen bei großen und mittelgroßen Unternehmen. Zeichnet sich durch einen kundenfokussierten Arbeitsstil aus.